Donnerstag, 5. November 2020
COVID-19: 7 unterschiedliche Symptomkomplexe identifiziert; drohen Autoimmunerkrankungen?
Michael van den Heuvel, Medscape


Selbst mildes COVID-19 führt noch 10 Wochen nach Krankheitsbeginn zu zahlreichen Veränderungen des Immunsystems, berichtet Dipl. Ing.Bernhard Kratzer von der Medizinischen Universität Wien zusammen mit Kollegen in Allergy. Außerdem fanden die Wissenschaftler 7 unterschiedliche Symptomkomplexe [1,2].

„Unsere Erkenntnisse tragen zu einem besseren Verständnis der Erkrankung bei und helfen uns bei der Entwicklung von möglichen Impfstoffen, da wir nun auf vielversprechende Biomarker zurückgreifen und ein noch besseres Monitoring durchführen können“, schreiben die Autoren.

Unterschiedliche Reaktionen des Immunsystems
Infizieren sich Patienten mit SARS-CoV-2, kommt es im Median nach 8 Tagen zu den ersten Symptomen. Ab Tag 9 kann akutes Lungenversagen, auch Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS) genannt, auftreten. Die Patienten müssen dann intensivmedizinisch behandelt werden.

Das Immunsystem beginnt ab der Infektion, neutralisierende Antikörper gegen SARS-CoV-2 zu bilden. Doch die Titer und die Effektivität von Antikörpern unterscheiden sich von Patient zu Patient stark.

Bereits im August berichteten Forscher der Medizinischen Universität Wien in Allergy, dass nur 60% aller rekonvaleszenten COVID-19-Patienten mit mildem Krankheitsverlauf Antikörper entwickelten, die eine Wechselwirkung der SARS-CoV-2-Rezeptorbindungsdomäne mit dem Rezeptor ACE2 hemmen. ACE2 (Angiotensin-konvertierendes Enzym-2) kommt in den Atemwegen und in anderen vom Virus betroffenen Organsystemen vor. Bei der Studie zeigte sich, dass Komplexe aus der Rezeptorbindungsdomäne und Antikörpern besser an ACE2 binden. Für die Experimente hatten sie zuvor einen speziellen ELISA-Test entwickelt.

Vor allem nach einer milden Infektion verhindern Antikörper nicht, dass Viren erneut an ACE2 binden. Welche unterschiedlichen Zelltypen bei wenig ausgeprägtem COVID-19 eine Rolle spielen, haben Kratzer und seine Koautoren jetzt herausgefunden.

Immunsystem noch Wochen nach Infektion mit der Krankheit beschäftigt
Im Rahmen ihrer aktuellen Studie untersuchten sie Blutproben von 98 gesunden Kontrollen und 109 Rekonvaleszenz-Patienten nach einer milden COVID-19-Erkrankung. Die SARS-CoV-2-Infektionen wurden zwischen dem 11. Mai und dem 2. Juli 2020 labordiagnostisch bestätigt – per Realtime-PCR (n = 92) und/oder per Antikörper-Assay (n = 107). Venöse Blutproben wurden im Median nach 10 Wochen abgenommen und per Durchflusszytometrie analysiert.

In der Rekonvaleszenz-Gruppe war der Titer an Granulozyten niedriger. Ihre Aufgabe ist vor allem die unspezifische Bekämpfung von Bakterien, Parasiten und Pilzen als Teil der angeborene Immunantwort. Gleichzeitig entstanden viele CD4- beziehungsweise CD8-positive Gedächtnis-T-Zellen. „Das zeigt, dass sich das Immunsystem auch viele Wochen nach der ersten Infektion immer noch mit der Krankheit intensiv auseinandersetzt“, kommentiert der Koautor Prof. Dr. Winfried F. Pickl von der Medizinischen Universität Wien.


Ein anderer Befund stimmt die Immunologen nachdenklich. Sie fanden heraus, dass in der Rekonvaleszent-Gruppe nur wenige regulatorische T-Zellen vorhanden waren. Diese Spezies unterdrückt die Aktivierung des Immunsystems und leistet einen Beitrag zur Regulation der Selbsttoleranz. Pickl: „Das ist ein gefährlicher Mix, der auch zu einer Autoimmunität führen könnte.“

Wir konnten feststellen, dass vom Geruchs- und Geschmacksverlust vermehrt Personen mit einem ‚jungen Immunsystem‘ … betroffen sind. Prof. Dr. Winfried F. Pickl
Wenig überraschend hing der Titer an Plasmazellen in der Rekonvaleszent-Gruppe davon ab, wie hoch das Fieber der Patienten war. Plasmazellen dienen der Produktion und Sekretion von Antikörpern.

7 unterschiedliche Symptomkomplexe
Darüber hinaus erfasste Kratzers Team in der Rekonvaleszenz-Gruppe diverse Beschwerden und gruppierte sie. Das führte zu 7 unterschiedlichen Symptom-Komplexen:

Grippeähnliche Symptome (Fieber, Schüttelfrost, Müdigkeit und Husten)

Erkältungssymptome (Rhinitis, Niesen, trockenem Hals und verstopfter Nase)

Gelenk- und Muskelschmerzen

Augen- und Schleimhautentzündungen

Pulmonale Beschwerden (Lungenentzündung und Atemnot)

Magen-Darm-Probleme (Durchfall, Übelkeit)

Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns

Wir konnten ganz klar systemische von organspezifischen Verlaufsformen der primären COVID-19-Erkrankung abgrenzen. Prof. Dr. Winfried F. Pickl
„Bei letzterer Gruppe konnten wir feststellen, dass vom Geruchs- und Geschmacksverlust vermehrt Personen mit einem ‚jungen Immunsystem‘, gemessen anhand der Anzahl der kürzlich aus dem Thymus ausgewanderten Immunzellen (T-Lymphozyten), betroffen sind“, erklärt Pickl. „Das heißt, wir konnten ganz klar systemische (z.B. Gruppe 1 und 3) von organspezifischen Verlaufsformen (z.B. Gruppe 6 und 7) der primären COVID-19-Erkrankung abgrenzen.“

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