Dienstag, 24. November 2020
Das WHO-Leitlinienteam empfiehlt kein Remdesivir bei COVID-19 – haben Behörden ähnliche Fehler wie bei Tamiflu® gemacht?
che2001, 13:11h
Michael van den Heuvel, Medscape
Remdesivir werde bei Patienten, die aufgrund von COVID-19 stationär behandelt werden, nicht mehr empfohlen – unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung. Derzeit gebe es keine Belege dafür, dass das Medikament die Überlebenschancen oder die Chance auf Vermeidung einer Beatmungspflicht verbessere, schreibt ein Gremium internationaler Experten der WHO-Leitlinien-Entwicklungsgruppe im BMJ [1].
Einen hohen Preis für Remdesivir zu zahlen, ohne gute Evidenz für eine niedrigere Sterblichkeit zu haben, ist ein Glücksspiel. Prof. Dr. Robin Ferner
„Einen hohen Preis für Remdesivir zu zahlen, ohne gute Evidenz für eine niedrigere Sterblichkeit zu haben, ist ein Glücksspiel“, sagt Prof. Dr. Robin Ferner, ein klinischer Pharmakologe an der University of Birmingham. Er war an der Publikation nicht beteiligt.
Große Erwartungen zu Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie
Remdesivir hat als potenziell wirksame Behandlung für schweres COVID-19 weltweite Aufmerksamkeit erhalten und wird zunehmend zur Behandlung von Patienten im Krankenhaus eingesetzt. Seine Relevanz in der klinischen Praxis ist jedoch unklar.
Noch im Oktober 2020 deuteten Ergebnisse der ACTT-1-Studie darauf hin, dass Remdesivir die Morbidität und die Mortalität günstig beeinflusst, aber nur bei bestimmten Subgruppen (wie Medscape berichtete). Laut europäischer Zulassung profitieren Erwachsene und Jugendliche ab 12 Jahren, die zusätzlichen Sauerstoff erhalten, vom Arzneistoff – also weder beatmungspflichtige Patienten noch Patienten mit sehr mildem Verlauf. Doch Empfehlungen können sich aufgrund neuer Daten ändern.
Neue Daten ausgewertet
Die aktuelle Empfehlung basiert auf 4 randomisierten Studien mit über 7.000 Patienten, die wegen COVID-19 stationär behandelt worden sind. Sie erhielten verschiedene Therapien. Das Expertengremium kam zum Schluss, dass Remdesivir keinen signifikanten Einfluss auf die Mortalität oder auf andere wichtige Endpunkte für Patienten hat, wie die Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung oder die Zeit bis zur klinischen Besserung der Symptome.
Die Autoren relativieren, man könne derzeit nicht sagen, dass Remdesivir generell keinen Nutzen habe. Vielmehr gebe es auf der Grundlage der verfügbaren Daten keinen Beleg dafür, dass es wichtige Endpunkte beeinflusse. Weitere Studien seien erforderlich.
Die Qualität der Evidenz sei „moderat“, heißt es im Artikel. Bei leichtem Verlauf wird von dieser Pharmakotherapie abgeraten. Grundlage ist die RECOVERY-Studie, über die Medscape berichtet hat.
Wiederholt sich die Tamiflu®-Geschichte?
In einem begleitenden Editorial geht Jeremy Hsu, ein US-amerikanischer Wissenschaftsjournalist, der Frage nach, welche Folgen der Einsatz von Remdesivir unter gesundheitsökonomischen Aspekten hat [2]. Er zieht Parallelen zu einem anderen Arzneistoff.
„Seit Anfang der 2000er-Jahre haben Regierungen in Erwartung von Grippe-Pandemien Milliarden von Dollar für die Lagerung des antiviralen Medikaments Oseltamivir (Tamiflu®) ausgegeben“, schreibt Hsu. „Jahre später erhielten unabhängige Forscher Zugang zu unveröffentlichten klinischen Studien, die zeigten, dass das Medikament nur eine bescheidene Wirkung auf die Verringerung der Dauer der Symptome hatte, viele Nebenwirkungen aufwies und nicht genügend Daten vorlagen, um daraus zu schließen, ob es die schwerwiegendsten Komplikationen der Grippe verhindern könnte.“
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: „Spätestens im Jahr 2020 haben wir Remdesivir, ein teures, experimentelles, antivirales Medikament, eines der ersten und damit gehypten Medikamente, die für COVID-19 entwickelt wurden“, kommentiert der Editorialist. Bekanntlich geht Remdesivir auf gemeinsame Forschungsprojekte der US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und des US Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID) zurück. Man war auf der Suche nach Ebola-Therapien. Doch der Durchbruch blieb aus. Umso größer war die Hoffnung, COVID-19-Patienten helfen zu können.
„Keine der bisher veröffentlichten randomisierten, kontrollierten Studien hat jedoch gezeigt, dass Remdesivir wesentlich mehr Leben rettet als die medizinische Standardbehandlung“, fasst der Wissenschaftsjournalist zusammen. „Stattdessen konzentrieren sich die Forscher jetzt auf mäßig kranke Patienten, die noch von dem Medikament profitieren könnten, wenn es frühzeitig verabreicht würde“, so Hsu. „Aber was ist angesichts des hohen Preises, der begrenzten Vorräte und des jetzt wohl begrenzten Nutzens für Remdesivir zu empfehlen? Sollten Ärzte die Anwendung des Medikaments in Betracht ziehen?“ Daran bleiben aufgrund der ausgewerteten Daten Zweifel.
Welchen Wert Remdesivir bei der COVID-19-Therapie hat, lässt sich erst beantworten, wenn der Hersteller Gilead alle Daten zu klinischen Studien veröffentlicht, so wie es Roche mit Tamiflu® im Jahr 2013 getan hat.
Keine der bisher veröffentlichten randomisierten, kontrollierten Studien hat gezeigt, dass Remdesivir wesentlich mehr Leben rettet als die medizinische Standardbehandlung. Jeremy Hsu
„Erst als wir uns das Ganze ansahen, stellten wir fest, dass die Vorteile von Tamiflu® darin bestanden, dass die Krankheitsdauer [bei Influenza] um einige Stunden verkürzt wurde“, so Prof. Dr. Tom Jefferson von der Cochrane Collaboration. Er hat damals Roche unter Berufung auf den US False Claims Act verklagt. Dieses Bundesgesetz macht Personen und Firmen haftbar, falls sie aufgrund von Falschaussagen Gewinne erwirtschaften.
Hsu jedenfalls hofft, dass sich die Geschichte nicht wiederholen wird. Auch er verweist auf Kortikoide als Therapie bei COVID-19. Es gebe gute Daten und das Arzneimittel sei preisgünstig.
Derivat von Remdesivir als neuer Hoffnungsträger
Gilead hat jedoch noch einen anderen Trumpf im Ärmel: Das antivirale Molekül GS-441524, ein Derivat von Remdesivir. Es wird derzeit im Rahmen von Tierversuchen untersucht und hätte einige Vorteile. GS-441524 kann in Tablettenform verabreicht werden und damit früher als das intravenös zu applizierende Remdesivir zum Einsatz kommen.
Außerdem ist die Herstellung deutlich preisgünstiger. Remdesivir war zu Beginn der Pandemie der bevorzugte Kandidat, weil es schon toxikologische Studien aus Ebola-Zeiten gab.
Remdesivir werde bei Patienten, die aufgrund von COVID-19 stationär behandelt werden, nicht mehr empfohlen – unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung. Derzeit gebe es keine Belege dafür, dass das Medikament die Überlebenschancen oder die Chance auf Vermeidung einer Beatmungspflicht verbessere, schreibt ein Gremium internationaler Experten der WHO-Leitlinien-Entwicklungsgruppe im BMJ [1].
Einen hohen Preis für Remdesivir zu zahlen, ohne gute Evidenz für eine niedrigere Sterblichkeit zu haben, ist ein Glücksspiel. Prof. Dr. Robin Ferner
„Einen hohen Preis für Remdesivir zu zahlen, ohne gute Evidenz für eine niedrigere Sterblichkeit zu haben, ist ein Glücksspiel“, sagt Prof. Dr. Robin Ferner, ein klinischer Pharmakologe an der University of Birmingham. Er war an der Publikation nicht beteiligt.
Große Erwartungen zu Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie
Remdesivir hat als potenziell wirksame Behandlung für schweres COVID-19 weltweite Aufmerksamkeit erhalten und wird zunehmend zur Behandlung von Patienten im Krankenhaus eingesetzt. Seine Relevanz in der klinischen Praxis ist jedoch unklar.
Noch im Oktober 2020 deuteten Ergebnisse der ACTT-1-Studie darauf hin, dass Remdesivir die Morbidität und die Mortalität günstig beeinflusst, aber nur bei bestimmten Subgruppen (wie Medscape berichtete). Laut europäischer Zulassung profitieren Erwachsene und Jugendliche ab 12 Jahren, die zusätzlichen Sauerstoff erhalten, vom Arzneistoff – also weder beatmungspflichtige Patienten noch Patienten mit sehr mildem Verlauf. Doch Empfehlungen können sich aufgrund neuer Daten ändern.
Neue Daten ausgewertet
Die aktuelle Empfehlung basiert auf 4 randomisierten Studien mit über 7.000 Patienten, die wegen COVID-19 stationär behandelt worden sind. Sie erhielten verschiedene Therapien. Das Expertengremium kam zum Schluss, dass Remdesivir keinen signifikanten Einfluss auf die Mortalität oder auf andere wichtige Endpunkte für Patienten hat, wie die Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung oder die Zeit bis zur klinischen Besserung der Symptome.
Die Autoren relativieren, man könne derzeit nicht sagen, dass Remdesivir generell keinen Nutzen habe. Vielmehr gebe es auf der Grundlage der verfügbaren Daten keinen Beleg dafür, dass es wichtige Endpunkte beeinflusse. Weitere Studien seien erforderlich.
Die Qualität der Evidenz sei „moderat“, heißt es im Artikel. Bei leichtem Verlauf wird von dieser Pharmakotherapie abgeraten. Grundlage ist die RECOVERY-Studie, über die Medscape berichtet hat.
Wiederholt sich die Tamiflu®-Geschichte?
In einem begleitenden Editorial geht Jeremy Hsu, ein US-amerikanischer Wissenschaftsjournalist, der Frage nach, welche Folgen der Einsatz von Remdesivir unter gesundheitsökonomischen Aspekten hat [2]. Er zieht Parallelen zu einem anderen Arzneistoff.
„Seit Anfang der 2000er-Jahre haben Regierungen in Erwartung von Grippe-Pandemien Milliarden von Dollar für die Lagerung des antiviralen Medikaments Oseltamivir (Tamiflu®) ausgegeben“, schreibt Hsu. „Jahre später erhielten unabhängige Forscher Zugang zu unveröffentlichten klinischen Studien, die zeigten, dass das Medikament nur eine bescheidene Wirkung auf die Verringerung der Dauer der Symptome hatte, viele Nebenwirkungen aufwies und nicht genügend Daten vorlagen, um daraus zu schließen, ob es die schwerwiegendsten Komplikationen der Grippe verhindern könnte.“
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: „Spätestens im Jahr 2020 haben wir Remdesivir, ein teures, experimentelles, antivirales Medikament, eines der ersten und damit gehypten Medikamente, die für COVID-19 entwickelt wurden“, kommentiert der Editorialist. Bekanntlich geht Remdesivir auf gemeinsame Forschungsprojekte der US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und des US Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID) zurück. Man war auf der Suche nach Ebola-Therapien. Doch der Durchbruch blieb aus. Umso größer war die Hoffnung, COVID-19-Patienten helfen zu können.
„Keine der bisher veröffentlichten randomisierten, kontrollierten Studien hat jedoch gezeigt, dass Remdesivir wesentlich mehr Leben rettet als die medizinische Standardbehandlung“, fasst der Wissenschaftsjournalist zusammen. „Stattdessen konzentrieren sich die Forscher jetzt auf mäßig kranke Patienten, die noch von dem Medikament profitieren könnten, wenn es frühzeitig verabreicht würde“, so Hsu. „Aber was ist angesichts des hohen Preises, der begrenzten Vorräte und des jetzt wohl begrenzten Nutzens für Remdesivir zu empfehlen? Sollten Ärzte die Anwendung des Medikaments in Betracht ziehen?“ Daran bleiben aufgrund der ausgewerteten Daten Zweifel.
Welchen Wert Remdesivir bei der COVID-19-Therapie hat, lässt sich erst beantworten, wenn der Hersteller Gilead alle Daten zu klinischen Studien veröffentlicht, so wie es Roche mit Tamiflu® im Jahr 2013 getan hat.
Keine der bisher veröffentlichten randomisierten, kontrollierten Studien hat gezeigt, dass Remdesivir wesentlich mehr Leben rettet als die medizinische Standardbehandlung. Jeremy Hsu
„Erst als wir uns das Ganze ansahen, stellten wir fest, dass die Vorteile von Tamiflu® darin bestanden, dass die Krankheitsdauer [bei Influenza] um einige Stunden verkürzt wurde“, so Prof. Dr. Tom Jefferson von der Cochrane Collaboration. Er hat damals Roche unter Berufung auf den US False Claims Act verklagt. Dieses Bundesgesetz macht Personen und Firmen haftbar, falls sie aufgrund von Falschaussagen Gewinne erwirtschaften.
Hsu jedenfalls hofft, dass sich die Geschichte nicht wiederholen wird. Auch er verweist auf Kortikoide als Therapie bei COVID-19. Es gebe gute Daten und das Arzneimittel sei preisgünstig.
Derivat von Remdesivir als neuer Hoffnungsträger
Gilead hat jedoch noch einen anderen Trumpf im Ärmel: Das antivirale Molekül GS-441524, ein Derivat von Remdesivir. Es wird derzeit im Rahmen von Tierversuchen untersucht und hätte einige Vorteile. GS-441524 kann in Tablettenform verabreicht werden und damit früher als das intravenös zu applizierende Remdesivir zum Einsatz kommen.
Außerdem ist die Herstellung deutlich preisgünstiger. Remdesivir war zu Beginn der Pandemie der bevorzugte Kandidat, weil es schon toxikologische Studien aus Ebola-Zeiten gab.
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