Samstag, 5. Juni 2010
Einmal richtig böse gefragt
Ist die Aufbringung eines türkischen Schiffes durch die israelische Marine 32 Meilen vor Gaza, also in internationalem Gewässer nicht ein Akt der Piraterie? Und der Einsatz von Dachlatten, Zwillen und dergleichen mehr gegen vor Waffen starrende SWAT-Teams demzufolge legitime Notwehr? Und, noch einen drauf, ist mit einem israelischen Angriff auf Schiffe des NATO-Staats Türkei nicht gerade der Bündnisfall eingetreten?

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Ich hatte mich das auch schon gefragt und mal recherchiert. Interessanterweise ist das im Prinzip Piraterie, aber explizit nicht, wenn der Akt von Staaten verübt wird. Bei einem Staat kann unter Umständen der Tatbestand des Angriffskrieges vorliegen. Die Türkei könnte den Angriff auf ihr Schiff als Kriegserklärung ansehen, so wie die USA den Angriff deutscher U-Boote auf die Lusitania als (einen der) Anlass nahmen, in den 1. Weltkrieg einzusteigen.

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Nein

1) Staatliche Maßnahmen stellen, selbst wenn sie unrechtmäßig sind, keine Piraterie dar. So wäre auch ein Entern von Schiffen, die seinerzeit versucht hätten, die von Kennedy verordnete "Kuba-Quarantäne" zu durchbrechen, keine Piraterie gewesen, obwohl man die Rechtmäßigkeit der Quarantäne durchaus bestreiten konnte.

2) Israel beruft sich auf das San Remo Manual on International Law Applicable to Armed Conflicts at Sea, 12 June 1994, Article 67a: "Merchant vessels flying the flag of neutral States may not be attacked unless they: (a) are believed on reasonable grounds to be carrying contraband or breaching a blockade, and after prior warning they intentionally and clearly refuse to stop, or intentionally and clearly resist visit, search or capture."

Dazu muss man bemerken, dass dieses Manual weniger bindendes Recht ist als der Versuch, das seit Jahrhunderten auf See herrschende Gewohnheitsrecht zu kodifizieren.

3) Im Gaza-Jericho-Protokoll ist festgelegt: "Israel maintains security control and supervision over the entry of persons, vehicles and weapons at all points of entry. Israel retains security control of the sea as well as control and supervision over all air space."

Das Wort "Blockade" entspricht nicht den Tatsachen. Es wird lediglich das Anlaufen der Häfen von Gaza verhindert. Schiffe können das nahe Ashdod anlaufen, wo nach Kontrolle Hilfslieferungen weitergeleitet werden, die nicht Israels Sicherheit bedrohen. Gaza lebt offenbar zu 80% von diesen internationalen Hilfslieferungen. Eine Hungersnot gibt es in Gaza nicht, wohl aber eine ungerechte Verteilung, an der die Hamas nicht unschuldig ist.

Warum Israel nicht abgewartet hat, bis das Schiff in die 20-Meilen-Zone eingefahren ist, weiß ich auch nicht. Es gibt aber auch Berichte von einem Al Jazeera-Kameramann, der bezeugt, dass die ersten auf Deck gelandeten israelischen Soldaten als Geiseln genommen wurden. Die nachfolgenden Aktionen können dann als Geiselbefreiung gewertet werden. Dabei werfen Soldaten in der Regel nicht mit Wattebällchen.

4) Die Mavi Marmara fuhr unter der Flagge der Komoren, die m.W. nicht Mitglied der Nato sind.

Auf jeden Fall kennen wir bis heute den tatsächlichen Verlauf der Aktion nicht. Dass hier jede Menge schief gelaufen ist, steht außer Frage. Leider arbeiten momentan auf beiden Seiten die Leute nur ihre ideologischen Standpunkte ab.

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Danke für dieses hochqualifizierte Statement, das für mich so einige Sachen klarer macht!

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Wobei damit keinesfalls eine moralische Bewertung der Ereignisse verbunden ist, wie ich betonen möchte.

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die KP Israel verwendet jedenfalls den Begriff der Piraterie: http://www.maki.org.il/en/english-mainmenu-106

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Möglicherweise ist die KP Israel nicht der erste Adressat in Seerechtsfragen...

Folgendes ist jedenfalls festzuhalten:

1) Die große Mehrheit der befragten Redchtsexperten hält Israels Blockade nicht für illegal. Israel trägt einen bewaffneten Konflikt mit der Hamas aus, die Gaza komplett kontrolliert. Dementsprechend darf Gaza als feindliches Territorium angesehen werden, umso mehr als die Hamas von diesem Territorium aus zivile Ziele in Israel mit Raketen beschießt.

Kritiker sind allerdings der Meinung, dass das von Israel angeführte San Remo Manual nur auf Seekonflikte zwischen souveränen Staaten anzuwenden sei. Eine derartige Einschränkung habe ich im Manual allerdings nicht gefunden.

2) Eine Blockade berührt in der Regel internationale Gewässer (für die Territorialgewässer Gazas übt Israel sowieso die Souveränitätsrechte aus). Das war bei Kennedys Kuba-Quarantäne auch nicht anders, und hier waren Kuba und die USA noch nicht einmal kriegsführende Staaten.

Eine Blockade darf den neutralen internationalen Seeverkehr nicht behindern. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass dies vor der Küste Gazas schwerlich der Fall ist. Wie weit in internationale Gewässer eine Blockade ausgedehnt werden darf, ist leider nicht festgelegt. Eine Blockade darf aber auch nicht zu einer humanitären Katastrophe führen ("aushungern"), das würde UN-Konventionen widersprechen. Da Israel aber Lebensmittel und Medikamente etc. über Ashdod weiterleitet, scheint dies in Gaza nicht der Fall zu sein. Eine Hungersnot gibt es in Gaza jedenfalls nicht, allerdings durchaus problematische Verhältnisse, an denen die Blockade mitschuldig ist.

3) Laut San Remo Manual (und älterem Gewohnheitsrecht auf See) dürfen Schiffe auch neutraler Staaten angehalten und durchsucht werden, wenn hinreichender Verdacht auf Kontrabande (Waffen etc) oder die Absicht besteht, dass dieses Schiff die Blockade durchbrechen will. Letzteres trifft zweifellos zu, denn die Absicht war ja schon vorher öffentlich gemacht worden.

4) Die kontrollierende Nation muss bei der Verweigerung der Weiterfahrt in Richtung blockierter Küste bzw. der Durchsuchung "angemessene Mittel" anwenden. Definiert sind diese allerdings nicht. Ein Verbot, auf Messer oder Eisenstangen nicht mit lethalen Waffen zu reagieren, gibt es aber nicht.

Theoretisch wäre Israel noch nicht mal zur Enterung (die ja stets mit Gefahren verbunden ist) verpflichtet gewesen, es hätte das Schiff unter gewissen Umständen einfach versenken dürfen. Informationen, dass sich am Schiff zum Selbstmord bereite fanatisierte Menschen befinden ("suicide by cop") würde so erhebliche Gefahren für die IDF begründen, dass ein Versenken durchaus im Rahmen läge.

Hätten die ersten IDF-Soldaten beim Abseilen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt keinen Widerstand gab, wild scharf um sich geschossen, wäre dies allerdings grob unverhältnismäßig gewesen. Piraterie ist das trotzdem nicht. In Betracht käme "illegal warfare", ja sogar Kriegsverbrechen. Wurden die Soldaten aber in gefährlicher Weise angegriffen (Fäuste zählen wohl nicht, Messer aber schon), gibt es kein Verbot, mit der Schusswaffe zu antworten. Wer einen Polizisten mit dem Messer angreift, muss auch damit rechnen. Den US Cops reicht bekanntlich manchmal schon eine zu schnelle verdächtige Bewegung.

Wenn sogar eine Geiselnahme stattgefunden hat, dann hätten ohnehin keine Beschränkungen mehr gegolten.

5) Ches Frage nach dem Verteidigungsfall ist übrigens nicht abwegig. Denn WENN Israels Aktion als "illegal warfare" zu werten wäre UND das Schiff offiziell unter türkischer Fahne gefahren wäre (es gilt die offizielle Registrierung, nicht das, was man an die Reling hängt), dann könnte die Türkei, deren Recht in internationalen Gewässern dann auf dem Schiff gilt, dies als kriegerischen Akt und damit als Kriegsgrund werten.

Der NATO-Verteidigungfall träte wohl dennoch nicht ein, da man den Vorfall zumindest als selbst provoziert ansehen darf. Es bestand ja die erklärte Absicht des Schiffs, in ein von Israel (nach dem Gaza-Jericho-Abkommen) rechtmäßig kontrolliertes Territorium einzudringen.

Aber es gilt dennoch: Auch internationales Seerecht ist auslegungsfähig, schon deshalb, weil es wesentlich weniger exakt kodifiziert ist wie andere Rechtsordnungen. Problematisch ist sicher auch, dass Israel sich dem internationalen Seegericht in Hamburg nicht unterwirft. Dadurch ist ein Rekurs nur in Israel möglich, de facto also gar nicht.

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Die Blockadebrecher haben versucht, ein Abkommen zu unterlaufen, daß von Israel und der PLO getroffen wurde, eben das bereits erwähnte Gaza-Jericho Abkommen, nach dem die Verantwortung für die äußere Sicherheit ausdrücklich bei Israel verbleibt. Diesem Abkommen nach ist schon die reine Existenz bewaffneter Hamas-Kräfte in Gaza illegal, weil die Autonomiebehörde das staatliche Gewaltmonopol beansprucht und durchzusetzen hat.

Die Hamas akzeptiert das Gaza-Jericho Abkommen nicht, dergleichen gilt denn wohl auch für die Blockadebrecher. Die Blockadebrecher mußten wissen, daß sie auch gegen die Abmachungen und das Recht der Palästinenser selbst verstoßen, nicht allein gegen die israelischen. Ein Drittstaat wird aber wohl kaum einen Kriegsgrund daraus ableiten können, daß der vorsätzliche Verstoß gegen ein bilaterales Abkommen zweier Staaten durch eine unautorisierte Partei unterbunden wurde, insbesondere wenn die äußere Sicherheit das Ziel der Wahl war - und insbesondere, wenn die unautorisierte Partei die Hamas selbst war.

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Interessante Abhandlungen.
Ich komme da trotzdem nicht mit. PLO und Israel handeln ein Abkommen über ein Gebiet aus, in dem sie keine Macht ausüben. Die Macht hatte die Hamas in einer ordentlichen Wahl gewonnen, wenn ich mich erinnere. Wieso wurde die Hamas nicht an dem Abkommen beteiligt? Gewiss, weil sie Gewalt ausüben etc. Aber genausogut könnte ja die Hamas, sagen wir mit dem Jemen, ein Abkommen über Israel, das sogenannte Gaza-Aman-Abkommen abschließen und sagen, wir blockieren jetzt das Land Israel. Dann ist das Recht auf deren Seite?
Aber wir wissen ja, es gibt gute Staaten und es gibt böse Staaten. Die guten Staaten legen fest, wer gut und wer böse ist und was Recht ist. Und wer Atomwaffen haben darf und wer nicht usw.

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Nein, souveräne völkerechtliche Vertretung der PalästinenserInnen ist die PLO, in der die Hamas kein Mitglied ist. Die Hamas-Regierung in Gaza ist so etwas wie eine Kommunalverwaltung. Und die hat kein Recht, internationale Abkommen zu brechen.

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Wende in Israel?
Übrigens will die Kadima gerade einen Misstrauensantrag gegen die Likudregierung stellen. Kann sein, dass die aktuelle Situation bald Schnee von gestern ist.

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Subjektiv habe ich jedenfalls den Eindruck, dass hier mit formellen Dingen Unrecht begründet werden soll.

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Ich erspare mir einfach mal Schreibarbeit
und verlinke auf diese Diskussion hier:


http://teilnahmebedingungen.blogsport.de/2010/06/02/wenn-maertyrer-die-einzigen-argumente-sind/

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Es ist eben schade, dass die Sache so eskalieren musste und keine der beteiligten Seiten ernsthafte Friedensabsichten hegt. Die einen verstecken sich hinter internationalem Recht, die anderen hinter politischen Phrasen oder umgekehrt. Ausbaden müssen es am Ende die einfachen Leute.

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Und das Ausbaden erfolgt im Zweifelsfall in einem Bad aus flüssigem Feuer. Hannah Arendt hatte schon vor 60 Jahren alles Wesentliche zur Sinnlosigkeit dieses Konfliktes gesagt, aus heutiger Sicht prophetisch.

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Das Gaza-Jericho-Abkommen wurde 1994 geschlossen, lange bevor die Hamas in Gaza was zu sagen hatte.

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VerhandlungsführerInnen auf palästinensischer Seite waren damals die christliche Bürgerrechtlerin Hanan Aschrawi (heute Partei des Dritten Weges), der Scheich Husseini, Al Fatah und DFLP.

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Soviel habe ich über diesen Konflikt noch nie gelernt. Und das ganz nebenbei. Nachhaken lohnt sich also. Vielen Dank für die umfassende Aufklärung.

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Cropping macht den Wahrnehmungsunterschied
zwischen wahrgenommener "Notwehr" und wahrgenommener "Geiselbefreiung" (man blicke auf den rechten Bildrand und was die Hand an jenem Bildrand so hält):

http://3.bp.blogspot.com/_rqH4fUbko2U/TAwuDH_k6pI/AAAAAAAAQ30/6u4Jx8n0Ub4/s1600/Reuters.gif

Insofern dürfte Wahres daran sein, das viele Leutchen jeweils ihre liebsten Warnehmungen abarbeiten.


NB: dieser Post ist keine Parteinahme. Allenfalls für den "IDF-Sommer-Sixpack". Wir müssen alle noch was tun, für unsere Strandfigur.

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Du vielleicht

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Ich nicht. Ist aber eher auch eine Paddelfigur. Blondine mit Muckis ohne Sympathien für Israel-Palästina-Klischeewälzer und unblondem Intellekt.

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So rein von ästhetischer Seite aus finde ich den IDF-Summer-Sixpack ja wesentlich ansprechender als jeden Hamas-Vertreter, der meines Wissens bisher vor die Kamera getreten ist.

Von diesem Standpunkt aus bin ich allerdings auch für die schon vor langer Zeit von mir, Che und anderen einschlägig Bekannten diskutierte Einführung der GeschmaPo und von Zwangsverschleierung. Bezog sich damals vor allem auf quergestreifte blau-schwarze Pannesamtplunderhosen an bestimmten Genossinnen, aber angesichts der Tatsache, dass die Fussball-WM dräut und ab demnächst wieder ein Haufen Männer meinen, ihren Bierbauch in ein Trikot zwängen zu müssen, was erwartungsgemäss und unüberraschend schiefgehen WIRD ("It is the definition of insanity to do the same thing over and over again and expect different results"- B. Franklin) plädiere ich für den IDF-Summer-Sixpack. Und zwar auch für die Hamas!
Vielleicht kommt man ja besser miteinander aus wenn man das ganze so richtig unter Männern beim Stemmen von Gewichten klärt.

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Beglückt
in einer schönen Welt, in der es auf "richtig böse Fragen" "richtig gute Antworten" gibt.

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Auch wenn es mal wieder nur formalistische Korinthenkackerei ist, aber zu Piraterie gehört doch eine Bereicherungsabsicht, oder?

Die Hilfsgüter (und etwas anderes hatte dieses Schiff ja auf keinen Fall geladen, gelle?) können ja auf dem Landwg nach Gaza gebracht werden und somit ist das ganze keine Piraterie.

Ich bin wirklich weit davon entfernt, Expertin für Piraten (ausser natürlich Johnny Depp und Orlando Bloom) oder internationales Seerecht zu sein, aber normalerweise ist Piraterie doch so was wie "Raub auf See" und Raub ist Diebstahl-mit-was-auf-die-Omme geben.

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Gemäß allg. akzeptierter Piraterie-Definition in Art. 101 der UN-Seerechtskonvention (http://www.un.org/Depts/los/convention_agreements/texts/unclos/unclos_e.pdf, Seite 54-55 des PDF) ist der Begriff "Piraterie" ausschließlich auf private Akteure beschränkt - staatliche Aktionen können also schon per definitionem niemals Piraterie sein. [Jetzt wurde im Zuge des allgemeinen Neoliberalismus auch noch die Piraterie privatisiert! ;-)]

Allerdings sind mW weder Israel noch die Türkei Signatarstaaten der Konvention, wobei die, glaube ich, ohnehin in diesem Punkt nur das widergibt, was schon zuvor mehr oder weniger geltender Standard war.

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Der Staat hat es doch viel leichter. Das nennt sich Steuern und Zoll.

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Das ist ja sehr interessant.
All diese Dinge frage ich mich seit Tagen.
Danke für's erklären.

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Die Diskussion wurde geführt, ohne daß die Beteiligten Hamas- und Likudpropaganda ins Feld führten. Selten, sowas.

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Dafür gibt's ja nun genügend andere Blogs :-)

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