Freitag, 21. April 2017
Flüchtlingsabwehr mit Hilfe von Gangstern und Diktatoren
Die Asylpolitik hat hierzulande eine Kehrtwende vollzogen. Stand noch vor zwei Jahren die Willkommenskultur im Vordergrund, geht es heute vor allem um die Abwehr von Flüchtlingen. Im Gespräch mit der MAIZEITUNG (Seite 8) wirft Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen, einen Blick ins Unterholz der offiziellen Flüchtlingspolitik.



MAIZEITUNG: Viele Menschen begrü-
ßen, dass seit geraumer Zeit deutlich
weniger Flüchtlinge zu uns kommen.
Warum kritisieren Sie die Flüchtlings-
politik der Bundesregierung?
Kai Weber: Die Politik der Bundesregierung
setzt darauf, die Aufnahme von Flüchtlingen
anderen Staaten zu übertragen. Diese Politik
schiebt Flüchtlinge in Staaten ab, die keine
Gewähr dafür bieten, dass Flüchtlinge dort
menschenwürdig aufgenommen werden. Das
gilt für die Türkei, wo wir tausende, wenn
nicht zehntausende von rechtswidrigen und
fragwürdigen Inhaftierungen, Hauszerstö-
rungen und ähnliche Fälle erlebt haben. Oder
nehmen wir Libyen, wo wir eine hohe Zahl
von Internierungslagern, Entführungen und
Erpressungen verzeichnen. Frauen werden in
Lagern vergewaltigt und Menschen auf eine
sehr schlimme Weise misshandelt. Es werden
Bündnispartner salonfähig gemacht wie
Omar al-Baschir, Staatschef des Sudan, der
wegen Völkermords vom Internationalen
Strafgerichtshof gesucht wird. Oder der
ägyptische Putschist und Staatschef Sisi, den
Vizekanzler Gabriel bei seinem Staatsbesuch
trotz der Verhängung von hunderten Todes-
urteilen einen »beeindruckenden Präsiden-
ten« nannte. Wir halten es in höchstem Maße
für schäbig, wenn die Bundesregierung mit
solchen Staaten verhandelt, damit die Flücht-
linge dort bleiben.
Dazu passt doch, dass Geflüchtete
mittlerweile in Einsatzgebiete der
Bundeswehr, etwa nach Afghanistan
abgeschoben werden.
Afghanistan ist das zweitgrößte Herkunftsland
für Flüchtlinge auf der Welt. Der Hochkommis-
sar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge hat
klargestellt, dass es keine sicheren Gebiete in
Afghanistan gibt. Insofern kann die Konse-
quenz nur sein, diese Flüchtlinge hier aufzu-
nehmen und ihnen Schutz zu gewähren. Wenn
jetzt der Bundesinnenminister öffentlich Stim-
mung dafür macht, dass Afghanen zurückkeh-
ren sollen und medial inszenierte Abschiebun-
gen durchführt, bemüht sich die Bundesregie-
rung damit, Signale an die zu senden, die noch
kommen könnten. Und dieses Signal lautet:
Kommt nicht nach Deutschland, ihr seid hier
unerwünscht.
Was passiert im Mittelmeer?
Die Politik Europas versucht, das Mittelmeer mit
Satelliten und neuester Technik zu überwachen,
um Fluchthilfe zu unterbinden und Boote zu zer-
stören. Mit dem fatalen Effekt, dass sich Flücht-
linge auf immer wackligere Nussschalen und
Schlauchboote begeben. Auch deshalb kom-
men Menschen ums Leben. Das hat wenig mit
Hilfe für Flüchtlinge und viel mit Fluchtverhinde-
rung zu tun. Die Zahl der Toten im Mittelmeer
hat im vergangenen Jahr mit 5.022 einen trauri-
gen Höchststand erreicht.
Flüchtlingsorganisationen fordern,
die Grenzen zu öffnen. Erhalten dann
nicht rechte Parteien wie die AfD
immer mehr Zuspruch?
Erstaunlich ist doch, dass wir 2015 eine in
Deutschland bisher nicht gekannte Form der
Begeisterung für Flüchtlingshilfe erlebt haben
– und zwar zu einem Zeitpunkt, als wir schon
hunderttausende Flüchtlinge im Land hatten.
Die Gegenbewegung setzte erst mit einer
gewissen Zeitverzögerung ein und erhielt
auch Auftrieb durch Brüche und Widersprü-
che bei den etablierten Parteien. Wenn sich
Herr Seehofer zum Sprachrohr des Rechtspo-
pulismus macht und die Kanzlerin öffentlich
beschimpft, dann muss man sich nicht wun-
dern, dass rechte Gruppierungen darüber
Auftrieb erhalten. Man wird den Rechtspopu-
lismus nicht dadurch bekämpfen, dass man
ihm nach dem Mund redet. Die Zusammen-
hänge von Zahl der Flüchtlinge und Rechtspo-
pulismus lassen sich jedenfalls nicht so sim-
pel auf den Nenner bringen: je mehr Flücht-
linge, desto mehr Rechtspopulismus. Auch
aus historischer Erfahrung wissen wir, dass
ein Antisemitismus ganz ohne Juden aus-
kommt, und dass der Rassismus in Deutsch-
land dort am größten ist, wo es am wenig-
sten Ausländer gibt.
Wie wollen Sie die Flüchtlingszah-
len begrenzen?
Wir wollen eine solidarische Aufnahme und
Verteilung von Flüchtlingen überall auf der
Welt, auch in Europa erreichen. Wir wissen,
dass das im Moment sehr, sehr schwierig ist.
Viele europäische Staaten verweigern diese
Solidarität.
Wäre es nicht einfacher, die Flucht-
ursachen zu bekämpfen, statt enorme
Grenzbefestigungen zu bauen und
militärisch aufzurüsten?
Eine Politik, die darauf zielt, nicht die Fluchtur-
sachen, sondern die Flüchtlinge zu bekämp-
fen, wird auf Dauer scheitern, weil die Flücht-
linge dennoch verzweifelt versuchen werden
durchzukommen. Wenn wir tatsächlich die
Fluchtursachen bekämpfen wollen, müssen
wir auch bestimmte Lebensweisen in Europa
Immer noch sind von der steigenden
Altersarmut vorwiegend Frauen
betroffen. Seit einem Jahr ist
Monika Windhorn nun in Ren-
te. Obwohl die gelernte Ver-
lagskauffrau vor der Arbeits-
losigkeit als Bürokraft gear-
beitet und zwei Kinder groß-
gezogen hat, liegt sie mit
ihren Einkünften laut EU-Sta-
tistikbehörde Eurostat unter der
Armutsgrenze für Bundesbürger/
innen von rund 1.000 Euro im Monat.
Trotzdem sie 18 Jahre verheiratet war und
ihr Mann regelmäßig in die Rentenkasse ein-
zahlte, beträgt ihre offizielle Rente nur 621
Euro netto im Monat. Zum Glück kann sie
diese karge Summe durch einen kleinen
Nebenjob und eine Aufwandsentschädigung
für ihr Mandat in einem hannoverschen
Bezirksrat etwas aufbessern. Mit insgesamt
810 Euro muss sie jeden Monat über die Run-
den kommen.
»Durch meine Nebeneinkünfte stehe ich
im Vergleich zu vielen anderen Frauen noch
gut da«, meint Monika Windhorn. »Deshalb
kann ich mir für Notfälle wie kleine Repara-
turen, den Ersatz von kaputten technischen
Geräten oder auch einfach nur eine Drucker-
patrone ein wenig Geld zurücklegen.« Als
»Luxus« bezeichnet sie eigentlich notwendi-
ge Dinge wie eine Monatskarte für den Nah-
Flüchtlingsabwehr mit Hilfe von
Gangstern und Diktatoren
infrage stellen. Wenn etwa riesige Trawler die
Meere leer fischen und Fischer arbeitslos
machen, müssen wir uns nicht wundern, wenn
sie sich andere Existenzmöglichkeiten suchen.
Es gibt riesige Ländereien in Afrika, in denen
Getreide angebaut wird, um unser Diesel und
Benzin zu finanzieren, während die Menschen
dort nicht genug zu essen haben. Es muss
doch zu denken geben, dass gerade die reich-
sten Staaten Afrikas mit den meisten Boden-
schätzen wie Öl oder Diamanten gekennzeich-
net sind durch Bürgerkriege und einseitige
Handelsbeziehungen, in denen vor allem gro-
ße Konzerne den Reibach machen und die
Bevölkerung nicht viel davon abbekommt. Wir
müssen auch Europas Zollschranken und die
Zerstörung heimischer Märkte in Afrika durch
unfaire Handelsbeziehungen der EU mit afrika-
nischen Staaten infrage stellen. Es reicht nicht,
nur ein neues Entwicklungshilfeprogramm
aufzulegen.

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