Sonntag, 14. August 2005
Der Neoliberalismus - ein Nachruf
Auch wenn im Zeichen von Hartz IV in Deutschland gerade ein neoliberales Reformpaket ganz hoch auf der Agenda steht, scheint die historische Ära des Neoliberalismus eigentlich gerade vor dem Ende zu stehen. Historische Prozesse scheinen in Deutschland wesenmtlich langsamer anzukommen als im Rest der Welt. In den letzten drei Jahrzehnten wurde neoliberale Politik vor allem in Lateinamerika (namentlich Chile und Peru) praktiziert, sowie in UK seit Thatcher und in ESP unter Felipe Gonzalez (Felipismo), schließlich in der Türkei zwischen Evren und Ciller. Die Reaganomics können eigentlich nicht als neoliberale Politik bezeichnet werden, auch wenn sie mit Deregulierung, Monetarismus und Sozialabbau verbunden waren, denn im Gegensatz zum neoliberalen Glaubensbekenntnis zeichneten sie sich durch extremen Staatsinterverntionismus aus: Gezielte Förderung der Rüstungsindustrie und des Militärisch-Industriellen Komplexes, Hochzinspolitik, Protektionismus. Eigentlich war das ein Militärkeynesianismus mit neomerkantilistischen Zügen. Deutschland unter Kohl kennzeichnete ein ideologisches Bekenntnis zum Neoliberalismus, aber gegen den Widerstand der Gewerkschaften ließen sich nur wenige sozialen Kürzungen realisieren, die Gesundheitspolitik Süßmuths und Blüms hatte eher wohlfahrtsstaatlichen Charakter. Die "geistig-moralische Wende" war primär ein Phänomen des ideologischen Überbaus.

In Südamerika ist der Neoliberalismus gerade am Abkacken: Nachdem man
zweieinhalb Jahrzehnte die Art von angebotsorientierter Politik gemacht hat,
wie sie Hartz und Rürup fordern, sind die meisten Ökonomien dort
zusammengebrochen. Im Augenblick sieht man dort vor allem eine extrem
kämpferische autonome Klassenbewegung: In Argentinien gibt es Fabriken, die
seit drei Jahren von "streikenden" Arbeitern besetzt sind, die die
Unternehmen als enteignet betrachten und die Produktion auf eigene Kappe
weiterführen, die Entwertung der argentinischen Währung hat dazu geführt,
dass die kleinen Leute angefangen haben, ihr eigenes Geld zu drucken, in
Bolivien, wo mein Namenspatron im Augenblick an jeder Straßenecke plakatiert
wird, haben streikende Arbeiter binnen eines Jahres drei Präsidenten
buchstäblich in die Flucht geschlagen (ebenso wie den US-Botschafter), in
Brasilien besetzen die Besitzlosen seit Jahren massenhaft die Plantagen der
Superreichen. Nur, weil der Klassenkampf in Germoney gerade nicht zum
angesagten Zeitgeist gehört, heißt das nicht, dass er nicht weltweit, und
teilweise ziemlich forciert, stattfände. In Südamerika ist sogar ein
entscheidender Schritt gelungen: Weg vom Guerrillakampf, hin zur autonomen
Massenbewegung von unten.

In der aktuellen Ausgabe von Le Monde Diplomatique analysiert Philip S. Golub die aktuelle Situation und kommt zu dem Schluss, dass der neoliberale Staat als Wirtschaftsmodell weltweit ziemlich am Ende ist und die USA unter George W. Bush bereits in eine andere Phase eingereten sind, die des Imperiums (womit er, ohne auf dessen Irrtümer in Details und Schlussfolgerungen einzugehen, prinzipiell Toni Negri folgt). Demzufolge haben wir, da Geschichte sich nicht wiederholt, aber den gleichen Gesetzen folgt, eine ähnliche Situation wie um 1900, als auf eine lange liberale Phase unter Vorherrschaft des British Empire die Zeit des Imperialismus folgte, die mit gesetzmäßiger Zwangsläufigkeit auf den Ersten Wekltkrieg und die nachfolgende Epoche des Faschismus hinauslief. Das Alles könnte demzufolge in modernisierter Form wiederkommen.

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St. Marx, hilf!
Da will man bei der Überschrift frohlocken, und je länger man liest, desto spannender wird es, mit dem letzten Ansatz aber umso finsterer wird die Perspektive. Wenn die Analyse richtig ist, gehen wir dann ja brave times entgegen. Uff!

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