Montag, 25. April 2022
Länger leben ? welche Lebensstil-Veränderungen bringen wirklich etwas für Herz und Kreislauf?
Die Beweislage überrascht
Nadine Eckert, Medscape

Kardiovaskuläre Erkrankungen sind die häufigste Todesursache ? auch bei Frauen. Aber an welchen Stellschrauben lohnt es sich zu drehen, um einen Effekt auf das Überleben zu erreichen? Wer hier primär an die üblichen Verdächtigen Adipositas, Rauchen, und Bewegungsmangel denkt, muss sich auf Enttäuschungen einstellen, wie Prof. Dr. Ulrich Laufs bei der 88. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie klarstellte.

?Die epidemiologischen Assoziationen zwischen den Lebensstil-Faktoren Adipositas, Rauchen sowie Bewegungsmangel und der kardiovaskulären Sterblichkeit sind eindeutig?, bestätigte der Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig. ?Aber anders als etwa für die Senkung von LDL-Cholesterin und Blutdruck gibt es keine Beweise dafür, dass eine Modifikation dieser Lebensstilfaktoren das Leben verlängert.?

Assoziationen sind keine Interventionen
Es ist nicht einfach, die in epidemiologischen Studien gezeigten Zusammenhänge durch Interventionen in quantitativ messbare Effekte umzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Physical Activity Paradox, das in der Copenhagen General Population Study mit mehr als 100.000 Menschen sehr deutlich wurde.

Die höchste Sterblichkeit hatten diejenigen mit viel körperlicher Aktivität auf der Arbeit und keiner körperlichen Aktivität in der Freizeit. Prof. Dr. Ulrich Laufs
Während körperliche Aktivität in der Freizeit kardiovaskuläre Ereignisse und Todesfälle reduzierte, war körperliche Aktivität im Beruf mit einem erhöhten Risiko verbunden. ?Die höchste Sterblichkeit hatten diejenigen mit viel körperlicher Aktivität auf der Arbeit und keiner körperlichen Aktivität in der Freizeit?, sagte Laufs. ?Der Effekt der Bewegung wird offenbar durch Sozialfaktoren kompromittiert.?

Confounder erschweren die Umsetzung
Tatsächlich ist der sozioökonomische Status ein starker Confounder der Assoziation zwischen Lebensstilfaktoren und kardiovaskulären Endpunkten. Sowohl die NHANES-Studie in den USA als auch eine Auswertung der UK Biobank zeigten gleichermaßen: In Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status sind kardiovaskuläre Risikofaktoren von Bedeutung, aber der sozioökonomische Status ist wesentlich stärker prädiktiv.

Laufs zieht daraus die Lehre, dass künftig bei der Umsetzung von Lebensstil-Maßnahmen zur Senkung des kardiovaskulären Risikos auch sozial schwierige und prekäre Patientenpopulationen erreicht werden müssen. Hier zeige sich einmal mehr, dass Medizin auch Sozialarbeit sei.

Gegen das Rauchen helfen nur sanktionierte Verbote
Auch der Verzicht auf das Rauchen steht in epidemiologischen Studien immer wieder in einem positiven Zusammenhang mit einer besseren Prognose bezüglich der Lebenserwartung. Diese Erkenntnis in eine wirksame Intervention umzusetzen, hat sich auch in diesem Bereich als schwierig erwiesen. Der Umstieg auf E-Zigaretten bringe keinen dauerhaften Erfolg, sagte Laufs. Gewisse Effekte seien mit finanziellen Belohnungen für Rauchkarenz bei schwangeren Frauen erzielt worden, die allerdings nicht von Dauer waren.

?Beim Rauchen gibt es bisher nur eine einzige wirksame Strategie: das Rauchverbot, das auch sanktioniert wird?, so Laufs. In Städten und Regionen, in denen ein Rauchverbot durchgesetzt wurde, zeigen Vorher-Nachher-Vergleiche tatsächlich einen Rückgang der akuten Koronarsyndrome.

Anders als etwa bei der Blutdruck- oder Cholesterinsenkung fehlt es aber an randomisiert-kontrollierten Studien, die aufzeigen würden, wie viele zusätzliche ereignisfreie Jahre man durch eine Rauchkarenz tatsächlich erzielt, ergänzt der Kardiologe.

Lebt der adipöse Herzpatient nach einer Gewichtsreduktion länger?
Im jungen Lebensalter existiert eine klare Assoziation zwischen Adipositas und der Sterblichkeit. ?Das ist bei unseren herzkranken Patienten in der Form nicht mehr nachweisbar?, sagte Laufs. ?Es gibt keine prospektive Evidenz für Effekte einer Gewichtsreduktion auf die Sterblichkeit, aber für multiple positive Effekte auf die Gesundheit.?

Bis dato ist der Goldstandard in der Behandlung der Adipositas weiterhin die operative Therapie. Sie ist die einzige Therapie, die auch mittel- und längerfristig mit einer substanziellen Gewichtsreduktion einhergeht. Dagegen gibt es keine Evidenz dafür, dass Ernährungsberatungen und Verhaltensänderungen mittelfristig ? über 5 Jahre ? zu einer anhaltenden Gewichtsreduktion führen.

Einzelne profitieren von Lebensstil-Maßnahmen
?Es gibt einzelne Menschen, denen dies trotzdem gelingt?, so Laufs. In diesen Fällen sind Prognosefaktoren für eine längerfristige Gewichtsreduktion durch Lebensstilmaßnahmen:

eine Nahrungsaufnahme von circa 1.400 kcal/Tag,

tägliches Frühstücken,

täglich 1 Stunde Sport mit einem Energieverbrauch von circa 400 kcal,

weniger als 10 Stunden Bildschirmzeit pro Woche und

mindestens 1-mal pro Woche wiegen.

Erstmals gibt es medikamentöse Optionen
Allerdings gebe es derzeit viel Bewegung im Bereich der Pharmakotherapie. ?Mit dem GLP-1-Rezeptoragonisten Semaglutid steht erstmals eine zugelassene medikamentöse Adipositas-Therapie zur Verfügung, die kardiovaskulär sicher ist. Bei Diabetes reduziert die Substanz sogar die Gesamtsterblichkeit?, berichtete Laufs.

In Studien wurde mit Semaglutid über 68 Wochen eine Gewichtsreduktion um 17% erreicht, kombiniert mit einer relevanten Blutdrucksenkung um 3,9 mmHg. ?Die sich derzeit in Phase 2 befindlichen dualen Agonisten von GLP-1-und GIP, zum Beispiel Tirzepatid, führen wohl noch zu einer weiteren Gewichtsreduktion, immer assoziiert mit gastrointestinalen Beschwerden als wichtigste Nebenwirkung?, so Laufs.

Auch beim LDL-Cholesterin und beim Blutdruck geht noch mehr
?Die Adipositas wird auf uns in der Kardiologie als neues Therapieprinzip in den nächsten 2 Jahren zukommen?, prognostizierte Laufs. Aber auch an den Stellschrauben LDL-Cholesterin und Blutdruck ? für die der Überlebensvorteil bereits gezeigt wurde ? lasse sich in Zukunft noch weiter drehen, ist sich der Leipziger Kardiologe sicher.

Er wies darauf hin, dass der LDL-Cholesterin-Spiegel auch schon in jungen Jahren erhöht sein kann, was mit mehr kardiovaskulären Erkrankungen im späteren Leben einhergehe. Sein Vorschlag ist deshalb die Einführung eines ?Kinder-Screenings auf LDL-Cholesterin bei der U8-Untersuchung?. Damit lasse sich zumindest eine familiäre heterozygote Hypercholesterinämie, die mit einer Prävalenzrate von 1:250 sehr häufig sei, rechtzeitig erkennen und frühzeitig behandeln.

Frühzeitig mit der Cholesterin-Senkung beginnen
Analog zum Bluthochdruck und Diabetes mellitus sollte auch bei der Cholesterin-Therapie frühzeitig begonnen werden, so Laufs. Und dies am besten mit einer Kombinationstherapie beziehungsweise Kombinationspräparaten, mit denen sich die Cholesterin-Senkung verbessern lasse.

Interessant könnte in Zukunft auch noch die siRNA (small interfering RNA) Inclisiran werden, so Laufs. Sie kann das LDL-Cholesterin bei bereits behandelten Patienten noch einmal um 50% reduzieren.

Ganz ähnlich sieht es bei der Blutdrucksenkung aus. Auch hier ließen sich bei bereits antihypertensiv behandelten Patienten noch weitere Blutdrucksenkungen erzielen, etwa durch eine renale Denervierung, deren Effekte in Studien mittlerweile über bis zu 36 Monate anhielten, wie Laufs berichtete.

https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4911093?uac=389796AZ&faf=1&sso=true&impID=4189536&src=WNL_mdplsfeat_220425_mscpedit_de#vp_3

... comment