Dienstag, 7. Januar 2014
BILD-Zeitung, Du enttäuschst mich!
Zu einem Ereignis der letzten Tage hätte ich in Dickrot die Schlagzeile erwartet: DIE KANZLERIN IST GESTÜRZT!

Bitte aus der eigenen Vergangenheit lernen.Danke.

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Freitag, 27. Dezember 2013
Das zu sagen war einmal nötig - zum realen Wahnsinn virtueller Kommunikationsblasen
Ich zitiere mal Kadda" Nun gibt es also aber eben diese Empöria und die sucht sich immer neue Betätigungsfelder und Methoden, um maximaler Beschämung und Denunziation zum Zwecke des eigenen besserwohl-Fühlens ausüben zu können. Legendär wurden vor exakt einem Jahr die sogenannten Creeper Cards auf dem 29C3. Und dieses Jahr sollen wir nicht ohne ein Weihnachtsgeschenk aus dieser Ecke ausgehen: Man richtete nun einen Account auf twitter ein, der einander "empfiehlt", bestimmte Leute auf twitter "präventiv" zu blocken, bevor diese mit schlimmen, pöhsen und - worst case! - der eigenen Ansicht widersprechenden tweets in Timeline oder gar Mention-Spalte auftauchen.

We perfectionized our denunziation tools! Yay!

und dieser sympathische Account empfiehlt nun also, Maike von Wegen zu blocken. Weil diese sich dafùr einsetzte, dass man für eine politisch zweifelhafte Petition NICHT zuallererst auf den Betreibern des Petitionsdienstes herumhackt. Das ganze kann in der Debatte um folgenden tweet nachvollzogen werden:

https://mobile.twitter.com/blockempfehlung/status/416213620536520704

es geht also um saubere Timelines für Leute, deren Leben sich derart auf twitter eingeschossen und zentriert hat, dass man es scheinbar nicht mehr aushält, in diesem öffentlichen Kommunikationsmedium mit Andersdenkenden konfrontiert zu werden.

Mein Punkt ist: ja, dieser Account namens Blockempfehlung ist grotesk lächerlich. Was müssen das für traurige Gestalten sein, die ihre eigene Bedeutungslosigkeit mit solchen Maßnahmen aufpimpen müssen. Mich erinnert das an meinen Nachbarn, der nie Gesellschaft - also Freunde zu Besuch hat - und der mir für die vor meiner Wohnungstüre stehenden Stiefel droht. Das sollte man in der Regel alles - wie sagt man so schön: Nicht mal ignorieren.

Nein - das Problem sind nicht die einzelnen Nachbarn, im Treppenhaus oder im Stream der Belanglosigkeiten. Das Problem ist diese Weltlosigkeit, die ich als um sich greifendes Phänomen jenseits von Einzelfällen wahrnehme. Weltlosigkeit - ein Begriff von Hannah Arendt und ich habe einen Draft in diesem Blog begonnen, in dem ich diesen Begriff ausführlicher beleuchten will. Das kommt noch, wird nachgeliefert. Aber ich will es trotzdem kurz erklären: bei Hannah Arendts Weltbegriff geht es um die gemeinsam von Menschen geteilte öffentliche Welt. Da geht es um Austausch und Pluralismus. Um das Miteinander im Denken und im Handeln. Es ist eine Art große Agora, wie die Griechen sie kannten. Und wozu ist sie gut? Sie ist ein politischer Raum, der dazu da sein sollte, ein Miteinander von Menschen zu ermöglichen. Dafür braucht es Kommunikation und Diskurs. Weltlosigkeit ist eine Verweigerung. Sie ist ein Statement gegen die gemeinsame Welt und für Arendt die Wurzel des Totalitären. Ein Abschotten. Und ich reagiere mittlerweile extrem empfindlich darauf, denn sie scheint angesichts der - verständlicherweise - überfordernden Komplexität sehr verlockend. Ansteckend.

Sie zeigt sich immer dann, wenn eine Person daherkommt und ganze zusammenhänge implodieren. Es ist nie nur die Schuld dieser einzelnen Person. Es ist das Phänomen derr Ansteckung anderer, die plötzlich überall den Feind sehen. Es ist der Spirit des gegenseitigen Misstrauens, der Denunziation. Man beäugt die anderen nicht mehr als Teil der eigenen Welt, in der man sich wie die anderen als Menschen unter Menschen sieht, sondern nur noch auf mögliche Verfehlungen hin. die sofort angeprangert gehören. Man will in seinem Feminismus dann keine Leute mehr, die Critical Whiteness hinterfragen. Man will die "reine Lehre". Man will seinen Stoff gefälligst ohne die störenden Sandpartikel im Getriebe. Auch wenn man ansonsten Sand im Getriebe total geil findet - aber nur, wenn man es selbst sein darf. und nur, wenn das widerspruchsfrei bleibt.

Weltlosigkeit ist keine Lappalie, sie ist der Anfang von Extremen und hat zerstörerische Kräfte. und deswegen weiß ich einfach nicht, ob ignorieren als Umgang damit wirklich noch reicht. Vielleicht könnten wir das mal debattieren"


Mehr davon auf dem Blog von Kadda:


http://blog.katrin-roenicke.net/?p=2774

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Dienstag, 17. Dezember 2013
Hinterland 24 erschienen
Hinterland #24: Sprache

inklusive Fim DVD
Leben verboten
ein Film von Mathias Fiedler und Astrid Nave
über die Lebenssituation von Flüchtlingen
in Deutschland

(88 Seiten, 4,50 €)

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außerdem im Heft:

Pictures of Protest…
eine Fotostrecke über die Proteste in Ägypten von 2011

Hart an der Grenze…
die Situation für Flüchtlinge in Bulgarien

Landung im Libanon…
Eindrücke aus den syrischen Flüchtlingslagern

außerdem im Heft
Impressionen aus Kairo und dem Libanon
Die Situation für Flüchtlinge in Bulgarien
„Leben verboten“ als Filmbeilage

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Mit Beiträgen von: Hubert Heinhold, Alena Thiem, Matthias Weinzierl,
Lisa Doppler, Friederike Vorwergk, Tunay Önder, Andrea Böttcher,
Annika Bottanni, Bernd Schmidt, Birgit zur Nieden, Tobias Klaus,
Tom reiss, Farida heuck-Yoo, Juliane Kanitz, Phil Zéro, Eva Baghl,
Manuela Sessler, Agnes Andrae, Nikolai Schreiter, Matthias Fiedler

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Liebe Leserinnen und Leser,

Schwerpunkt der Winterausgabe ist „Sprache“. Es wurde auch wirklich Zeit, dass wir uns diesem großen Thema mal annehmen. Denn begegnen uns nicht alltäglich in Medien, Politik und vor der Haustür Aussagen, die Sprache als „den Schlüssel“ zur „Integration“ (> siehe Glossar nerviger Begriffe) begreifen? Ohne die Beherrschung der hiesigen Hochsprache scheint da nicht viel zu gehen, und so ist Sprache nahezu zum Gradmesser der leidigen Debatte geworden. Vehement wird sie eingefordert von allen, die hier länger leben wollen. Und wehe, es zeigt sich nicht genug Bemühen; dann wird die Sprache schnell zum Beweis für fortdauernde „Integrationsunwilligkeit“ (> Glossar).

Dabei ist es leider keinesfalls so, wie gerne suggeriert, dass, wer die Sprache beherrscht, automatisch mitreden kann. Also, lassen wir uns nicht lumpen: Sprache ist zweifelsohne wichtig, denn sie dient der täglichen Verständigung. Aber eine Sprache zu lernen, lohnt sich vor allem dann, wenn sich damit Austausch und Perspektiven verbinden. Daran könnte die Politik noch arbeiten. Und eigentlich leben wir doch schon längst in einer mehrsprachigen Gesellschaft, oder?

In diesem Heft findet ihr nicht nur Beiträge zu Sprachkursen, Nationalsprache oder Sprachmauern, sondern auch zu gendergerechter Sprache, bilingualen Beziehungen und zur Sprache der Architektur sowie ein umfangreiches Glossar zu den wirklich dööfsten Begriffen der deutschen Asylbürokratie (> und schon wieder einer!).

Weil das Thema Körpersprache leider ein bisschen kurz kommt, haben wir noch ein paar Fotos gemacht und einen Film beigelegt. Zur Sprache gäbe es natürlich viel mehr zu sagen – vielleicht irgendwann bei „Sprache 2“?

Also, schnappt euch Plätzchen und Heißgetränke und habt viel Spaß mit der neuen Hinterland-Ausgabe!

Eure Redaktion

PS: Die nächste Ausgabe zum Thema Asylpolitik bringen wir zusammen mit der geschätzten iz3w heraus.
Wir freuen uns schon!


Eure Hinterland-Redaktion



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Bestellen und vorschmökern!
unter www.hinterland-magazin.de

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Freitag, 6. Dezember 2013
Assange - Kadda sagt wie es ist
Wunderbar wohltuend rationaler und ausgewogener Beitrag, das hier:


http://blog.katrin-roenicke.net/?p=2731

edit.:


Und Netbitch dann noch mal auf ganz andere Weise:


http://netbitch1.twoday.net/stories/572462238/

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Mittwoch, 14. August 2013
Eine Art von Rezension – Queer_Feminismus. Label und Lebensrealität von Leah Bretz und Nadine Lantzsch
Wenn ich hier „Eine Art von Rezension“ schreibe hat das seinen guten Grund. Dies ist nicht nur eine Rezension, sondern stellt vielmehr einen Abgleich des Büchleins mit eigenen Erfahrungen aus linken emanzipatorischen Zusammenhängen dar, weil vieles, was die Autorinnen schreiben, mir fremd und doch gleichzeitig vertraut vorkommt und sich außerdemingens Synergien und Synchronizitäten zu dem ergeben, was Alter Bolschewik parallel auf Shifting Reality behandelt. Auch bei der Netbitch sind verwandte Themen und Fragestellungen verschiedentlich aufgetaucht. Fragwürdigen Erwartungshaltungen von Maskulinisten, Verschwörungstheoretikern oder Blogschlachtenbummlern möchte ich gleich eingangs eine Absage erteilen: Es geht mir nicht um ein Aufrechnen alter Konflikte mit Dritten oder Dritter mit den Autorinnen, die ich nicht kenne und gegen die ich nichts habe. Sondern es geht um den Gegenstand an sich, und das ist zwar die Materie Queerfeminismus, aber zunächst mal ein singuläres Buch.

Meine Erwartungshaltung als ich mit dem Lesen begann hatte zuförderlichst einmal darin bestanden, erläutert zu bekommen, worin sich Queerfeminismus von Feminismus im Allgemeinen unterscheidet, inwieweit queerfeministisches Denken in sonstiges feministisches Denken eingebettet ist, ich hatte eine Art Bestandsaufnahme des radikalen feministischen Denkens auf dem Status quo von jetzt erwartet. Diese Erwartungen erfüllt das Buch in keiner Weise. Schon formal fühlte ich mich etwas vor den Kopf gestoßen.

Bei Büchern, die von politisch aktiven Menschen über die eigenen politischen Inhalte geschrieben werden sind vor allem zwei Darstellungsformen üblich und verbreitet: Autobiografien bzw. Erlebnisberichte, die das eigene politische Denken und Handeln narrativ aus der eigenen Vita ausbreiten und zum anderen theoretische Arbeiten im engeren Sinne, die einen politischen Denkansatz aus der politischen Entwicklung und Rezeptionsgeschichte her darstellen. Nichts von Beidem geschieht hier, nach kurz abgerissenen Lebensläufen der Autorinnen wird hier fast übergangslos mitten in die Sache gesprungen. In einer nicht-erzählerischen, wissenschaftlichen Abhandlung eines politologischen Themas ist eine bestimmte Vorgehensweise normalerweise strikt vorgegeben: Eine einleitende Erläuterung des Themas, ein Abriss des bisherigen Diskussionsstandes und der wesentlichsten Kontroversen in der Diskussion und eine Abgrenzung des eigenen Ansatzes von den anderen, ehe vertieft zur Sache gegangen wird. Nichts davon findet statt (außer in ein paar lapidaren Sätzen über ein paar Seiten, wo es um hegemoniale Geschichtsschreibung und queere und antirassistische Gegenpositionen geht, dazu gleich noch mehr), als Leser muss ich raten oder aus der sonstigen Beschäftigung mit feministischer Theorie zwischen den Zeilen ableiten, worin sich Queerfeminismus von sonstigem Feminismus unterscheidet oder wie Queerfeminismus entstanden ist.

Noch nicht einmal ein abstracts, das eingangs die Kerngedanken zusammenfasst, Grundvoraussetzung der Veröffentlichung eines Aufsatzes in einer StudentInnenzeitschrift, ist vorhanden. Teilweise sehr provokante Positionen der Autorinnen, die auch im Widerspruch zu anderen feministischen oder antirassistischen Haltungen stehen werden nicht durch Quellenbelege, Zitate oder Sekundärtexte belegt, sondern einfach apodiktisch behauptet. Das ganze Büchlein kommt ohne Fußnoten aus. Auch das schmale Literaturverzeichnis am Ende, das einen Überblick über für das Buch relevante queerfeministische und antirassistische Literatur geben will bewegt sich ausschließlich innerhalb der eigenen Filterblase, Klassiker wie „Das Unbehagen der Geschlechter“ aka „Gender Troubles“, „Jenseits der Macht, „Strange fruit“ ….. fehlen komplett. An keiner mir bekannten Fakultät hätte ein solches Buch irgendeine Chance, als schriftliche Arbeit überhaupt zugelassen zu werden, da es rein handwerklich jegliche wissenschaftliche Arbeitsweise vermissen lässt.

Auf fast jeder Seite schrieb ich bei meiner anfänglichen Lektüre gleich mehrmals „Beleg?“ an den Seitenrand.

Gewöhnungsbedürftig, aber ambitioniert und interessant ist der Sprachstil der Autorinnen, Sprachdekonstruktivismus im besten Saussureschen Sinne, mit dem die Gewordenheit und gesellschaftliche Bedingtheit und Machtabhängigkeit von Begrifflichkeiten sehr schön verdeutlicht wird. So heißt es: „durch… hierarchisierungen verschiedener sprach_handlungen werden eurozentrische, weiße und akademisierte diskurse naturalisiert und normalisiert. sie werden also als „natürlich, ursprünglich, unveränderlich, vorgängig“ vorausgesetzt und diese herstellung weder als machtvoller prozess wahrnehmbar gemacht, noch als herstellung benannt…. sprach_handlungen scheinen lediglich in schriftlicher form vermittelbar, was wiederum ableismus, also diskriminierung_en, die aufgrund von zugeschriebenen, konstruierten und naturalisierten körperlichen und psychischen „fähigkeiten“ erfolgen, re_produziert“ S. 10. ff.

(Anm. d. Verf.: hier habe ich echt etwas dazugelernt, bisher bedeutete Ableismus für mich schlicht ein Synonym für Behindertenfeindlichkeit.)

Damit erfolge „Wegnennung“ von Quellen und somit, in fast allen genealogischen Erzählungen, eine Art zwangsläufiger Geschichtsklitterung. Bis zu diesem Punkt kann ich den Autorinnen sehr gut folgen und auch zustimmen, ich hatte ja selbst in der Auseinandersetzung mit Neuen Rechten einerseits und Wirtschaftsliberalen andererseits erlebt, wie bestimmte emanzipatorische Gedanken gar nicht mehr formulierbar gemacht werden sollen. Dann allerdings verlassen die Autorinnen den Boden der empirisch nachvollziehbaren Darstellung feministischer Geschichtsschreibung, wenn es heißt“ „wir möchten transparent machen, wie wir mit unserer queer_feministischen praxis in bezug zu verschiedenen geschichten und genealogien stehen….wir wollen die begriffe nicht ihren kontexten entreißen und mit völlig anderen be_deutungen füllen, weil wir verantwortung übernehmen, wenn wir bestimmte begriffe über_nehmen. es gibt allerdings nicht_die-erzählung von queer_feminismus. das wellenmodell lehnen wir als form der erzählenden einbettung feministischer geschichte ab, weil die eurozentrierenden, weißen, heteragegenderten und ableisierten normen dieser hegemonialen geschichtsschreibung bis heute kaum hinterfragt werden und damit ein großer teil feministischer geschichte, konflikt- und tradierungslinien sowie inhalte entmerkt und weg_genannt werden.“

Und hier schreit es bei mir geradezu: „Wo ist der Beleg?“. Dass die Standardinterpretation der Realität in einer heteronormativen Gesellschaft heteronormativ ist und dass weiß-männlich-heterosexuell noch immer das alles andere dominierende Muster ist lässt sich nicht abstreiten, dass queere und speziell lesbische Lebensrealítität permanent ausgeblendet wird („weggenannt“) auch nicht. Aber dies ausgerechnet an der Gschichtsschreibung festzumachen und dieser zu unterstellen, all die Thematiken, die sich aus der Wahl einer anderen Perspektive als whm ergeben zu unterdücken ist schon weit mehr als fragwürdig. In einschlägigen Zeitschriften wie Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis werden solche Fragestellungen sehr wohl diskutiert, und zwar kontinuierlich seit einer Zeit, als beide Autorinnen noch zur Grundschule gingen, gerade die Geschichtswissenschaft hat dem Dekonstruktivismus in der Tradition Bourdieus und Foucaults in Deutschland zum Durchbruch verholfen, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, Körpergeschichte, Umweltgeschichte sind längst im Mainstream angekommen. HistorikerInnen wie Karin Hausen, Maria Mies, Gerburg Treusch-Dieter, Adelheid von Saldern, Rebecca Habermas, Doris Kaufmann und Karl-Heinz Roth haben sehr viel dazu beigetragen, dass die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, des Waschens, der Hygiene, die mündlich überlieferte Geschichte der nicht schreibenden Unterschichten (oral history), die Geschichte sozialer Protestbewegungen und die Entwicklung von Geschlechtsrollen-orientierungen im Wandel der Zeiten für wichtiger oder zumindest genauso wichtig angesehen werden wie die offizielle Politik- und Staatsgeschichte, die in ihrer Reinform nur noch an inselartigen besonders konservativen Fakultäten in der Geschichtsforschung wie Bonn oder München vertreten wird. Dieser Paradigmenwechsel vollzog sich im Verlauf der Achtziger und Neunziger Jahre.

Die an die Gendertheorie anknüpfende Alltagsgeschichte wurde schon in den Achtzigern vom damaligen Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte vertreten. Mehr Establishment geht nicht.

Was die „weiße“ Geschichtsschreibung angeht erwähne ich die dem MPI nahestehende wichtige Zeitschrift Historische Anthropologie, in der nicht nur Beiträge von AutorInnen aus allen Weltregionen publiziert und solche mit definitiv antirassistischen Stoßrichtungen veröffentlich werden, sondern solch wunderschöne Provokationen wie die Beiträge von Gananath Obeyesekere, in denen er süffisant kolonialrassistische Stereotypen umdrehend sich durchaus wissenschaftlich ernsthaft damit beschäftigte, dass „der sogenannte Kannibalismus der Maori“ sich in Wirklichkeit nur auf den „Konsum von Europäern beschränkt“ habe und damit zu einem Zeitpunkt, als Frankreich gerade das Mururoa-Atoll in die Luft sprengte in der sog. „Südsee“ einen Cannibal-Chic auslöste. Die hegemonisierende, weiße, männliche Geschichtsschreibung ist innerhalb der Geschichtswissenschaft selber längst schon Geschichte geworden.

Im Sinne der Operationalisierbarkeit verschiedener Ansätze zum geeigneten Zeitpunkt im Rahmen postmoderner Philosophieauffassung folgerichtig, in der konkreten Form allerdings völlig ahistorisch wird es dann an dieser Stelle: „es gibt nach unserem verständnis keinen „ursprung“ von queer, genauso wenig wie es eine trennung von theorie und praxis gibt. es gibt lediglich verschiedene erzählungen, die je nach sozialer position für e_inen selbst im verborgenen liegen und die erst be_nannt werden müssen, bevor sie denk- reflektier-und verhandelbar sind.“


Damit sind wir einerseits beim zu ergründenden inneren Selbst, dessen Existenz von Foucault vehement abgelehnt wurde, andererseits jenseits jeder historisch entstandenen Entwicklungslinie. Im Folgenden nehmen die Autorinnen dann eine Unterteilung sexistischer Strukturen in verschiedene Kategorien vor, der ich wieder im Wesentlichen zustimmen kann (Kategorialgenderung, Androgenderung, Zweigenderung, Ciscgenderung, Heteragenderung und Reprogenderung), um dann allerdings zu einem Punkt zu kommen, den ich als intellektuellen Schuss ins eigene Knie bezeichnen würde: „über die verwendung des begriffs klassismus sind wir uns nicht sicher und auch nicht in allen aspekten einig. was ist eigentlich gemeint mit dem begriff? wer benutzt den begriff wie, in welchem kontext, mit welcher positionierung? sind damit (nur) ökonomische verhältnisse gemeint? was ist mit habitus? nicht teilhabe an bildung? der klassistischen ab_wertung von körpern, kultur, sprache, verhaltensweisen? muss ich mich auf marx beziehen, wenn ich klassismus thematisieren will?“ (S.17). Es klingt jetzt vielleicht gemein, aber bei dieser Passage fing eine alte Genossin von mir, ehemalige Emma-Mitstreiterin, lauthals zu lachen an. Eine derartige Offenbarung von „keine Ahnung“ in einem Buch, das sich als feministische Theorieschrift versteht ist schon beachtlich.

In der Traditionslinken wie in der Frauenbewegung ist der Zusammenhang zwischen Klasse und Patriarchat eigentlich klar, und abgesehen von obsoleten Diskussionen um Haupt- und Nebenwidersprüche recht eindeutig gefasst. Männliche Dominanz- und Besitzverhältnisse sind demzufolge historisch zwangsläufig miteinander verknüpft. Am Anfang des Patriarchats steht die jungsteinzeitliche Revolution, in deren Verlauf Männer sich den Besitz des Landes und des Viehs, die Kontrolle über die Waffen und über die Reproduktionsarbeit bzw. Arbeitskraft überhaupt der Frauen sicherten. Jede gesellschaftliche Formation seither kommt nicht ohne die Reproduktion ungleicher Besitz-und Geschlechterverhältnisse aus. Das ist so ganz grob die Matrix, die den Hintergrund sowohl marxorientierter als auch klassisch-feministischer Ansätze bildet (Klassiker: Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Bebel, Die Frau und der Sozialismus, de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Schwarzer, Der Kleine Unterschied und seine großen Folgen, mit den Themen aus den letzten Zeilen aus dem Zitat beschäftigte sich Bourdieu in "die feinen Unterschiede"), wenn das noch nicht einmal mehr gewusst wird eröffnet sich allerdings ein Abgrund an Desinformiertheit bei Leuten, die den Anspruch haben, Andere zu informieren.


http://de.wikipedia.org/wiki/Dreifachunterdr%C3%BCckung



Überhaupt scheinen den Autorinnen die Verknüpfungen von Diskriminierung-Marginalisierung-Sexismus-Rassismus und Ökonomie nicht klar zu sein, dann fehlt es allerdings an den Grundlagen der eigenen theoretischen Verortung. Und da die Diskriminierung marginalisierter Gruppen ohne sozioökonomische Theorie gedacht wird werden unterschiedliche Diskriminierungsverhältnisse aneinander gereiht bzw. unterschiedslos nebeneinandergestellt, neben Sexismus, Rassismus, „Klassismus“ und Homophobie z.B. Ableismus, Diskriminierung von Dauersingles ohne Partnerbeziehungen oder von Dicken.

Eine Perspektive von revolutionärer oder auch reformistischer Überwindung bestehender HERRschaftsverhältnisse haben die Autorinnen nicht, es geht ihnen vielmehr um die Einnahme der richtigen Haltungen und von punktuellen, situationsgebundenen „Interventionen“ gegen Dominanzsstrukturen. Bei Intervention würde ich als aktionsorientierter Linker nun an Frauen-schlagt-zurück-Vergewaltiger-wir-kriegen-euch-Aktionen, Notruftelefone oder Blockaden gegen Abschiebungen denken, aber auch das scheint wiederum nicht gemeint zu sein, sondern in erster Linie Sprechakte: hierarchisierte Verhältnisse und Privilegien verbal oder symbolisch sichtbar zu machen.

„wir begreifen jede form von denken_erleben_fühlen_sprechen_schreiben bereits als handeln, es gibt keine nicht-handlungen und keine prozesse, zustände oder gedanken, die einer handlung vorgängig sind. Somit ist eine gesellschaftliche struktur kein „fester“ zustand, sondern eine permanente handlung, wird durch handlungen hergestellt, gefestigt und aktualisiert…. Rund um den begriff handeln_handlung würde es sich im rahmen dieses buches anbieten, sich den begriffen „aktivismus“, „widerstand“, kampf“ und „bewegung_en“ w_ortend zu nähern. Wir haben uns gegen die verwendung und w_ortung dieser begriffe entschieden. Einerseits weil diese begriffe erneut hierarchisierungen zwischen handeln als aktivem „tun“ und nicht_handlungen generieren und somit ableismus re_produzieren. Andererseits weil sie in ihren konventionalisierten verwendungen nicht in gänze er_fassen, wie wir diese begriffe deuten. sie ziehen inhaltliche grenzen, wo wir keine sehen und hierarchisieren interventionen in diskriminierende strukturen und diskurse entlang einer entnannten androgegenderten_weißen_ableisierten norm.“ (S. 21 ff.) Manche Progressiven sind halt in erster Linie wortschrittlich.

Von der ersten und zweiten Generation der Frauenbewegung fühlen die Autorinnen sich nicht vertreten und konstatieren, dass diese auch nichts mit queeren Inhalten zu tun habe, sondern vor allem die Interessen heteroexueller weißer Frauen formuliert hätten. In Anbetracht der Tatsache, dass dazu die immer zum großen Teil aus Lesben bestehende Emma-Redaktion und gemischte hetera-lesbische Frauenzusammenhänge zu rechnen sind, die im Gegensatz zu Bretz und Lantzsch in strategischen Bündnissen und pragmatischer Arbeit denken und handeln wird dies der Sache nicht ganz gerecht, denn damit wird auch der sehr relevante Anteil queerer Frauen innerhalb der allgemeinen Frauenbewegung unterbelichtet. Unter dem Begriff „Umverteilung ohne Anerkennung“ wird von Privilegierten, z.B. Heten oder Männern erwartet oder verlangt, zugunsten von Marginalisierten zurückzutreten und Unterstützungs- oder Reproduktionsarbeit wahrzunehmen, den von Marginalisierung Betroffenen aber die SprecherInnenposition zu überlassen. Das finde ich gut, es ist aber nicht neu.

Aus meiner Biografie in linken Gruppierungen kenne ich die Herangehensweise, dass die Schüchternen, die Stotternden, die MigrantInnen usw. aufs Podium gehen oder die Texte schreiben oder vortragen sollen als eine Selbstverständlichkeit. Wenn das heute nicht mehr so ist – ich kann aus eigener Erfahrung nur über Leute sprechen, die ihre Sozialisation in links-emanzipatorischen Gruppen in den 1970ern, 80ern und 90ern erlebt haben und wenn heute noch aktiv so von den Youngsters abgeschnitten sind – dann dokumentiert dies, was eine emanzipatorische Bewegung alles an selbstverständlicher Kultur und selbstverständlichem Wissen inzwischen verloren hat. Oder aber es dokumentiert nur den Binnenhorizont einer kleinen Subkultur, so etwas kenne ich ja auch aus eigenem Erleben. Über den Theoriestand des Queerfeminismus habe ich aus dem Buch so gut wie nichts erfahren.

Btw. Moralisten sind Menschen, die sich dort kratzen, wo es Anderen juckt (Samuel Beckkett).

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Donnerstag, 25. April 2013
Ein paar ganz interessante Überlegungen zum Thema Critical Whiteness
finden sich bei Momorulez.

http://metalust.wordpress.com/2013/04/25/critical-whiteness-wieso-eigentlich-diese-ganzen-diskussionen/


Von zentraler Bedeutung ist das hier:

@“Ich war nun aber gar nicht in der Lage, irgendwelche Schuldgefühle zu entwickeln oder Selbstgeißelungen auszuüben. Vielmehr knüpfte das einfach aus mir aus den späten 80ern wohl vertraute Euro- und Ethnozentrismusdiskussionen an. Und ich kenne eben auch gut das Markierungsgeschehen rund um “schwul”; eine Teilanalogie.
Insofern konnte ich das weniger als “Positionierungsterror” erleben noch als irgendwas, was ich nun zu verantworten hätte. Es ist doch vielmehr die im Grunde genommen (das wird mir jetzt vorgeworfen werden, weil es wirkt, als würde ich andere benutzen, denke ich ja auch drüber nach, ob das so ist) unglaublich entspannend, nun nicht ständig in die männliche Selbstbehauptung als Alleserklärer oder Vertreter des Allgemeinen sich begeben zu müssen, sondern einfach mal zuzuhören. Und eben darauf zu reflektieren, wo “White Supremacy” im eigenen Denken und Handeln wirkt, was für politische, historische, geistes-, kultur und kunstgeschichtliche Vorraussetzungen in all dem, was ich studierte und lernte, wirkten, noch bei jenen, die sehr kritisch dachten wie Michel Foucault zum Beispiel.
Der “PoC”-Begriff, der allerdings auch in diesem Blog und von meiner Seite dummerweise zum Gegenteil führte, hat ja zunächst den Zweck, diese Kategorisierungen und Katalogisierungen wie der Insektenarten Nicht-Weißer durch Weiße zu unterbrechen und somit gar nicht, nun wieder andere zu markieren, sondern heraus zu stellen, wer normalerweise kategorisiert und wie er da tut. Das richtet den Scheinwerfer wohl verstanden auf das, was Herrschaftspraxis Weißer über Andere ist.
Das ist nämlich ein Riesenschritt in die Freiheit, das zu erkennen – die der Anderen UND die eigene. Eine Freiheit des Denkens, des Zuhörens, des Nicht-Verteidigenmüssens, des Geschehenlassens und vor allem auch dessen, die Wut Anderer auszuhalten, selbst wenn man individuell für die eigenen Priviliegien nichts kann. Weil es dieses Recht auf Wut Marginalisierter gibt, steht ja auch im verlinkten Text, einfach gibt. Und es geht da auch nicht nur um “Moralisierung”, sondern um Wahrheit und auch Funktionsweisen in der Ökonomie.“ -----

Mal abgesehen davon, dass Momos Leitmotiv „männliche Selbstbehauptung als Alleserklärer oder Vertreter des Allgemeinen“ zwar mal Ausgangsposition feministischer und poststrukturalistischer Gesellschaftskritik war, nach 45 Jahren Neuer Frauenbewegung in der BRD und 25 Jahre nach dem Einzug feministischer Positionen in alle relevanten linken Diskurse aber dort heute keine Rolle mehr spielt, allenfalls als Rückzugsposition einer gestrigen Minderheit teile ich seine Standpunkte zum Zuhören und dem damit verbundenen Schritt in die Freiheit durchaus. Dass er mit Schuldgefühlen und Selbstgeißelungen nichts anfangen kann ist für einen antirassistischen Schwulen, der keine Binnenerfahrungen aus sich als konkrete Lebensgemeinschaften verstehenden subkulturellen linksradikalen Gruppen hat verständlich, verkennt aber deren interne Gruppendynamiken. Nicht das Konzept der Critical Whiteness selber ist da das Problem, sondern wie diese für soziale Hierarchisierungen und Machtkämpfe mißbraucht und instrumentalisiert wird. Auf dem Nobordercamp hielten nicht etwa marginalisierte PoC weißen, heterosexuellen männlichen Paternalisten, die die Antiraszene dominieren würden qua Aktionstheater einen Spiegel unter die Augen, sondern Angehörige einer vor allem aus sehr jungen und sehr akademischen Leuten bestehenden Gruppe platzten in eine aus untereinander solidarischen, gemischt aus weißdeutschen, migrantischen und geflüchteten Zusammenhängen bestehende seit Jahrzehnten gewachsene Struktur hinein und versuchten diese im Tonfall des Niederschreiens zu dominieren. Und das wiederum ist symptomatisch für eine Unkultur, die es seit dem Auseinanderbrechen der APO gibt. Ob das nun dogmatischer Marxismus-Leninismus war, das Verhältnis zur RAF und zu „den Gefangenen“, fundamentalistisches Ökotum, diverse Feminismen, ein Antifa-Konzept, das die BRD kurz vor der faschistischen Machtübernahme sah, Veganismus, Straight Edge (eine Verbindung aus Antikapitalismus und einer No-Drugs-No-Alc und z.T. auch No-Sex-Moral) und aktuell ein Andocken an in anderen Ländern und anderen Zusammenhängen durchaus sinnvollen Queer-Feminismus oder CW-Diskursen: In vor allem studentisch geprägten deutschen Subkulturen fungiert das seit 1969 immer wieder als gruppendynamische Struktur vor einer moralfundamentalistischen Matrix, die mit den vertretenen Inhalten nur bedingt etwas zu tun hat. Dafür aber sehr viel mit denm Erstreiten von Machtpositionen, Distinktionsvorteilen, Rechthaben und allgemein postpubertärem sich Durchsetzen.


Feministische, antirassistische, antikapitalistische Gesellschaftskritik hat immer ihre Berechtigung, sie wird aber in relevanten Zusammenhängen der linksradikalen Szene in der BähRd regelmäßig zur Selbstreproduktion szeneinterner Machtstrukturen benutzt. Da hat Hartmut Finkeldey schon Recht: Es sind Zerknirschungsrituale, die da eingefordert werden. Schon 1991 hatten Leute wie Tuc, Netbitch, der Held der Arbeiterklasse, Frau Nullzeitgenerator, der Coach und ich dem einen grob-sarkastischen NON-PC-Humor entgegengesetzt, der die Political Correctness der Moralspacken angriff, aber keineswegs die Inhalte selber meinte, sondern die praktizierte Moral. Das ist immer noch Thema.

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Mittwoch, 14. November 2012
Für einen unabhängigen Brandgutachter! Wahrheit und Gerechtigkeit für Oury Jalloh!
Bitte großflächtig weiterverbreiten, auch in sozialen Netzwerken! Bitte die aktuelle Erklärung der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh zum bevorstehenden Ende des Revisionsprozesses in Magdeburg beachten!



700 x 50 Euro als Spenden gesucht!


Für einen unabhängigen Brandgutachter!

Wahrheit und Gerechtigkeit für Oury Jalloh!


Am 7. Januar 2005 ist Oury Jalloh im Polizeirevier Dessau bei lebendigem Leib verbrannt. Bis heute ist nicht geklärt, was an diesem Tag in Zelle Nr. 5 tatsächlich geschehen ist. Während Verwandte, FreundInnen und die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh von Mord sprechen, wurde im ersten Prozess gegen zwei Polizisten lediglich Anklage wegen „fahrlässiger Tötung“ bzw. „fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge“ erhoben. Der Prozess endete mit einem Freispruch, obwohl sich PolizeizeugInnen in eklatante Widersprüche verwickelt hatten. Am 7. Januar 2010 kassierte der Bundesgerichtshof in einer spektakulären Entscheidung das Urteil des Dessauer Landgerichts. Der Fall wird nun seit zwei Jahren vorm Landgericht Magdeburg neu verhandelt.


Bis heute fußt die Klage der Staatsanwaltschaft auf der Annahme, dass Oury Jalloh trotz Fixierung an Armen und Beinen mit einem Feuerzeug seine feuerfeste Matratze selber angezündet habe. Das fragliche Feuerzeug ist jedoch erst zwei Tage nach dem Brand aufgetaucht. Zudem wurde bei einer erneuten Untersuchung dieses Feuerzeugs ganz klar festgestellt, dass es sich zur Brandzeit nicht am Brandort befunden haben kann. Denn es weist keinerlei Materialspuren der Matratze oder der Kleidung von Oury Jalloh auf. Mit diesen hätte es aber verschmolzen sein müssen. Ebenfalls verschwunden sind die Videobänder von der Durchsuchung der Zelle, hinzu kommen weitere Ungereimtheiten aus jüngster Zeit..


Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hat daher einen bekannten Brandgutachter gebeten, in einem unabhängigen Gutachten zu klären, wie das Feuer entstanden ist und welchen Verlauf es genommen hat. Denn für die Verwandten von Oury Jalloh genauso wie für die Oury Jalloh-Initiative, für die Black Community (nicht nur) in Deutschland und für alle, die in einer Gesellschaft ohne Rassismus und Diskriminierung leben möchten, ist es von allerhöchster Bedeutung, die Wahrheit über den Tod von Oury Jalloh ans Licht zu bringen und Klarheit über strukturellen Rassismus insbesondere in deutschen Polizeistationen zu erlangen. Einziges Problem: Ein solches Brandgutachten ist sehr teuer – insgesamt 40.000 Euro. Nicht nur, weil es erforderlich ist, die Zelle nachzubauen, auch Matratzen und andere Materialien müssen angeschafft werden. Hinzu kommen Reise-, Übersetzungs- und sonstige Sachkosten.


Sicherlich, 40.000 Euro sind viel Geld. Wir glauben allerdings, dass diese Ausgabe notwendig ist, vor allem deshalb, weil sich Polizei und Staatsanwaltschaft von Anfang an auf ein einziges Brandszenario festgelegt haben, und zwar das unwahrscheinlichste. Konkret haben wir bislang 5.000 Euro gesammelt, es fehlen also noch 35.000 Euro. Dieses Geld wollen wir in den nächsten 2 Monaten in einer massenhaften Crowdfunding-Kampagne mit Unterstützung möglichst vieler SpenderInnen sammeln, weshalb wir die Devise 700 x 50 Euro ausgegeben haben. Natürlich sind auch kleinere oder größere Beträge willkommen. Mit unserem Rechenbeispiel wollen wir lediglich deutlich machen, dass das Geld schnell zusammen kommen könnte, wenn sich nur genügend Menschen beteiligen. In diesem Sinne möchten wir um vier Dinge bitten:


- Individuelle oder kollektive Spenden – jeder Betrag ist willkommen!

- Weiterleitung dieses Spendenaufrufes – gerne auch in sozialen Netzwerken!

- Einladung der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh zu Veranstaltungen!

- Teilnahme als BeobachterInnen am Prozess (die aktuellen Termine finden sich auf unserer Webseite)


Spenden bitte auf folgendes Konto:


Initiative in Gedenken an Oury Jalloh e.V.
Bank für Sozialwirtschaft
Kontonummer: 1233 601
Bankleitzahl: 100 205 00


Spenden sind steuerlich absetzbar (bitte die Adressen per Post oder Mail an uns schicken oder auf den Überweisungsträger schreiben: Initiative in Gedenken an Oury Jalloh Colbestraße 19, 10247 Berlin – Friedrichshain, Mail: initiative-ouryjalloh@so36.net


Mehr Informationen unter: www.initiativeouryjalloh.wordpress.com

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Samstag, 6. Oktober 2012
Über den linken Moralismus von Sexualität und Gender, oder wie schwer es ist von der Rolle zu kommen
All die Auseinandersetzungen mit Momorulez und um die Mädchenmannschaft, das Gendercamp, RS und das Nobordercamp haben mir eine Sache schmerzlich klar gemacht: Das Thema Rollenverhalten, sowohl auf Genderfragen bezogen als auch hinsichtlich Rassismus, ist in der akademischen Linken immer noch genauso kompliziert und mit derart vielen Tabus und rigiden Moralisierungen aufgeladen wie ich das aus den 80ern und schlimmer noch 90ern kenne, und ein lockeres Verhältnis zur Sexualität hat diese Linke sicher nicht.

Zwischenspruch: In den frühen 80ern war das definitiv anders, da wurde quergevögelt was das Zeug hielt. Zwischenspruch Schluss. Das ist einerseits verständlich: Es ist nicht einfach, Alternativen zu den Lebensentwürfen der Normalos zu entwickeln, und anders leben kann sehr anstrengend werden. Andererseits greifen dann auch allzuhäufig, wenn Auseinandersetzungen um Sexismus, Homophobie oder Grenzverletzungen geführt werden Mechanismen, die eher mit religiösen Praktiken und eben auch einer puritanischen oder katholischen Moral zu tun haben als mit rationalen linksemanzipatorischen Kriterien. Dabei muss ich allerdings sagen, dass ich nicht so sehr viele sehr junge Linke kenne. Die meisten Linken mit denen ich zu tun habe sind so 35 bis 50, und da haben sich mit moralischem Rigorismus geführte Genderdebatten im Allgemeinen herausgewachsen, und die Jungantifas um 20 die ich so kenne erlebe ich auf Demos oder aktionsbezogenen Plena, weiß aber nicht, was bei denen intern so abgeht. Oder es sind Leute aus der Kletterszene, und die sind weder moralisch noch prüde. Und auch ganz allgemein viel sozialkompetenter als so manche Diskursnervensägen, was sich aus dem auf Leben und Tod aufeinander angewiesen sein zwangsläufig ergibt.


Ich mache jetzt ein Fass auf: Da ich nicht weiß wie das in linken Zusammenhängen heute aussieht erzähle ich mal wieder von früher, beschreibe erlebte Strukturen und bitte dann mal das kommentarfreudige Publikum, Stellung zu nehmen, ob es Ähnliches heute noch gibt oder ob die eigenen Erfahrungen von dunnemals oder dazwischen ähnlich oder völlig anders sind.


In den linken Lebenswelten die mal meine Heimat waren gestaltete sich so im Zeitraum 1988-2000 zumindest bei den Heteros/ras der szeneöffentliche Umgang mit Körperlichkeit schwierig. Aus dem Anspruch, feministische, antipatriarchale, egalitäre Prinzipien zu leben wurde ein Rigorismus, der teilweise stark selbstrepressive Züge annahm. Da sich die Szene anders kleidete als der bürgerliche Geschmack es vorsah, so eine bunte Mischung aus Hippie-Punk- Rasta- Biker- und Survivaloutfit, war zugleich klar, was gar nicht ging. Linke Frauen hatten keinen Chic zu tragen, höchstens etwas, das "Kampfchic" genannt wurde, z.B. Schweizer Armeejacke oder Lederjacke, Minirock, Strumpfhosen und High-Heel-Dr. Martens. Riotgirls wie die junge Netbitch setzten da vielleicht noch einen drauf, indem sie das sommers mit Strapsteilen und nabelfreiem Top kombinierten, aber die ihren Feminismus durch Kleidung zum Ausdruck bringende Durchschnittslinke trug eher Schlabber-Kapuzi (die Dinger heißen heute Hooddies, der Begriff war uns damals aber unbekannt), und schulter- und nabelfrei ins JUZI zu gehen wurde schon als Provokation angesehen, die eindeutig gegen die Szenemoral verstieß.

Ich wohnte zu der Zeit in einer WG mit einer jungen Dolmetscherin zusammen, schön wie ein Model und auch entsprechend aufgemacht. Die ging mit High Heels und Lippenstift auf ein Plenum, und voll finsterer Verachtung sagte ein Genosse: "So, wie die aussieht, kriegt die nichts auf die Reihe!". Wenn linke Frauen stark an Männern hingen, stärker, als es den eigenen feministische Wertvorstellung entsprach, so wurde damit von vielen Genossinnen nicht etwa mit Verständnis, sondern mit Verachtung reagiert "wer sich selbst über Männer definiert ist keine Feministin". Ansprüche, die über die Familienblümchensexstandardmentalität hinausgingen wurden nicht einfach als anzustrebende Ideale gesetzt, sondern als Zwänge, denen Genüge getan werden musste, es stand auch ein Leistungsanspruch dahinter. Insgesamt ergab diese Denke informelle Hierarchien, in denen diejenigen oben standen, die nach szenemäßigem Wertverständnis "am Weitesten" waren. Gute Karten hatte da, wer sexuelle Praktiken hatte, die möglichst weit vom Missionarsstellungssex abwichen (aber bei Heten bitte kein BDSM, die galten dann gleich als zu therapierende Perverse). Als eine Frau, die bis dahin als Lesbe gelebt hatte, plötzlich mit einem Mann zusammen war, sogar einem ziemlichen Macho, wurde dies als Rückschritt in ihrer Entwicklung angesehen. Und viele linke Heteromänner, ich auch, suchten sich ihre sexuellen Kontakte vorsichtshalber außerhalb der Szene.

Ich hatte Anfang der 90er das Heidenglück, nach meinem Bruch mit zwei früheren Bezugsgruppen in ganz neue Zusammenhänge hineinzugeraten in denen diese rigiden Maßstäbe keine Gültigkeit hatten oder doch nur eingeschränkt, z.T. ironisiert wurden. Und insbesondere die von Flüchtlingen geprägten waren da dann für mich geradezu heilsam. Nun, so aus zeitlicherDistanz betrachtet frage ich, ob es so etwas wie geschildert immer noch oder schon wieder gibt.

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Donnerstag, 11. November 2010
Der Kommende Aufstand
Ich glaube, der Spruch "Wir haben Euch was mitgebracht, Hass, Hass, Hass" und auch "Aufruhr, Widerstand, es gibt kein ruhiges Hinterland!" werden demnächst wieder populärer werden.

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Dienstag, 17. August 2010
Von der Massenkultur zur Kulturindustrie. Warum Adornos Kulturkritik und Kunstverständnis weder konservativ noch elitär ist.
Adornos Ästhetische Theorie stellt noch immer eine äußerst radikale Kritik der modernen Kultur dar, genauer: Einer Kritik der Integration durch Kultur. Integration ist hier im gleichen Sinne gemeint, in dem zum Beispiel religiöser Fundamentalismus auch als Integrismus begriffen wird: Aufhebung menschlicher Subjektivität, persönlicher Autonomie durch Integration in ein vorgeformtes kulturelles Ganzes. Die als Kulturindustrie begriffenen Medien werden hierbei als Grundlage und Motor eines Verblendungszusammenhangs gesehen, der die Menschen davon abhält, das zu tun, was sie wirklich glücklich machen würde, und zugleich bewirken sie eine vollständige Einbindung der Kultur in den kapitalistischen Verwertungszusammenhang, der aus jedem Kunstwerk eine industriell reproduzierbare Ware macht. Adornos Ansatz, dem ich nicht in jedem Punkt zustimme, den ich in Vielem aber für hellsichtig halte wird heute meines Wissens von niemandem weiterverfolgt und hat selbst in der Neueren Kritischen Theorie keine direkte Fortsetzung gefunden. Gerade in der jüngeren Rezeption gilt Adorno vielfach als elitär, pessimistisch und sein Kunst- und Kulturbegriff als strukturell konservativ. Das war noch in den 1970er und 80er Jahren anders, als Adorno im Allgemeinen mit Selbstverständlichkeit zur Neuen Linken gerechnet wurde und seine Theorie als undogmatischer linker Ansatz betrachtet wurde. Nun hatte ich kürzlich drüben bei Momorulez einen kurzen Disput mit dem Gastgeber, der mal wieder zeigte, dass wir jeweils diesen Ansatz sehr unterschiedlich einordnen. Er vertrat den Standpunkt, dass Horkheimer und Adorno ähnlich wie Spengler oder Ortega y Gasset ein das Individuum gegen die Masse setzendes, das einzelne Kunstwerk im Gegensatz zur Medienproduktion stellendes und die Massen an sich negativ beurteilendes Weltbild vertreten würden, worauf ich betonte, dass das zugrunde liegende Weltbild aber diametral entgegengesetzt sei, worin mir Momorulez widersprach.

Wörtlich hieß es „und die lebensphilosophische Unterströmung der DdA ist ja offenkundig – die verstehen „Natur“ ja äußerst explizit nicht im Sinne der Naturwissenschaften, sondern eben des Unreglementierten, Lebendigen, dass dann durch internalisierte Naturberrschung auch im Subjekt unterdrückt wird und in der Massengesellschaft, verzerrt und entfremdet, als Barbarei und Gewalt hervor bricht. Entziehen kann man sich dem nur durch die einsame Rezeption des Kunstwerks – und dieses kritisierte Umschlagen von Qualität in Quantität, auf das auch Rayson sich bezieht, ist nun geradezu Zentrum der Gesellschaftskritik Horkdornos.“ --- Dem würde ich nun allerdings widersprechen und antworten, dass die Standpunkte Horkdornos hier zum Teil verzerrt, zum Teil verkürzt werden.
Der Naturbegriff der Dialektik der Aufklärung wurzelt auf dem von Engels, der zwischen Realismus und Naturalismus, zwischen Abbildung der Wirklichkeit und Projektion der äußeren Natur in das Kunstwerk oder auch das Wesen des Menschen hinein unterscheidet, eine Unterscheidung, die schon für Engels Auseinandersetzung mit dem Sozialdarwinismus etwa im Anti-Dühring entscheidend war.
Ich würde schon sagen, dass Horkdorno Natur als Solche durchaus im Sinne der Naturwissenschaften verstehen, die eigentliche Dynamik aber im dialektischen Wechselpiel aus Naturbeherrschung durch den Menschen und dem Zurückschlagen von Aufklärung in Mythologie erwächst und zum Anderen auch aus der Bedeutung der Natur als Inspiration für die Kunst. Von Bedeutung ist da einmal die Reduzierung des Menschen auf das Naturhaft-Besondere durch den Menschen, durch Ideologie, mit anderen Worten: Die Naturalisierung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse und die Reduktion des Anderen auf den Körper, die ihren Höhepunkt in der Rassenideologie findet (direkte Weiterentwicklung von Engels Naturbegriff auf der Höhe der eigenen Zeit):


„»Rasse« ist nicht, wie die völkischen es wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die verstockte Partikularität, die im Bestehenden gerade das Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kollektiv.« (DdA, S. 178)
Hier besteht also ein deutlicher Unterschied in der Natur, wie sie ist und in der Funktion, die die Reduktion auf die Natur oder die Naturalisierung als 1944 aktuellste und modernste Form des Umschlagens des rationalen Fortschritts in destruktive und barbarische Gewalt in der Geschichte menschlicher Naturbeherrschung darstellte. Das Gleichsetzen von Natur mit dem Unreglementierten, Lebendigen gibt es dann auch, aber als Teil der menschlichen Imagination, durch die Natur mittelbar auf Menschen wirkt, durchaus ganz stark als – immer in sich gebrochene – Stimulanz für künstlerisches Schaffen: „Kunst will einlösen, was Natur verspricht. Fähig ist sie dazu nur, indem sie jenes Versprechen bricht, in der Zurücknahme auf sich selbst“ (Ästhetische Theorie, 1970, S. 104). In diesem Zusammenhang habe ich das Durchbrechen des Unreglementierten, wilden, Animalischen immer auch als eine positive Möglichkeit gesehen, was deutlich wurde in den Triebbefreiungstheorien Reichs, Hodanns, Marcuses und letztlich auch noch im Mensch vs. Maschine- Antagonismus der Operaisten (Rage against the machine) und auch in Adornos Resümé über Kulturindustrie kurz angesprochen wurde. Ich denke auch nicht, dass die einsame Rezeption des Kunstwerks hier Desiderat war, sondern eher die Entwicklung einer nichtaffirmativen sog. Unpopulären Volkskunst , womit mit z.T. explizitem Bezug auf die Ästhetische Theorie zum Beispiel die Künstlergruppe COBRA, die Gruppe SPUR, die Subversive Aktion, überhaupt die Situationisten sich dann ja auch beschäftigt haben, bis hin zu jenem „Lucifer Dyoniysios“, der in „Genießen Sie den Untergang des Abendlandes“ schrub, angesichts des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte sei Sperrmüllabfuhr die einzige gerechte und rationale Form der Distribution. Eigentlich nur eine konsequente Antwort auf den Satz. "angesichts solcher Möglichkeit aber, wandelt Aufklärung sich zum totalen Betrug der Massen um". Noch der spezielle Humor der Titanic wurzelt ja in Adornos Suche nach einer kritischen nichtaffirmativen Kunst. Das Umschlagen von Qualität in Quantität (und umgekehrt war ja auch am Bild des Übermenschen die Möglichkeit vom Umschlagens von Quantität in Qualität thematisiert worden) steht m.E. in einem anderen Kontext als die „Vermassungs"-Konzepte Spenglers, Freyers oder y Gassets. Kritisiert wurde hier die Entwertung des Kunstwerks durch seine massenhafte Reproduzierbarkeit für Zwecke, nämlich einmal Profitabschöpfung und zum Anderen Integration der Massen in den Kapitalismus. Dies beinhaltet aber keinen abwertenden Blick auf die Massen selbst, sondern vielmehr Verzweiflung darüber, dass aus diesen Massen keine Massenkultur, keine Volkskunst hervorgegangen ist; im Grunde ist das eine durchaus klassenkämpferische Perspektive. Im ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts war es ja eine wichtige Perspektive der Linken und, so sie sich zur Linken rechnete der künstlerischen Avantgarde, dass die bürgerliche Gesellschaft, die bürgerliche Kultur überwunden wurde durch eine Gleichzeitigkeit des Sichentfaltens der traditionellen Arbeiterkultur, damals durchaus eine Gegenkultur, aber schon zu mächtig, um noch als Subkultur zu gelten und der Kunst der Moderne, endlich auch der alternativen Lebensstile der Lebensreformbewegungen jener Zeit und das Zusammenwachsen dieser Komponenten zu einer Volkskunst und einer Massenkultur. Antonio Gramsci ging ja soweit, eine eigene Revolutionstheorie zu entwickeln, derzufolge die soziale Revolution genau dann möglich sei, wenn das Proletariat die kulturelle Hegemonie der Bourgeoisie gebrochen und die eigene gewonnen habe. Von Spengler bis zu den Nazis fürchtete die Rechte genau das – siehe „Kulturbolschewismus“. Hierzu Jay: "Lenins Forderung nach Tendenzliteratur, aufgestellt im Kampf gegen den ästhetischen Formalismus der Jahrhundertwende, gipfelte letztlich in der sterilen Orthodoxie des stalinistischen sozialistischen Realismus. Der zweite Leitsatz, den Steiner und viele andere für den fruchtbareren halten, folgt Engels, der Kunstwerke weniger nach den politischen Intentionen ihrer Urheber als nach ihrer immanenten gesellschaftlichen Bedeutung beurteilte. Der objektive gesellschaftliche Gehalt eines Kunstwerks, so Engels, der Kunstwerke weniger nach den politischen Intentionen ihrer Urheber als nach ihrer immanenten gesellschaftlichen Bedeutung beurteilte. ….. Diesem zweiten Ansatz sind jene Kritiker gefolgt, die nicht dem Sowjetblock angehörten und die Michel Crouzet einmal als Paramarxisten bezeichnet hat. Zu ihren prominentesten Vertetern zählten irgendwann in ihrem Leben Jean-Paul Sartre und Lucien Goldmann in Frankreich, Edmund Wilson und Sidney Finkelstein in Amerika sowie einige Mitglieder der Frankfurter Schule in Deutschland. … Die Frankfurter Schule machte sich … die Engelssche Unterscheidung zwischen Realismus und Naturalismus zu eigen, die zu unterstreichen Lukacs so viel getan hatte, wobei ihnen die Definition des Naturalismus mehr einleuchtete als die des Realismus…. Das Institut wurde nicht müde, die Gegenüberstellung von Kultur als einer höheren Sphäre menschliche Strebens und materieller Existenz als einem niederen Aspekt menschlichen Seins immer wieder zu kritisieren. So pries Adorno Spengler dafür, dass er demonstriert habe, „wie Kultur selber als Form und Ordnung verschworen ist der blinden Herrschaft“ (Spengler tat dies nicht absichtlich und erklärterweise, er wurde eher für einen unfreiwilligen Beweis gepriesen, Anm. d. Verf) und Benjamin stellte nüchtern fest: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ Gleichermaßen fremd war dem Institutsdenken die Beurteilung von Kunstprodukten als bloßem Ausdruck individueller Schöpferkraft…Das künstlerische Schaffen sei in einem bestimmten Sinne sowohl gesellschaftlich wie individuell. Kunstwerke drückten deshalb objektive gesellschaftliche Tendenzen aus, die von ihren Schöpfern gar nicht beabsichtigt seien…. Damit galt das ästhetische Grunprinzip des Expressionismus, einer Strömung, die insbesondere bei der Jugend Deutschlands Anklang fand, der Frankfurter Schule letztlich als falsch…“Je mehr das Ich des Expressionismus auf sich selber zurückgeworfen wird, umso mehr ähnelt es der ausgeschlossenen Dingwelt an sich“…..Eine dialektische oder immanente Kunstkritik, erklärte Adorno, „nimmt das Prinzip ernst, nicht die Ideologie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen.“ (Martin Jay, Dialektische Phantasie, S. 209 ff.)

Hieran wird deutlich, dass der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Kunstkritik und empirisch betriebener Gesellschaftskritik bei der Frankfurter Schule und besonders Adorno ein sehr unmittelbarer und sehr dialektischer war, hätte Engels zu Adornos Zeiten gelebt hätte er wahrscheinlich sehr ähnlich argumentiert. Dies eingedenk, noch einmal zurück zur Massengesellschaft bzw. Kulturindustrie.

Den terminologischen Unterschied zwischen beiden machte Adorno in seinem „Resümé über Kulturindustrie“ sehr klar:
„Das Wort Kulturindustrie dürfte zum ersten Mal in dem Buch 'Dialektik der Aufklärung' verwendet worden sein, das Horkheimer und ich 1947 in Amsterdam veröffentlichten. In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch »Kulturindustrie«, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. Von einer solchen unterscheidet Kulturindustrie sich aufs äußerste. Sie fügt Altgewohntes zu einer neuen Qualität zusammen. In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen. Die einzelnen Sparten gleichen der Struktur nach einander oder passen wenigstens ineinander. Sie ordnen sich fast lückenlos zum System. Das gestatten ihnen ebenso die heutigen Mittel der Technik wie die Konzentration von Wirtschaft und Verwaltung. Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben. Sie zwingt auch die jahrtausendelang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst zusammen. Zu ihrer beider Schaden. Die hohe wird durch die Spekulation auf den Effekt um ihren Ernst gebracht; die niedrige durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdig Widerstehende, das ihr innewohnte, solange die gesellschaftliche Kontrolle nicht total war. Während die Kulturindustrie dabei unleugbar auf den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Millionen spekuliert, denen sie sich zuwendet, sind die Massen nicht das Primäre sondern ein Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie. Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt. Das Wort Massenmedien, das für die Kulturindustrie sich eingeschliffen hat, verschiebt bereits den Akzent ins Harmlose. Weder geht es um die Massen an erster Stelle, noch um die Techniken der Kommunikation als solche, sondern um den Geist, der ihnen eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn. Kulturindustrie mißbraucht die Rücksicht auf die Massen dazu, ihre als gegeben und unabänderlich vorausgesetzte Mentalität zu verdoppeln, zu befestigen, zu verstärken. Durchweg ist ausgeschlossen, wodurch diese Mentalität verändert werden könnte. Die Massen sind nicht das Maß sondern die Ideologie der Kulturindustrie, so wenig diese auch existieren könnte, wofern sie nicht den Massen sich anpaßte.
Die Kulturwaren der Industrie richten sich, wie Brecht und Suhrkamp schon vor dreißig Jahren aussprachen, nach dem Prinzip ihrer Verwertung, nicht nach dem eigenen Gehalt und seiner stimmigen Gestaltung. Die gesamte Praxis der Kulturindustrie überträgt das Profitmotiv blank auf die geistigen Gebilde. Seitdem diese als Waren auf dem Markt ihren Urhebern das Leben erwerben, hatten sie schon etwas davon. Aber sie erstrebten den Profit nur mittelbar, durch ihr autonomes Wesen hindurch. Neu an der Kulturindustrie ist der unmittelbare und unverhüllte Primat der ihrerseits in ihren typischesten Produkten genau durchgerechneten Wirkung. Die Autonomie der Kunstwerke, die freilich kaum je ganz rein herrschte und stets von Wirkungszusammenhängen durchsetzt war, wird von der Kulturindustrie tendenziell beseitigt, mit oder ohne den bewußten Willen der Verfügenden. Diese sind sowohl Vollzugsorgane wie Machthaber. Ökonomisch sind oder waren sie auf der Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals in den wirtschaftlich entwickeltesten Ländern. Die alten werden immer prekärer durch den gleichen Konzentrationsprozeß, der seinerseits die Kulturindustrie als allgegenwärtige Einrichtung allein ermöglicht. Kultur, die dem eigenen Sinn nach nicht bloß den Menschen zu Willen war, sondern immer auch Einspruch erhob gegen die verhärteten Verhältnisse, unter denen sie leben, und die Menschen dadurch ehrte, wird, indem sie ihnen gänzlich sich angleicht, verhärteten Verhältnisse eingegliedert und entwürdigt die Menschen noch einmal. Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch. Diese quantitative Verschiebung ist so groß, daß sie ganz neue Phänomene zeitigt. Schließlich braucht die Kulturindustrie gar nicht mehr überall die Profitinteressen direkt zu verfolgen, von denen sie ausging. Sie haben in ihrer Ideologie sich vergegenständlicht, zuweilen sich unabhängig gemacht vom Zwang, die Kulturwaren zu verkaufen, die ohnehin geschluckt werden müssen. Kulturindustrie geht über in public relations, die Herstellung eines good will schlechthin, ohne Rücksicht auf besondere Firmen oder Verkaufsobjekte. An den Mann gebracht wird allgemeines unkritisches Einverständnis, Reklame gemacht für die Welt, so wie ein jedes kulturindustrielles Produkt seine eigene Reklame ist. ….. Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird, wie Horkheimer und ich es nannten, Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewußtseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wären die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich erhalten und entfalten kann. Werden die Massen, zu Unrecht, von oben her als Massen geschmäht, so ist es nicht zum letzten die Kulturindustrie, die sie zu den Massen macht, die sie dann verachtet, und sie an der Emanzipation verhindert, zu der die Menschen selbst so reif wären, wie die produktiven Kräfte des Zeitalters sie erlaubten.“
Eine elitären Adlerblick auf die Massen herunter sehe ich darin ebenso wenig wie eine Elfenbeinturmperspektive, eher einen basisdemokratischen Anspruch, den es einzulösen gilt.

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