Montag, 15. August 2005
Autonome
Bei der Lektüre des Wikipedia-Artikels zum Thema Autonome http://de.wikipedia.org/wiki/Autonome berührte mich seltsam, dort im Literaturverzeichnins die Namen früherer Mitstreiter und szeneinterner Kontrahenten wiederzufinden. Schade fand ich, dass dieser Beitrag und der Artikel zum Thema Operaismus nicht miteinander verbunden sind, denn beides gehört zusammen. Was mir aber wirklich fehlt, ist die subkulturelle und persönliche Dimension, sind/waren doch die Autonomen eine Gegenkultur wie Hippies oder Punks, freilich mit den verschiedenen subkulturellen Strömungen korrespondierend, wechselwirkend und sich verändernd. So kommt hier denn eine gänzlich subjektive Wahrnehmung der autonomen Szene der 80er und 90er; man mag mir vergeben, dass diese aus biografischen Gründen stark auf die Verhältnisse Göttingens, Bremens und Hannovers bezogen ist.


Die autonome Bewegung in Westdeutschland entstand Anfang der 80er Jahre aus der früheren Spontiszene und hatte unterschiedliche Wurzeln. Zum Einen endete 1981 mit der Fertigstellung des Bauzauns in Brokdorf vorerst die heiße Phase der Massenmobilisierung der Anti-AKW-Bewegung, und es sollte bis Wackersdorf und Tschernobyl dauern, bis diese wieder aufflammte. Gleichzeitig führten grassierende Wohnungsnot und spektakuläre Immobilienskandale (Neue-Heimat-Affäre) zu einem Höhepunkt der Hausbesetzungen in Städten wie Berlin, Hamburg, Bremen, Göttingen, Frankfurt, Nürnberg und Freiburg, die in der Wahrnehmung der damaligen Linken einen direkten Angriff auf das kapitalistische Eigentum darstellten. Hierdurch kam es zu neuen Bündnissen und personellen Neuzusammensetzungen der Szene, aber auch zu einer Rückbesinnung auf antikapitalistische Positionen bzw. das Sich-Auseinandersetzen mit der bürgerlichen Gesellschaft an sich, die in der Anti-AKW-Bewegung etwas vernachlässigt worden war. Das Hochkommen der Friedensbewegung und die Hungerstreiks der RAF eröffneten ein neues, antiimperialistisches Engagement, und mit der Neuen Deutschen Welle änderte sich der Musikgeschmack von Teilen der Szene nachhaltig. Was sich bis etwa 1983 zusammenfand, war ein Milieu, das sich durch folgende Merkmale kennzeichnen lässt:

Im Gegensatz zu den sonst verbreiteten Animositäten von Hippies und Punks vermischten sich bei den Autonomen Elemente beider Subkulturen wie auch der Rocker. Leute in Motorradlederjacken, bunten Streifenjeans oder Tigerleggins und Springerstiefeln, so sahen die typischen Autonomen Anfang der 80er aus, Männer häufig mit langen Haaren und Vollbärten, Frauen eher betont kurzhaarig. Markenzeichen der typischen Autonomen waren außerdem der schwarz-rote Sandinistenstern und die schwarz-weiß gewürfelte Kufaya (das sogenannte Palästinensertuch).

Rationale linke Theorie verband sich mit einem abgefahren-subversiven Humor, der in "Organisationen" wie den Spontilisten Ausdruck fand, die in vielen Studentenparlamenten vertreten waren und Namen führten wie "Die Rebellen vom Liang Shiang Po", LOLA (Liste ohne lästige Ansprüche) und WAHL-Liste (Wahrhaft Alternative Hochschulliste). Die autonome Gegenkultur zeichnete sich durch eine Vorliebe für "harte" Musik (Punk, Heavy Metal), sexuelle Promiskuität und einen oft hohen Alkohol- und Drogenkonsum aus. Im Verlauf der 80er und 90er Jahre änderten sich weniger die politischen Inhalte, aber der subkulturelle Charakter der Szene erheblich. Eine durch das Bekanntwerden von Vergewaltigungen in Szenekreisen ausgelöste und durch Alice Schwarzers PorNO-Kampagne forcierte Sexismusdebatte führten in weiten Szenekreisen dazu, dass die bisherige sexuelle Libertinage in einen rigiden Moralismus umschlug, in dem Heterosexualität oftmals als reines Gewaltverhältnis betrachtet wurde. Parallel wurde Vegetarismus/Veganismus zu einem Thema für weite Teile der autonomen Szene. In den 90ern ernährte sich die Mehrheit der Autonomen vegetarisch, und auch die Ernährungsfrage wurde mit ungeheurer moralischer Rigorosität betrachtet.Ganz generell kann man etwa seit 1989 von einer "Moralisierung" der Szene sprechen, der ursprüngliche suversive Humor wurde bei weiten Teilen der Szene durch einen geradezu fundamentalistischen moralischen Rigorismus ersetzt. Dies steht auch mit einer sozialen Neuzusammensetzung der Szene in Verbindung: Im gleichen Maße, in dem der Anteil von Abkömmlingen von Arbeiterfamilien abnahm, vermehrte sich speziell der der Lehrer- Pastoren- und Professorenkinder, die überwiegend zu Wortführern in der Szene und Trägern des Moralismus wurden. Hinsichtlich der politischen Militanz fand eine starke Fraktionierung statt: Die Einen hielten an behelmten und uniform vermummten Schwarzen Blöcken als genuin autonomer Demonstrationsform fest, die Anderen erklärten dies zu einem "ritualisierten Militanzfetisch".

Das vorherrschende bzw. als hip betrachtete subkulturelle Kostüm der Szene wandelte sich erst vom Lederjacken-Outfit zu Bomber- oder englischen Wachsjacken und schlabbrigen Pluderhosen, dann zu einem Hiphop-Outfit mit Basecap und schließlich zu Adidas-Klamotten, Autonome gehörten auch zu den Trendsettern, was das Aufkommen von Tattoos und Piercings angeht.

Für eine in der Szene hochangesehene Minderheit, der ich auch angehörte, war die politische Philosophie des Operaismus Angelpunkt des eigenen politischen Denkens, angereichert mit Elementen der Kritischen Theorie und dem sogenannten Neuen Antiimperialismus, einer Spielart antiimperialistischer Theoriebildung, die die Fixierung auf marxistische Guerrillabewegungen und den dogmatischen Antizionismus der klassischen Antiimperialisten nicht mitmachte. Für andere Gruppierungen waren der Marxismus-Leninismus, Anarchismus, Feminismus oder auch eine Mischung aus Elementen fernöstlicher Zen-Bushido-Kampfethik, Veganismus und Sharp-Skin-Gedankengut ausschlaggebend.

Als ich mich Ende der 90er aus der Szene verabschiedete, hatte sie mit dem Milieu, das ich aus den 80ern kannte, nur sehr wenig gemein.

Gute Filme zum Thema:

Im Herzen Eiszeit

Der Traum ist aus

Was tun, wenn´s brennt?

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