Mittwoch, 22. Juli 2020
Corona-Krise – Studie analysiert verzerrte Wahrnehmung: Haben Merkel & Co korrekt entschieden?
che2001, 20:22h
Sorgen wir uns um das Falsche?
Ute Eppinger, Medscape
Wurde in der COVID-19-Pandemie richtig reagiert? Hätte besser entschieden werden können? Ist unsere Wahrnehmung immer noch verzerrt, und treffen wir auch heute noch in Sachen Corona-Schutz meist die falschen Entscheidungen – auch weil wir uns eher Sorgen um die unwichtigen Dinge machen? Mediziner aus den USA haben versucht, mit einer Analyse zur Entscheidungsfindung auf solche Fragen Antworten zu geben.
Inwieweit kognitive Verzerrungen die Entscheidungen in der COVID-19-Pandemie beeinflusst haben – dieser Frage gehen der Palliativmediziner Dr. Scott D. Halpern von der University of Pennsylvania in Philadelphia und die beiden Medizinethiker Dr. Robert D. Truog von Harvard Medical School in Boston, Massachusetts und Dr. Franklin G. Miller vom Weill Cornell Medical College in New York in einem Kommentar im JAMA nach.
Es ist ein sehr wichtiger Artikel, denn er erklärt die Mechanismen, die politischen Entscheidungen in Zeiten von Unsicherheit zugrunde liegen. Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing
Halpern und seine Kollegen zeigen auf, wie der Effekt des bekannten Opfers („identifiable victim effect“), die Fixierung auf die Gegenwart („present bias“), die Verzerrung durch Unterlassung („omission bias“) und auch der Druck zu handeln statt abzuwarten, Entscheidungen in der Pandemie beeinflusst haben – nicht immer zum Guten.
„Ein sehr wichtiger Artikel, denn er erklärt die Mechanismen, die politischen Entscheidungen in Zeiten von Unsicherheit zugrunde liegen“, kommentiert Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen, im Gespräch mit Medscape den Beitrag im JAMA.
Mit dem Auftreten des Coronavirus habe ein „Jahr des Eigentlichen“ eingesetzt, so Wiesing. „Gemeint ist damit: Was ist wichtig, was brauchen wir wirklich zum Leben, was ist verzichtbar? Ist es wirklich wichtig, für ein Wochenende zum Shoppen nach Barcelona zu fliegen, oder ist es verzichtbar? Diese Fragen drängen sich in der Krise auf.“
Die Pandemie decke aber noch einen weiteren Aspekt auf: „Unsere Vorstellungen davon, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen werden, sind verzerrt. Wir glauben, dass wir rational entscheiden. Doch Corona zeigt sehr genau, dass die Entscheidungen mit einem Gefühl der Unsicherheit fallen, dass wir unter Ungewissheiten handeln müssen“, erklärt Wiesing. „Zum Zeitpunkt der Entscheidung wusste beispielsweise niemand – ist es sinnvoll einen Mund-Nasenschutz zu tagen? Ist das Schließen von Kitas notwendig oder nicht?“, erinnert Wiesing.
Sorge um Beatmungsgeräte, nicht aber wegen inkonsequenter Maßnahmen
Halpern und seine Kollegen verweisen auf die Entscheidung der US-Bundesbehörden, 3 Milliarden Dollar in die Herstellung weiterer Beatmungsgeräte zu investieren und fragen: Weshalb machen sich so viele Menschen Sorgen, dass ein Patient, der sich mit schwerer Atemwegserkrankung in einer Notaufnahme vorstellt, nicht gerettet werden kann, weil es an Beatmungsgeräten mangelt?
Und weshalb machen sich nur wenige Menschen Sorgen, wenn Politik darin versagt, Maßnahmen wie Social Distancing konsequent umzusetzen – obwohl das weit mehr Leben gerettet hat? „Solche inkonsistenten Antworten hängen mit Verzerrungen in der menschlichen Wahrnehmung zusammen, die dem leicht Vorstellbaren gegenüber dem statistischen, dem Gegenwärtigen gegenüber dem Zukünftigen und dem Direkten gegenüber dem Indirekten Vorrang einräumen“, schreiben sie.
Nach Einschätzung der Forscher hätten die Geräte wohl wenig dazu beigetragen, die Überlebenschancen der Bevölkerung zu verbessern – aufgrund der hohen Sterblichkeit von Patienten mit COVID-19, die mechanisch beatmet werden mussten.
Dennoch unterstützten die meisten US-Bürger die Entscheidung der Bundesbehörden, weil der Glaube, dass genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen würden, sie davor schützte, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob durch ausreichend Beatmungsgeräte Todesfälle überhaupt vermeidbar sind.
Unterlassen ist schwieriger als handeln
Etwas zu unterlassen, ist schwieriger als etwas zu tun. Das gilt nicht nur für das Beispiel des Kaufs von Beatmungsgeräten. Alltagsbeispiele, dass wir lieber handeln als abzuwarten, gebe es genug, sagt Wiesing. Beispiel Schnupfen des Kindes: „Unbehandelt dauert ein Schnupfen eine Woche, mit Medikamenten 7 Tage. Wir wissen das und trotzdem kaufen wir dann in der Apotheke die Medikamente für unsere Kinder“, sagt Wiesing.
Wir glauben, dass wir rational entscheiden. Doch Corona zeigt sehr genau, dass … wir unter Ungewissheiten handeln müssen. Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing
Bei den Beatmungsgeräten hat sich gezeigt, dass sie nur wenig Menschenleben retten konnten: In New York überlebten nur 12% der an COVID-19 Erkrankten die Beatmung, in Deutschland etwa 50%. „Das wusste man in den USA natürlich nicht, als man sich dazu entschieden hat, die Geräte zu kaufen. Hinzu kommt, dass wir als technologisierte, also technik-affine Gesellschaft technologische Antworten bevorzugen“, erklärt Wiesing.
Ein Nachdenken darüber, was die Entscheidung, auf Beatmungsgeräte zu setzen, beeinflusst hat, könnte dazu führen, dass bei der nächsten Pandemie überlegt wird, ob man so viele Beatmungsgeräte braucht und nicht stattdessen besser auf andere Strategien setzt – etwa auf konsequente Eindämmung des Virus.
Nach Einschätzung von Halpern und seinen Kollegen hat der Effekt des bekannten Opfers – Familienmitglieder und Freunde sind einem näher als Fremde, der Arzt sorgt sich um seinen Patienten – womöglich dazu geführt, dass man sich sehr stark auf medizinische Reaktionen konzentriert hat.
So sei der Erweiterung der Intensivpflegekapazität Vorrang eingeräumt worden, und viele Kliniker behandelten anfangs schwer kranke Patienten mit Medikamenten, für die es kaum Belege für die Wirksamkeit gab – oft auch, bevor Strategien zur Eindämmung des Virus verabschiedet wurden, schreiben sie.
Bilder von Bergamo haben die Entscheidungen maßgeblich beeinflusst
Zu falschen politischen Reaktionen führt aus Sicht der Autoren auch, dass Menschen dazu neigen, den sofortigen Nutzen einem noch größeren Nutzen in der Zukunft vorzuziehen. Wenn also der Ausbau der Intensivpflege-Kapazität kurzfristig die Verhinderung bestimmter Todesfälle ermöglicht, ist das eine attraktivere politische Option als Schritte, die viel langfristiger weitere Todesfälle verhindern würden.
Wiesing betont, dass die Bilder von Bergamo die Entscheidungen in Deutschland maßgeblich beeinflusst hatten. „Aus rein epidemiologischer Sicht ist die Zahl der Toten in Bergamo durch COVID-19 kaum relevant für Europa. Die Bilder haben aber emotional gewirkt und zu direktem Handeln geführt. Es wurden – retrospektiv gesehen – in Deutschland zu viele Intensivkapazitäten freigehalten, eine Auslastung von 100 Prozent wurde nie erreicht.“
Möglicherweise wäre man mit weniger Intensivbetten ausgekommen, aber: „Hinterher ist man immer schlauer, insofern muss die damalige Entscheidung nicht falsch gewesen sein.“
Dass die Haltung in einer Krise eine große Rolle spielt, zeigt das Beispiel Markus Söder: Weniger seine Entscheidungen selbst als vielmehr seine Attitüde in der Corona-Krise – konsequent, geradlinig – habe dem bayerischen Ministerpräsidenten innerhalb seiner Partei und darüber hinaus ein gutes Standing beschert. „Ob er damit mehr Leben gerettet hat als Armin Laschet? Das wissen wir nicht“, sagt Wiesing.
Was passiert, wenn die emotionale Komponente ausgeblendet und rein rational argumentiert wird, zeigt das Beispiel Boris Palmer. Der Tübinger Oberbürgermeister hatte zum Thema COVID-19 Ende April geäußert, dass es sich bei dem Großteil der an COVID-19 Gestorbenen um Menschen mit schweren Vorerkrankungen handele, die ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt hätten. Er hielt die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns für gravierender und wies darauf hin, dass diese zusätzlich das Leben armutsbedrohter Kinder kosten würden.
„Rein rational betrachtet hat er damit nicht unrecht, aber emotional und in seiner Rhetorik ist das politisch nicht zu vermitteln“, so Wiesing. Denn natürlich denke man dabei an die eigenen Großeltern und die sind einem nun mal näher als Menschen, die man nicht kennt – Stichwort Effekt des bekannten Opfers.
Wege zu besserer Politik und besserer Kommunikation
Ziel sollte sein, die Auswirkungen dieser Verzerrungen auf die Politik abzuschwächen und der Öffentlichkeit die Gründe für schwierige Entscheidungen verständlich zu vermitteln, schreiben Halpern und seine Kollegen.
Hätten Regierungen und Kliniker den Effekt des bekannten Opfers besser verstanden, hätten sie vielleicht erkannt, dass die Aufforderung „flattening the curve“ weniger geeignet war, den Druck auf Kliniken, Ärzte und Pflegepersonal zu senken als eine frühzeitige Schließung von Restaurants und Geschäften, kommuniziert über: „Zu den Leben, die Sie retten, wenn Sie Ihre Türen schließen, gehören auch Ihre eigenen.“
Zur Einhaltung von Maßnahmen wie der Quarantäne könnten Politiker das Zukunftsdenken fördern und sagen: „Diese Regeln heute zu befolgen, ist der beste Weg, um sicherzustellen, dass Sie und Ihre Familie morgen gesund sind.“
Durch die Verabschiedung von Gesetzen, die eine Abschätzung der Auswirkungen auf die über mehrere Jahre geretteten Leben erfordern, könnten Regierungschefs ihre eigene Voreingenommenheit verringern, schreiben die Autoren. Würde diese aufgedeckt, ließen sich Strategien verfolgen, die künftige Schäden ebenso wie gegenwärtige in Betracht ziehen und sich ebenso stark um versteckte Todesfälle wie um unmittelbar bedrohte Leben kümmern.
Im besten Fall könnte die Pandemie die Ethik des öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber der klinischen Ethik stärken. Dr. Scott D. Halper und Kollegen
„Im besten Fall könnte die Pandemie die Ethik des öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber der klinischen Ethik stärken. Wenn dies gelänge, ginge von COVID-19 paradoxerweise ein Anstoß zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit aus“, schließen Halpern und seine Kollegen.
Dass es wichtig ist, dass sich politische Entscheidungsträger die Mechanismen klar machen, die ihre Entscheidungen beeinflussen, bestätigt auch Wiesing. Er bezweifelt aber, dass bei der nächsten Pandemie deutlich rationaler gehandelt werden kann. „Womöglich wurden zu viele Intensivplätze vorgehalten, und vielleicht hätte man auch die Kitas nicht schließen müssen. Das konnte man aber zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht wissen. Hinzu kommt: Politiker können auf symbolische Handlungen nicht verzichten. Politik ist immer auch Symbolpolitik“, erklärt er.
Insofern werden symbolische Handlungsmuster nie ganz aus der Politik verschwinden. Und es ist in solchen Situationen noch wichtiger als sonst, wie die Entscheidungen kommuniziert werden.
Ute Eppinger, Medscape
Wurde in der COVID-19-Pandemie richtig reagiert? Hätte besser entschieden werden können? Ist unsere Wahrnehmung immer noch verzerrt, und treffen wir auch heute noch in Sachen Corona-Schutz meist die falschen Entscheidungen – auch weil wir uns eher Sorgen um die unwichtigen Dinge machen? Mediziner aus den USA haben versucht, mit einer Analyse zur Entscheidungsfindung auf solche Fragen Antworten zu geben.
Inwieweit kognitive Verzerrungen die Entscheidungen in der COVID-19-Pandemie beeinflusst haben – dieser Frage gehen der Palliativmediziner Dr. Scott D. Halpern von der University of Pennsylvania in Philadelphia und die beiden Medizinethiker Dr. Robert D. Truog von Harvard Medical School in Boston, Massachusetts und Dr. Franklin G. Miller vom Weill Cornell Medical College in New York in einem Kommentar im JAMA nach.
Es ist ein sehr wichtiger Artikel, denn er erklärt die Mechanismen, die politischen Entscheidungen in Zeiten von Unsicherheit zugrunde liegen. Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing
Halpern und seine Kollegen zeigen auf, wie der Effekt des bekannten Opfers („identifiable victim effect“), die Fixierung auf die Gegenwart („present bias“), die Verzerrung durch Unterlassung („omission bias“) und auch der Druck zu handeln statt abzuwarten, Entscheidungen in der Pandemie beeinflusst haben – nicht immer zum Guten.
„Ein sehr wichtiger Artikel, denn er erklärt die Mechanismen, die politischen Entscheidungen in Zeiten von Unsicherheit zugrunde liegen“, kommentiert Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen, im Gespräch mit Medscape den Beitrag im JAMA.
Mit dem Auftreten des Coronavirus habe ein „Jahr des Eigentlichen“ eingesetzt, so Wiesing. „Gemeint ist damit: Was ist wichtig, was brauchen wir wirklich zum Leben, was ist verzichtbar? Ist es wirklich wichtig, für ein Wochenende zum Shoppen nach Barcelona zu fliegen, oder ist es verzichtbar? Diese Fragen drängen sich in der Krise auf.“
Die Pandemie decke aber noch einen weiteren Aspekt auf: „Unsere Vorstellungen davon, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen werden, sind verzerrt. Wir glauben, dass wir rational entscheiden. Doch Corona zeigt sehr genau, dass die Entscheidungen mit einem Gefühl der Unsicherheit fallen, dass wir unter Ungewissheiten handeln müssen“, erklärt Wiesing. „Zum Zeitpunkt der Entscheidung wusste beispielsweise niemand – ist es sinnvoll einen Mund-Nasenschutz zu tagen? Ist das Schließen von Kitas notwendig oder nicht?“, erinnert Wiesing.
Sorge um Beatmungsgeräte, nicht aber wegen inkonsequenter Maßnahmen
Halpern und seine Kollegen verweisen auf die Entscheidung der US-Bundesbehörden, 3 Milliarden Dollar in die Herstellung weiterer Beatmungsgeräte zu investieren und fragen: Weshalb machen sich so viele Menschen Sorgen, dass ein Patient, der sich mit schwerer Atemwegserkrankung in einer Notaufnahme vorstellt, nicht gerettet werden kann, weil es an Beatmungsgeräten mangelt?
Und weshalb machen sich nur wenige Menschen Sorgen, wenn Politik darin versagt, Maßnahmen wie Social Distancing konsequent umzusetzen – obwohl das weit mehr Leben gerettet hat? „Solche inkonsistenten Antworten hängen mit Verzerrungen in der menschlichen Wahrnehmung zusammen, die dem leicht Vorstellbaren gegenüber dem statistischen, dem Gegenwärtigen gegenüber dem Zukünftigen und dem Direkten gegenüber dem Indirekten Vorrang einräumen“, schreiben sie.
Nach Einschätzung der Forscher hätten die Geräte wohl wenig dazu beigetragen, die Überlebenschancen der Bevölkerung zu verbessern – aufgrund der hohen Sterblichkeit von Patienten mit COVID-19, die mechanisch beatmet werden mussten.
Dennoch unterstützten die meisten US-Bürger die Entscheidung der Bundesbehörden, weil der Glaube, dass genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen würden, sie davor schützte, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob durch ausreichend Beatmungsgeräte Todesfälle überhaupt vermeidbar sind.
Unterlassen ist schwieriger als handeln
Etwas zu unterlassen, ist schwieriger als etwas zu tun. Das gilt nicht nur für das Beispiel des Kaufs von Beatmungsgeräten. Alltagsbeispiele, dass wir lieber handeln als abzuwarten, gebe es genug, sagt Wiesing. Beispiel Schnupfen des Kindes: „Unbehandelt dauert ein Schnupfen eine Woche, mit Medikamenten 7 Tage. Wir wissen das und trotzdem kaufen wir dann in der Apotheke die Medikamente für unsere Kinder“, sagt Wiesing.
Wir glauben, dass wir rational entscheiden. Doch Corona zeigt sehr genau, dass … wir unter Ungewissheiten handeln müssen. Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing
Bei den Beatmungsgeräten hat sich gezeigt, dass sie nur wenig Menschenleben retten konnten: In New York überlebten nur 12% der an COVID-19 Erkrankten die Beatmung, in Deutschland etwa 50%. „Das wusste man in den USA natürlich nicht, als man sich dazu entschieden hat, die Geräte zu kaufen. Hinzu kommt, dass wir als technologisierte, also technik-affine Gesellschaft technologische Antworten bevorzugen“, erklärt Wiesing.
Ein Nachdenken darüber, was die Entscheidung, auf Beatmungsgeräte zu setzen, beeinflusst hat, könnte dazu führen, dass bei der nächsten Pandemie überlegt wird, ob man so viele Beatmungsgeräte braucht und nicht stattdessen besser auf andere Strategien setzt – etwa auf konsequente Eindämmung des Virus.
Nach Einschätzung von Halpern und seinen Kollegen hat der Effekt des bekannten Opfers – Familienmitglieder und Freunde sind einem näher als Fremde, der Arzt sorgt sich um seinen Patienten – womöglich dazu geführt, dass man sich sehr stark auf medizinische Reaktionen konzentriert hat.
So sei der Erweiterung der Intensivpflegekapazität Vorrang eingeräumt worden, und viele Kliniker behandelten anfangs schwer kranke Patienten mit Medikamenten, für die es kaum Belege für die Wirksamkeit gab – oft auch, bevor Strategien zur Eindämmung des Virus verabschiedet wurden, schreiben sie.
Bilder von Bergamo haben die Entscheidungen maßgeblich beeinflusst
Zu falschen politischen Reaktionen führt aus Sicht der Autoren auch, dass Menschen dazu neigen, den sofortigen Nutzen einem noch größeren Nutzen in der Zukunft vorzuziehen. Wenn also der Ausbau der Intensivpflege-Kapazität kurzfristig die Verhinderung bestimmter Todesfälle ermöglicht, ist das eine attraktivere politische Option als Schritte, die viel langfristiger weitere Todesfälle verhindern würden.
Wiesing betont, dass die Bilder von Bergamo die Entscheidungen in Deutschland maßgeblich beeinflusst hatten. „Aus rein epidemiologischer Sicht ist die Zahl der Toten in Bergamo durch COVID-19 kaum relevant für Europa. Die Bilder haben aber emotional gewirkt und zu direktem Handeln geführt. Es wurden – retrospektiv gesehen – in Deutschland zu viele Intensivkapazitäten freigehalten, eine Auslastung von 100 Prozent wurde nie erreicht.“
Möglicherweise wäre man mit weniger Intensivbetten ausgekommen, aber: „Hinterher ist man immer schlauer, insofern muss die damalige Entscheidung nicht falsch gewesen sein.“
Dass die Haltung in einer Krise eine große Rolle spielt, zeigt das Beispiel Markus Söder: Weniger seine Entscheidungen selbst als vielmehr seine Attitüde in der Corona-Krise – konsequent, geradlinig – habe dem bayerischen Ministerpräsidenten innerhalb seiner Partei und darüber hinaus ein gutes Standing beschert. „Ob er damit mehr Leben gerettet hat als Armin Laschet? Das wissen wir nicht“, sagt Wiesing.
Was passiert, wenn die emotionale Komponente ausgeblendet und rein rational argumentiert wird, zeigt das Beispiel Boris Palmer. Der Tübinger Oberbürgermeister hatte zum Thema COVID-19 Ende April geäußert, dass es sich bei dem Großteil der an COVID-19 Gestorbenen um Menschen mit schweren Vorerkrankungen handele, die ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt hätten. Er hielt die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns für gravierender und wies darauf hin, dass diese zusätzlich das Leben armutsbedrohter Kinder kosten würden.
„Rein rational betrachtet hat er damit nicht unrecht, aber emotional und in seiner Rhetorik ist das politisch nicht zu vermitteln“, so Wiesing. Denn natürlich denke man dabei an die eigenen Großeltern und die sind einem nun mal näher als Menschen, die man nicht kennt – Stichwort Effekt des bekannten Opfers.
Wege zu besserer Politik und besserer Kommunikation
Ziel sollte sein, die Auswirkungen dieser Verzerrungen auf die Politik abzuschwächen und der Öffentlichkeit die Gründe für schwierige Entscheidungen verständlich zu vermitteln, schreiben Halpern und seine Kollegen.
Hätten Regierungen und Kliniker den Effekt des bekannten Opfers besser verstanden, hätten sie vielleicht erkannt, dass die Aufforderung „flattening the curve“ weniger geeignet war, den Druck auf Kliniken, Ärzte und Pflegepersonal zu senken als eine frühzeitige Schließung von Restaurants und Geschäften, kommuniziert über: „Zu den Leben, die Sie retten, wenn Sie Ihre Türen schließen, gehören auch Ihre eigenen.“
Zur Einhaltung von Maßnahmen wie der Quarantäne könnten Politiker das Zukunftsdenken fördern und sagen: „Diese Regeln heute zu befolgen, ist der beste Weg, um sicherzustellen, dass Sie und Ihre Familie morgen gesund sind.“
Durch die Verabschiedung von Gesetzen, die eine Abschätzung der Auswirkungen auf die über mehrere Jahre geretteten Leben erfordern, könnten Regierungschefs ihre eigene Voreingenommenheit verringern, schreiben die Autoren. Würde diese aufgedeckt, ließen sich Strategien verfolgen, die künftige Schäden ebenso wie gegenwärtige in Betracht ziehen und sich ebenso stark um versteckte Todesfälle wie um unmittelbar bedrohte Leben kümmern.
Im besten Fall könnte die Pandemie die Ethik des öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber der klinischen Ethik stärken. Dr. Scott D. Halper und Kollegen
„Im besten Fall könnte die Pandemie die Ethik des öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber der klinischen Ethik stärken. Wenn dies gelänge, ginge von COVID-19 paradoxerweise ein Anstoß zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit aus“, schließen Halpern und seine Kollegen.
Dass es wichtig ist, dass sich politische Entscheidungsträger die Mechanismen klar machen, die ihre Entscheidungen beeinflussen, bestätigt auch Wiesing. Er bezweifelt aber, dass bei der nächsten Pandemie deutlich rationaler gehandelt werden kann. „Womöglich wurden zu viele Intensivplätze vorgehalten, und vielleicht hätte man auch die Kitas nicht schließen müssen. Das konnte man aber zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht wissen. Hinzu kommt: Politiker können auf symbolische Handlungen nicht verzichten. Politik ist immer auch Symbolpolitik“, erklärt er.
Insofern werden symbolische Handlungsmuster nie ganz aus der Politik verschwinden. Und es ist in solchen Situationen noch wichtiger als sonst, wie die Entscheidungen kommuniziert werden.
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