Mittwoch, 3. November 2021
World Health Summit: Zu größten Bedrohungen für Kinder zählen Klimawandel, COVID und Marketing - was sich ändern muss
Von Dr. Klaus Fleck


Zu den klassischen Gesundheitsrisiken im Kindes- und Jugendalter, etwa Infektionskrankheiten, sind weitere Risiken hinzugekommen. Als neue Bedrohungen gelten der Klimawandel, COVID-19 und kommerzielle Werbung für gesundheitsschädliche Produkte. Im Englischen hat sich dafür die Abkürzung ?3C? (climate change, COVID-19, commercial marketing) eingebürgert.

Obwohl neue Gefahren für Kinder auf den 1. Blick sehr verschieden zu sein scheinen, sind diese Bedrohungen miteinander verbunden und sollten gleichzeitig in Angriff genommen werden. Darüber diskutierten Experten auf dem diesjährigen World Health Summit, der als Hybrid-Veranstaltung über 3 Tage in Berlin und digital stattfand ? mit weltweit rund 6.000 Teilnehmern aus 120 Nationen, davon 1.100 vor Ort [1].

Expertenbericht kurz vor Beginn der COVID-19-Pandemie
Wenige Wochen bevor die WHO im März 2020 COVID-19 als Pandemie deklariert hat, stellte eine internationale WHO-UNICEF-Lancet-Kommission für Kindergesundheit die wichtigsten Herausforderungen zusammen: den Klimawandel und das Marketing für gesundheitsgefährdende Produkte wie gezuckerte oder hochgradig industriell verarbeitete Lebensmittel, Alkohol und Tabak.

?Als wir unseren Bericht schrieben, ahnten wir damals jedoch noch nicht, in welchem enormen Ausmaß dann auch die COVID-19-Pandemie die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen sollte?, sagte Helen Clark, Co-Chair der Kommission und ehemalige Premierministerin von Neuseeland, beim World Health Summit.

Keine adäquate Berücksichtigung von Kindern
Scharf kritisierte Clark die Politik: ?Wir leben in einer Welt, in der die Bedürfnisse, Stimmen und Meinungen von Kindern von ganz vielen politisch Verantwortlichen einfach nicht adäquat berücksichtigt werden. Kinder zahlen einen hohen, vielleicht sogar den höchsten Preis für Versagen bei Herausforderungen wie Luft- und Wasserverschmutzung, fortbestehender Armut, schlechter Ernährung und schlechten Wohnverhältnissen.?

Wir leben in einer Welt, in der die Bedürfnisse, Stimmen und Meinungen von Kindern von ganz vielen politisch Verantwortlichen einfach nicht adäquat berücksichtigt werden. Helen Clark
Dabei sei es die Politik mit ihren Bestimmungen, die etwa Werbung für ungesunde Nahrungsmittel erlaube und eine Städteplanung ermögliche, bei der Kinder keine sicheren Orte zum Spielen hätten. Eine zentrale Forderung des Kommissionsberichts sei deshalb, Kinder bei allen sie tangierenden politischen Entscheidungen in den Vordergrund zu stellen.

Ein generationsbezogenes Ungleichgewicht beim Umgang mit der Coronakrise sprach die südafrikanische Gymnasiastin und Klimaaktivistin Almaaz Mudaly an: ?Vor dem Beginn der Impfkampagne in Südafrika mussten sich Kinder streng an alle COVID-Regeln halten, um die Erwachsenen zu schützen, weil die Infektion für diese riskanter ist. Jetzt, wo die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung geimpft ist, sehen wir allerdings nicht die gleiche Verantwortung der Erwachsenen gegenüber den Kindern.?

Gefahren für die mentale Gesundheit nicht außer Acht lassen
Obwohl die Infektion mit SARS-CoV-2 bei Kindern mit deutlich weniger Risiken für ihre körperliche Gesundheit verbunden ist als bei Erwachsenen, gilt dies nicht für Corona-Regeln wie Lockdowns.

Lockdowns, Schulschließungen und eine Zunahme von Armut in der Pandemie haben die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigt ? Dr. Aboubacar Kampo
?Diese sozialen Konsequenzen können schädlich oder sogar katastrophal für Kinder sein?, sagte Dr. Aboubacar Kampo, Direktor für UNICEF-Gesundheitsprogramme. So seien aktuell weltweit 168 Millionen Kinder immer noch nicht in regulären Schulunterricht zurückgekehrt. Das sei auch für die Mütter dieser Kinder ein sehr großes Problem, wenn sie ihre Arbeit aussetzten oder aufgeben müssten, um bei ihren Kindern zu Hause zu bleiben.

?Lockdowns, Schulschließungen und eine Zunahme von Armut in der Pandemie?, so Kampo mit Verweis auf den im Oktober erschienenen UNICEF-Bericht The State of the World's Children 2021, ?haben die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigt und zu mentalen Instabilitäten sowie einer Zunahme von Gewalt beigetragen?. Dabei könnte die Pandemie dem Bericht zufolge sogar nur die Spitze eines ?Mental-Health-Eisbergs? repräsentieren, der bereits zuvor zu lange ignoriert wurde.

Junge Menschen in den Fokus nehmen
Die Zunahme von Armut und Ungerechtigkeit bezeichnete die Kinderärztin Dr. Soumya Swaminathan, Chief Scientist der WHO, als eine der ?verheerendsten Konsequenzen der Pandemie?, die viele Millionen von Kindern betreffe, weil ihre Eltern z.B. ihren Lebensunterhalt verloren hätten. Sie verwies dabei u.a. auf den UN-Bericht The State of Food Security and Nutrition in the World 2021, wonach im Pandemiejahr 2020 rund ein Drittel der Weltbevölkerung (2,37 Milliarden Menschen) keinen Zugang zu adäquater Ernährung hatte ? eine Situation, die sich im Vergleich zu früheren zeiträumen verschlimmert hat.

?Egal, ob es sich um die Ernährung, die Umwelt, die Ausbildung oder andere soziale Determinanten wie die Wohnsituation handelt?, so die WHO-Wissenschaftlerin, ?sollten Regierungen und Behörden Kinder ins Zentrum von allem platzieren, das sie für eine Erholung der allgemeinen Situation planen?.

Digitalisierung als Risiko ?
Weltweit haben Corona-bedingte Lockdowns und soziale Distanzierung auch bei Kindern und Jugendlichen dazu geführt, dass sie noch deutlich mehr Zeit online mit Handys, Tablets und Computern verbringen. ?Das macht sich kommerzielles Marketing zunutze, um unter Zuhilfenahme von Big Data im Internet und über soziale Medien gezielt bei jungen Menschen für gesundheitsgefährdende Produkte zu werben?, sagte Margianta Surahman, Vertreter einer indonesischen Nicht-Regierungsorganisation, welche sich für die Gesundheit und Rechte junger Menschen engagiert.

? oder als Chance
Beim Meeting kamen aber auch positive Aspekte zur Sprache. Was die zunehmende Digitalisierung für das Gesundheitswesen bedeutet und welche Chancen sie für dieses bietet, hat die Lancet and Financial Times Commission on governing health futures 2030: growing up in a digital world untersucht. Ihr aktueller Bericht wurde während des World Health Summits veröffentlicht.

?Tatsache ist, dass digitale Transformationen bereits in vollem Gange sind?, sagte Naomi Lee von The Lancet. Dem Bericht zufolge entwickelt sich der Gesundheitsbereich im Rahmen umfassenderer digitaler Transformationen rasch zu einer hochrelevanten Branche ? etwa durch die wachsende wirtschaftliche Bedeutung von Gesundheitsdaten und die zunehmende Nachfrage nach digitalen Lösungen im Gesundheitswesen: Prozesse, welche durch COVID-19 stark beschleunigt worden sind.

Kinder und Jugendliche, so der Bericht weiter, sollten dabei in den Mittelpunkt gerückt werden. So müssten Prioritäten im Bereich der digitalen Gesundheit dringend bereits in jungen Jahren auf die Schaffung einer soliden Grundlage für Gesundheit und allgemeines Wohlbefinden ausgerichtet werden, damit alle Menschen von den digitalen Transformationen in Gesundheit und Gesundheitsversorgung profitieren können.

?Für die Zukunft unserer Kinder brauchen wir große Investitionen in die Gesundheit, große Investitionen in den Ausbildungssektor und große Investitionen, um dem Klimawandel zu begegnen ? und all das sollte gemeinsam mit jungen Menschen auch ständig überprüft werden?, sagte Kampo.

Und die senegalesische Infektiologin Dr. Awa Marie Coll-Seck resümierte: ?Notwendig ist eine verbesserte Planung, bei der Verteilungsgerechtigkeit im Fokus steht. Das gilt für Investitionen, für politische Entscheidungen und alles, was wir tun, sei es im Hinblick auf COVID-19, den Klimawandel oder kommerzielles Marketing.?

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