Montag, 2. November 2020
„Zeitarmut“ und ungewollte Schwangerschaften: Welche Auswirkungen hatte der Lockdown auf die Gesundheit von Frauen?
Heike Dierbach


Berlin – Ein Panel zu Frauengesundheit, organisiert von 2 Männern – das könnte zunächst verwundern. Doch für Prof. Dr. Jalid Sehouli, Direktor der Gynäkologie an der Berliner Charité, ist dies ein zentrales Thema, letztlich für alle: „Die Gesundheit von Frauen ist einer der Hauptgradmesser für die Qualität jedes Gesundheitswesens.“ Auf dem Panel „Women's Health in the COVID-19 Era“ auf dem digitalen World Health Summit analysierten 4 Referentinnen, wie es um diese Qualität während der COVID-19-Krise bestellt war [1].

Die Gesundheit von Frauen ist einer der Hauptgradmesser für die Qualität jedes Gesundheitswesens. Prof. Dr. Jalid Sehouli
7 Millionen ungeplante Schwangerschaften
„Viele Daten zur Frauengesundheit während des Lockdowns sehen nicht gut aus“, berichtete Dr. Princess Nothemba Simelela, Beraterin der Generaldirektorion der WHO. „Frauen konnten Entbindungseinrichtungen nicht erreichen, sie hatten weniger Zugang zu Verhütungsmitteln.“ Die WHO rechnet in der Folge mit 7 Millionen ungeplanten Schwangerschaften. „Das ist eine Katastrophe, weil es eine große zusätzliche Belastung für die Mütter, aber auch für die Gesellschaft in diesen Ländern darstellt.“

Viele Daten zur Frauengesundheit während des Lockdowns sehen nicht gut aus. Dr. Princess Nothemba Simelela
Auch das Krebs-Screening habe sich in vielen Ländern verzögert, teilweise auch die Krebsbehandlung. „Viele der erreichten Fortschritte der vergangenen Jahre wurden durch COVID 19 zunichte gemacht“, sagt Simelela.

Viele der erreichten Fortschritte der vergangenen Jahre wurden durch COVID 19 zunichte gemacht. Dr. Princess Nothemba Simelela
Dabei habe es Gruppen gegeben, die noch einmal härter durch das Virus und den Lockdown betroffen waren, betonte Dr. Shannon Hader, Deputy Executive Director von UNAIDS, etwa Schwangere, Frauen mit HIV, Kinder mit HIV oder Sexarbeiterinnen.

„Sexarbeiterinnen beispielsweise arbeiten fast immer im informellen Sektor. Dadurch hatten sie keinen Zugang zu den Unterstützungssystemen, die für COVID 19 aufgelegt wurden.“ Von den Kindern mit HIV hatte schon vor COVID 19 nur rund die Hälfte Zugang zu Behandlung. „Hier tickt wirklich die Uhr, Todesfälle zu vermeiden“, mahnte Hader.


Das Virus habe in vielen Ländern auch die Stigmatisierung bestimmter Gruppen verstärkt. Regierungen hätten den Lockdown genutzt, um Programme für Lesben, Drogennutzerinnen oder Transpersonen zu streichen.

Doch es gab auch Positives, wie Hader betont. „In Ländern mit starken zivilgesellschaftlichen Organisationen haben diese viel Hilfe organisiert.“ Manchen ist es dabei sogar gelungen, Angebote noch auszubauen, etwa die Testung auf HIV. „Frauen waren in hohem Maße auch Teil der Lösung.“

Frauen litten unter „Zeitarmut“
Die Krise habe auch ein Schlaglicht auf problematische Normen und Traditionen geworfen, erläuterte Dr. Anja Langenbucher, Direktorin des Europa-Büros der Gates Foundation. „Frauen haben oft zuerst die Ernährung ihrer Familie sichergestellt, vor ihrer eigenen.“ Auch der Hauptteil der Hausarbeit sei wieder auf sie zurückgefallen: Frauen litten im Lockdown unter „Zeitarmut“, wie Lange es nennt. Schulschließungen hätten das Risiko erhöht, dass Mädchen den Schulbesuch nicht wieder aufnehmen.

Zuweilen ist es aber auch gelungen, Frauen während der Krise gezielt zu unterstützen. In Indien etwa legte die Regierung ein Programm auf, bei dem Frauen von April bis Juni direkte Zahlungen zur Überbrückung erhielten. Auch in Pakistan gab es solche speziellen Programme für Frauen.

Mehr Frauen in Führungspositionen
Was kann man nun daraus für die Zeit nach COVID 19 lernen? „Frauengesundheit muss im Zentrum der Gesundheitsversorgung stehen“, sagt Langenbucher. Dies ließe sich unter anderem dadurch erreichen, dass Führungspositionen mit Frauen besetzt werden.

„Es geht letztlich auch um ganz praktische Fragen. Beispielsweise um Sprechzeiten: Wenn Frauen nur zu ganz bestimmten Zeiten in die Klinik kommen können, ist das nicht effektiv, um sie zu erreichen.“ Die Versorgung müsse sich strikt an dem ausrichten, was an der Basis gebraucht wird: „Und das ist vielleicht eine ganz kleine Gesundheitsstation in einem Dorf.“ Zudem wünscht sich Simelela das staatliche Engagement, das gegen COVID-19 möglich war, auch gegen andere Krankheiten.

Auf dem Panel war auch Roche Pharmaceuticals durch ihren Head of Global Product Strategy Teresa Graham vertreten. Die Themen Technologie und Public Private Partnership nahmen sehr viel Raum ein. Roche ebenso wie die Gates Foundation betonten wiederholt die Notwendigkeit, dass alle „Partner auch in Zukunft gemeinsam an einem Tisch sitzen“ – was etwa von Hilfsorganisationen durchaus kritisch gesehen wird.

Graham versteht sich dabei als Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft. „Wir haben alle in einer Form zusammengearbeitet, die noch vor 12 Monaten undenkbar gewesen wäre.“

Sie sieht nach der COVID-19-Krise eine Krise der nichtübertragbaren Krankheiten aufziehen. Der Begriff umfasst die klassischen Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Krebs. Tatsächlich machen diese Krankheiten mittlerweile auch in Entwicklungs- und Schwellenländern einen hohen Anteil der Krankheitslast aus. Simelela spricht in diesem Zusammenhang von einem „Tsunami“ – oder ebenfalls von einer Pandemie.

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