Mittwoch, 2. November 2005
Jetzt covere ich mal Heribert Prantl
Er schreibt in der SZ etwas, was einfach massiv weiterverbreitet gehört:

Nicht mehr ganz dicht

SZ Wochenende, 1. Seite 29./30.10.05
von Heribert Prantl (Leiter der Redaktion Innenpolitik)


Am 11. September 2001 hat die Welt Afrika endgültig aus dem Blick verloren. Ein ganzer Kontinent vegetiert seitdem abseits aller politischen und militärischen Interessen. Seitdem für den Westen al-Qaida das Synonym für Gefahr geworden ist, seitdem die Amerikaner ihre Freiheit im Irak verteidigen und die Deutschen am Hindukusch, seitdem bin Laden und Saddam Hussein des Teufels sind, seitdem jeder Dollar und jeder Euro, der ihrer Bekämpfung dient, also ein gutes Werk ist, - seitdem geht ein Erdteil unter, ohne dass man sich darum schert. Der Erdteil der Ärmsten säuft ab, aber kaum jemand funkt SOS - allenfalls ein paar idealistische Rockstars, die sich aber dann, nach den „Live 8"-Konzerten im vergangenen Sommer, Selbstgefälligkeit vorwerfen lassen mussten.
Manchmal werden tote, manchmal werden lebende Flüchtlinge an den Küsten Andalusiens angespült. Das Mittelmeer ist ein Gottesacker geworden für viele, die sich auf den Weg gemacht haben. Manchmal bleibt ein Stück Flüchtling an den Stacheldrahtzäunen hängen, mit denen Spanien in seinen Exklaven in Marokko den Weg versperrt.
18 Millionen Afrikaner sind nach Schätzungen von Klaus Töpfer, dem Leiter des UN-Umweltprogramms in Nairobi, seit Jahren auf der Flucht, von Land zu Land, nach Süden, nach Südafrika, oder nach Norden, nach Europa. Sie fliehen nicht nur vor Militär und Polizei, nicht nur vor Bürgerkrieg und Folter. Vielen Millionen drohen absolute Armut und Hunger; und es lockt die Sehnsucht nach einem Leben, das wenigstens ein wenig besser ist. Europa nimmt davon nur dann Notiz, wenn eine zerlumpte Vorhut den Stacheldraht vor Ceuta und Mellila erklimmt und die spanischen Grenztruppen auf Menschen schießen, die aus Ländern geflohen sind, die einst Entwicklungsländer hießen. Dort entwickeln sich aber heute nur noch Aids, Hunger, Chaos und Korruption.
Die so genannte Demokratische Republik Kongo, der Sudan, Sierra Leone und Somalia existieren als Staaten nur noch auf der Landkarte; andere Staaten stehen vor dem Zusammenbruch. Afrika ist ein Ort des Zerfalls, an dem sich eine Clique von Uralt-Regenten herausnimmt, was man sich herausnehmen kann. In Angola verschwindet jährlich bis zu eine Milliarde Dollar aus den Öleinnahmen. Kamerun macht außer im Fußball keine Fortschritte. Ein verrückt gewordener Robert Mugabe hat Simbabwe, die einstige Kornkammer Afrikas, in ein Armenhaus verwandelt. Eine halbe Million seiner ärmsten Bürger hat er aus ihren Hütten jagen und diese Behausungen niederbulldozern lassen - dann die UN gebeten, den Ausgewiesenen neue Quartiere bereitzustellen. Der König von Swasiland hat vor ein paar Monaten zum elften Mal geheiratet, er lässt für jede seiner Frauen einen Palast bauen; für die Aidskranken in seinem Land (37 Prozent der Schwangeren sind HIV-infiziert) tut er nichts.
Die Flüchtlinge flüchten, weil sie nicht krepieren wollen. Sie sind jung, und das Fernsehen lockt noch in den dreckigsten Ecken der Elendsviertel mit Bildern aus der Welt des Überflusses. Die Leute, die sich in Guinea Bissau oder in Uganda auf den Weg machen und nach einer einjährigen Odyssee vor den spanischen Exklaven Ceuta oder Mellila ankommen, wollen nicht wieder zurück. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung südlich der Sahara liegt bei 17,6 Jahren! Noch bleiben 95 Prozent der Flüchtlinge in der Welt, die man die Dritte nennt.
Diese Ausgeschlossenen aber drängen nun an die Schaufenster, hinter denen die Reichen der Erde sitzen. Der Druck vor den Schaufenstern wird stärker werden. Ob uns diese Migration passt, ist nicht mehr die Frage. Die Frage ist wie man damit umgeht, wie man sie gestaltet und bewältigt. Migration fragt nicht danach, ob die Deutschen ihr Grundgesetz geändert haben, sie fragt nicht danach, ob einige EU-Staaten sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus schleichen, auch nicht, ob das Thema in den derzeitigen Koalitionsgesprächen in Berlin irgendeine Rolle spielt. Die Migration ist da. Sie wird einmal alle Probleme, die jetzt dort verhandelt werden, in den Hintergrund drängen.
Der Migrationsdruck wird das Thema dieses Jahrhunderts werden, und das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden, ob der europäischen Politik etwas anderes einfällt als die militärische Mobilmachung gegen Flüchtlinge. Im Jahr 2004 schickte das Europäische Parlament Empfehlungen „zur Zukunft des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie zu den Bedingungen für die Stärkung seiner Legitimität und Effizienz" an den Europäischen Rat. Die Parlamentarier äußerten darin ihr Bedauern darüber, „dass sich die Fortschritte im Bereich Asyl und Einwanderung bislang im Wesentlichen auf die Bekämpfung der illegalen Einwanderung konzentriert haben".
In der Tat: Bisher ist Flüchtlingspolitik vor allem Flüchtlingsabschreckung und Flüchtlingsabwehrpolitik. Europa macht dicht. Die Europäische Union hat in den vergangenen Jahren fast alle legalen Zugangsmöglichkeiten zu ihrem Territorium verschlossen. Für alle Herkunftsländer von Flüchtlingen ist Visumspflicht angeordnet. Visa für Flüchtlinge gibt es aber nicht. So wird jede legale und gefahrenfreie Einreise verhindert. Wer sie trotzdem schafft, ist per gesetzlicher Definition ein Asylmissbraucher und reif für umgehende Abschiebung. Seit 1992, seit den „Londoner Entschließungen", hat sich EU-Konferenz um EU- Konferenz mit den Bauplänen für die Festung Europa befasst. Es wurden Zäune aus Paragrafen errichtet (als Erstes von den Deutschen, die 1993 ihr Asylgrundrecht änderten, um es, wie es hieß,
europatauglich zu machen). Es wurden Hunderte Millionen Mark und Euro in die Bewachung der Außengrenzen investiert: Patrouillenboote, Nachtsichtgeräte, Grenzüberwachungstechnik. .
Als der Schweizer Jurist und Journalist Beat Leuthardt 1994 sein Handbuch „Festung Europa" veröffentlichte, musste er sich von Politikern und Polizeistrategen in Bonn, Brüssel, Wien und Bern anhören, dass es eine solche Festung nicht gebe: „Gehen Sie hinaus, schauen Sie sich um in Europa und zeigen Sie uns die Opfer dieser Festung Europa." Heute weiß jeder Zeitungsleser, wo man sie findet: In Containern, aus denen man sie, in Dover oder im schönen Kiefersfelden, erstickt herauszieht. Italienische Fischer berichteten im Sommer 2004: „Wir haben keine Garnelen, sondern Leichen in den Netzen - das ist die Situation im Mittelmeer vor der libyschen Küste.“
Die Zahl der Asylanträge in Europa hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als halbiert. In Deutschland ist die Zahl der Asylbewerber so niedrig wie schon seit 1984 nicht mehr. Rapide gestiegen ist allerdings die Zahl der Abschiebungen. Das ist ein Erfolg der Verschärfung des Asylrechts in ganz Europa. Zu den Erfolgen der Verschärfungen zählt es auch, dass sich die Politik über Fluchtursachenbekämpfung kaum noch Gedanken macht. Seitdem die Asylbewerberzahlen infolge Abschottung sinken, gilt der Satz: Aus den Augen, aus dem Sinn. Im Herbst 1990 noch machte sich eine CDU-Arbeitsgruppe „Flüchtlingskonzeption" unter dem Vorsitz des damaligen (und jetzt wieder künftigen) Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble Gedanken über die Bekämpfung der Fluchtursachen - was zunächst einmal das Eingeständnis verlangt, dass die Armen am Reichtum der Reichen verhungern. Die Pläne sind in den Schubladen verschwunden.
Bei der EU-Konferenz im finnischen Tampere im Oktober 1999 räumten die Staats- und Regierungschefs der EU erstmals ein, dass eine Politik des bloßen Einmauerns nicht funktionieren kann. Zwar wurde damals auch zum x-ten Mal beschlossen, die Außengrenzen noch besser zu sichern und Schlepperbanden noch besser zu bekämpfen (was sollen Flüchtlinge eigentlich anderes machen, als sich solcher Fluchthelfer zu bedienen, wenn es sonst keine Möglichkeit zur Flucht gibt?). Andererseits räumten sie aber ein, dass Verfolgte weiterhin Aufnahme finden müssten. Flüchtlinge sollen also wenigstens eine kleine Chance haben, Schutz in der EU zu finden. In Tampere wurde sozusagen das Europa-Modell einer Festung mit einigen Zugbrücken kreiert. Über die Zugbrücken sollten die politisch Verfolgten kommen dürfen.
Diese Zugbrücken existieren aber bis heute nur auf dem Papier. Stattdessen gibt es vorgeschobene Auffanglinien und die Pläne von Tony Blair und Otto Schily für Flüchtlings-Außenlager in Afrika. Eine EU-Delegation war unlängst beim libyschen Regenten Gaddafi, um technische Details gegen „illegale Migration" zu besprechen. In einem Dokument ist festgehalten, was man den Libyern schon geliefert hat; neben 500 Rettungswesten auch 1000 Leichensäcke für die Opfer gescheiterter Fluchtversuche.
Das Institut des Asyls soll ausgelagert werden: Die EU zahlt dafür, dass das Asyl dort hinkommt, wo der Flüchtling herkommt. Flüchtlingsschutz in Europa wird so zu einer Fata Morgana werden: schön, aber unerreichbar. Schutz gibt es dann nicht mehr in Deutschland, Italien oder sonst wo in der EU, sondern allenfalls weit weg von der Kontrolle durch Justiz und Öffentlichkeit. Weil die Unterscheidung zwischen politisch verfolgten Flüchtlingen und denen, die aus bitterer Not ihre Heimat verlassen, schwierig ist, werden seit geraumer Zeit alle gleich schlecht behandelt.
Wegen der seit sieben Jahren anhaltenden Dürre haben eine Million Menschen in Sudan ihre Dörfer verlassen. Sie suchen Zuflucht in den UN-Flüchtlingscamps. Steigende Getreidepreise und der Massenzustrom der letzten Monate, so ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks, hätten dazu geführt, dass eine Familie mit der wöchentlichen Getreideration mittlerweile einen Monat auskommen muss. Nachdem die EU sich zu Hilfeleistungen nicht in der Lage sieht, rufen die Vereinten Nationen zu Spenden für die rund zwei Million Hungernden in den Camps auf: Dies war das Ausgangsszenario des Films „Der Marsch", den vor 15 Jahren die BBC produziert hat. Dieser Film hat die dramatischen Bilder vorweggenommen, die in den vergangenen Wochen aus den spanischen Exklaven in Marokko zu sehen waren: Flüchtlinge bestürmen die Wohlstandsfestung Europa.
Der Film erzählt vom Aufbruch verzweifelter Menschen aus einem sudanesischen Flüchtlingslager. Angeführt von dem charismatischen Lehrer Isa El-Mahdi zieht ein zunächst kleiner Treck in
Richtung Europa: „Wir haben keine Macht außer der, zu entscheiden, wo wir sterben wollen. Alles was wir verlangen, ist: Seht uns sterben!" Auf dem Weg zur marokkanischen Küste schwillt das Heer der Hoffnungslosen auf Hunderttausende Menschen an.
Der Marsch wird zum Medienereignis, die EU-Kommissarin verhandelt mit El-Mahdi: „Als ich klein war, sagte man uns: „Wenn ihr studiert, werdet ihr eines Tages auch reich.' Ich studierte hart. Ich arbeitete hart. Doch mein Land wurde arm und ärmer. Eines Tages hatten wir gar nichts mehr. Warum habt ihr so viel und wir so wenig? Seid ihr bessere Menschen? Es heißt, ihr in Europa habt viele Katzen. Es heißt, eine Katze kostet mehr als 200 Dollar im Jahr. Lasst uns nach Europa kommen als eure Haustiere. Wir können Milch trinken. Wir können vor dem Feuer liegen, wir können eure Hand lecken. Wir können schnurren - und wir sind viel billiger zu füttern!"
Das Publikum wurde seinerzeit vor der Ausstrahlung dieses Films beruhigt: Man solle sich keine Sorgen machen, es handele sich um eine erfundene Geschichte. Doch aus der Fiktion wird Realität. Der Hochkommissar für Flüchtlinge hat vor kurzem in einem dramatischen Appell darauf hingewiesen, dass die Essensrationen für 400 000 Flüchtlinge in Tansania wegen fehlender Finanzmittel drastisch reduziert werden müssen.
Im Film endet die Geschichte damit, dass sich die Armee der Habenichtse und das Militär des Westens gegenüberstehen. Man weiß nicht, wie die Konfrontation weitergeht, man weiß nicht, wie sie endet. Feuer frei auf die Elenden? Das wäre der apokalyptische Höhepunkt einer militarisierten Flüchtlingspolitik, Und das wäre der Untergang eines Kontinents, der sich das freie Europa nennt.
„Unsere Menschlichkeit entscheidet sich am Schicksal Afrikas ", sagt Bundespräsident Horst Köhler. Das heißt: Die EU muss aufhören damit, den neuen Eisernen Vorhang immer weiter auszubauen. Sie muss politisch Verfolgten wieder Schutz bieten, sie muss Zuwanderern eine quotierte Chance geben. Es bedarf gewaltiger friedenspolitischer Initiativen und gewaltiger Anstrengungen für die Opfer von Hunger und Not. Die Entwicklungspolitik der europäischen Staaten sollte damit aufhören, ihre finanziellen Mittel über den ganzen schwarzen Kontinent zu vertröpfeln. Jedes EU-Land sollte sich zum Paten für bestimmte afrikanische Länder erklären. Eine Geberkonferenz sollte klären, wer wohin gibt. Noch ist es so, dass die Europäische Union durch die Protektion heimischer Bauern mehr Geldzuflüsse nach Afrika verhindert, als sie an Entwicklungshilfe gibt.
Am 25. März 1807, als der britische König George III. das Gesetz unterschrieb, welches den Sklavenhandel im Empire verbot, stellte William Wilberforce, der Anführer der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei, seinem Freund Henry Thornton die welthistorische Frage: „Well, Henry, what shall we abolish next?" Was schaffen wir als Nächstes ab?
Rupert Neudeck, der Gründer der Cap Anamur, erzählt diese Anekdote in seinem Buch „Die Flüchtlinge kommen. Warum sich unsere Asylpolitik ändern muss" (Diederichs Verlag).
Was schaffen wir als Nächstes ab? Neudeck gibt die Antwort: „Die gewaltige Ungerechtigkeit, die Kluft zwischen den reichen Nationen und den Milliarden Schmuddelkindern in Dritten Welt."

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