Sonntag, 12. August 2018
Wieso Robert zu kurz gedacht hat, der leuchtende Holzweg oder vom Elend der Wertkritik
Manchmal können doch häusliche Unfälle von Nutzen sein: Ich hatte aus Missgeschick die Wandungen einer der Riesenschubladen meines Wohnzimmerbücherschranks beschädigt und musste die Lade leimen und hierfür zunächst einmal vollständig entleeren. Dies brachte mich dazu den gesamten Bücherschrank auszuräumen der Hunderte von Schriften enthielt und hierbei stieß ich auf eine Ausgabe der Grundrisse aus dem Jahr 2005. Mit Begeisterung las ich einen Artikel meines viel zu früh verstorbenen alten Genossen Jürgen Ahlbohn ("Hessen-Jürsche") zur Kritik der Wertkritik. Sehr gut arbeitete er heraus dass sowohl die Wertkritik als auch die Theoriegebäude der ISF Freiburg (köstlich: "Hausmeister der Kritischen Theorie, die aus dem Grand Hotel Abgrund eine Pension Sackgasse gemacht haben") im Grunde das Fahrwasser linker Theoriebildung verlassen haben da bei Ihnen keine Klassensubjekte und keine Klassenkämpfe als principium movens der Geschichte mehr auftauchen, sondern Kapitalmarkt und Warenfetisch selber als Subjekte der Geschichte angesehen werden, was nichts weiter bedeutet als dass die sogenannten Kapitalismuskritiker dem Fetisch selber auf den Leim gegangen sind. Gut, das war mein Reden schon 1996 gewesen, ich hatte es damals aber nicht so gekonnt ausdrücken können wie Jürsche 2005, von einigen sperrigen Sätzen mal abgesehen. Die Tatsache dass er gleichzeitig Physiker und Historiker war liest sich unschwer heraus. Dass linke Theorie auf der Höhe der Zeit ohne den Operaismus bzw. Postoperaismus nicht zu haben ist wird mehr als deutlich. Ich würde sogar sagen: Wer Jürgen Roth und Detlef Hartmann nicht gelesen hat hat den Schuss nicht gehört.

Nur, und da liegt echt das Elend: Der Wertkritik und der Bastardisierung der Kritischen Theorie hatte man damit noch begrifflich zu Leibe rücken können, weil da Theorie war die man auf den Begriff bringen konnte. Mit dem Antideutschtum, dem Strukturveganismus und dem Gendergaga geht das nicht mehr, weil da nichts mehr auf den Begriff zu bringen ist. Und insofern würde ich diese Auswüchse irgendwielinken Denkens auch nicht mehr als Theorien, sondern eher als Modesujets des Zeitgeistes bezeichnen.

http://www.materialien.org/texte/papers/albohn-wertkritik.pdf

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Operaismus sagt mir wenig. Kannst du das irgendwelche Texte empfehlen?

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Ja klar. Zum Einen Cluster von Detlef Hartmann und Gerald Geppert, das Buch wegen dem es zum ersten Bruch mit Momorulez gekommen war. Auf Shifting Reality findet sich eine unvollständige Rezension die parallel von Saltofthearth/Lemmy Caution und mir durchgeführt wurde, dann Empire - die neue Weltordnung von Hardt und Negri, Klassiker: Klassengeschichte. Soziale Revolution=Autonomie Neue Folge Nr. 14, Detlef Hartmann, Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, Autonome Lupus-Gruppe, Geschichte, Rassismus und das Boot, wessen Kampf gegen welche Verhältnisse?

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Eine kleine Anmerkung
Anfang der 70er Jahre versetzten krasse Streiks in Norditalien die gemütlichen Profiteure in tiefe Besorgnis. Weil
1. die Staatsaffirmation der sog. Kommunistischen Partei nicht geteilt wurde: Staat nicht erobern, sondern weg damit.
2. nicht die Konditionen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft zur Debatte standen, sondern die Negation der bürgerlichen Arbeit selbst.
3. nicht irgendwas, sondern die Automobilfabriken bestreikt wurden: die riesige heiße Herzkammer der Kapital-Megaverwertung stand vor dem Infarkt.
4. das Ende freundlicher Gespräche im Stile der sog. Kommunistischen Partei erreicht war durch Managerentführungen und wochenlange Haft – eine gute Erfahrung für Nadelstreifenmenschen, die glaubten, ihre ewige Dominanz halluzinieren zu müssen. Noch Anfang der Nullerjahre hatten Streikende in Frankreich Sprengsätze unter Gascontainer gelegt, und der Innenminister fuhr brav vor.
5. die Streikbewegung ins Soziale mutierte, indem man Wohnverhältnisse thematisierte.

Und daraus geht direkt hervor, warum ich ein Anhänger des Operaismus nicht bin. Aus 2 Gründen:

1. Wenn die Krassphase des Widerstands nur zur Verurteilung Tausender(!) durch den italienischen Staat als „Terroristen“ führte, sehe ich nicht den Erfolg des Konzepts.

2. Es ist aber ganz anders: Die rabiat vorgetragene praktische Kritik der „Arbeit“ enthielt ein Molekül dessen, was Marx als den „Verein freier Menschen“ bezeichnete. Die dort vorgetragene Prädisposition jener Freiheit wurde aber durch „Theoretiker“ ins System erhoben, und das ist der Sündenfall wider die Revolution.
Was Negri nie verstand war, dass das, was er in seinen Schriften versuchte, die Formulierung eines methodologisch geregelten Verfahrens zur Herstellung von Freiheit war. Das Label zu diesem Irrtum heißt: Operaismus.

Freiheit aber wird von denen gemacht, die sie machen; nicht von Methoden, Verfahren, Wörtern und Begriffen.

Es ist anders.

Und wenn es denn geschähe, dann haben kein Negri, kein Che und kein Nörgler da irgend reinzuquatschen.

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Robert Kurz † 18. Juli 2012
Mit Robert Kurz, zu dessen Beerdigung in Nürnberg mich einzufinden ich die Verpflichtung empfand, habe ich mehrfach sowohl öffentlich wie Exit-intern die Klingen hart gekreuzt, so, dass am Ende seine Exit-Horde das consilium abeundi mir erteilte.
Wenn Kurz mich sah, pflegte er sogleich auszurasten, da wir in der Marxschen Begrifflichkeit maximal über Kreuz lagen.

Dass allerdings keine Klassensubjekte und keine Klassenkämpfe als principium movens der Geschichte mehr auftauchen, sondern Kapitalmarkt und Warenfetisch selber als Subjekte der Geschichte angesehen werden, ist durchaus Marx-kompatibel, sofern man das Kapital, die Grundrisse und die Theorien über den Mehrwert in Anschlag bringt.

Eben dies besagt der Begriff der "reellen Subsumption", wie er in den "Grundrissen" entfaltet wird.
Kleine Korrektur: Nicht "Kapitalmarkt und Warenfetisch" sind Subjekt, sondern der Kapitalbegriff als "automatisches Subjekt" ist es.

"Klassensubjekte und Klassenkämpfe als principium movens der Geschichte" klingt mir etwas zu leninistisch.

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Und es ist doch noch anders
Diese krassen Streiks in Italien, in denen die Autonomen als soziale Bewegung geboren wurden, ebenso wie die wilden Streiks bei BMW und bei Ford in Köln 1972 und die Hausbesetzungen der 1970er und 80er Jahre in Westdeutschland (nicht die Instandbesetzungen, sondern die, die als unmittelbare Angriffe auf das Privateigentum an Grund und Boden gemeint waren) wurden von Theoretikern miteinander kontextualisiert und Grundlage eines Modells von Klassenkampf, das an der Subjektivität der Massen ansetzte und die bis dahin vorherrschende Orientierung an "Organisationen der Arbeiterklasse" wie Parteien und Gewerkschaften über Bord warf.
In Deutschland wird dieser Ansatz meist nicht Operaismus sondern Neuer Antiimperialismus genannt.
Daran anknüpfend entwickelte sich eine Theorie der Wirklichkeitserfahrung als Alltagserlebnis und Lebenspraxis, die bis in den Diskurs der Geschichtswissenschaften wirkungsmächtig ist. Ahlrich Meier hat in "Klassengeschichte. Soziale Revolution" = Autonomie Nr. 14 in dem Kapitel über das sozialhistorische Paradigma diese Zusammenhänge deutlich gemacht. Es gibt noch ein anderes gutes Buch zu dem Thema mit dem Titel "Und es begann die Zeit der Autonomie", als Herausgeber figuriert ein anonymes, mir persönlich allerdings bekanntes Kollektiv namens Frömbeloff.

Ich beziehe mich auch auf Negri nicht positiv sondern vielmehr auf Roth und Hartmann (der Negri kritisiert).


"Klassensubjekte und Klassenkämpfe als principium movens der Geschichte" ist in keiner Weise leninistisch, wohl werden hier aber mir Marx Kropotkin und Thoreau zusammengebracht zu einem vitalistischen Ansatz - Rage against the machine und der Begriff der Klassenkämpfe im Sinne des Operaismus sehr gedehnt. So gehören auch Krankfeiern, Sabotage und Diebstahl am Arbeitsplatz dazu als Faktoren die die Produktion verteuern und damit den tendenziellen Fall der Profitrate für den Kapitalisten unkalkulierbar beschleunigen.

Ich kann das alles was einer viel gründlicherern Erörterung dringend bedürfte hier nur äußerst streiflichtartig behandeln da ich selber der Arbeit um meine Reproduktion zu sehr unterworfen bin.

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Die historische Situation in Italien damals ist heute nur schwer vorstellbar: Streikposten bei FIAT sangen "Che la cine nos donda ai fucile, guerra civile, guerra civile" ("Wenn China uns Gewehre gibt, Bürgerkrieg, Bürgerkrieg").

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