Dienstag, 4. März 2014
Der Kampf um die Subsistenz ? Anmerkungen zu einer hier fast unbekannten Debatte.
Als ich mich hier zum Thema der Subsistenz im Kontext entwicklungs- und migrationspolitischer Debatten äußerte


http://che2001.blogger.de/stories/2375353/#2376153


verstand niemand, was ich eigentlich meinte. Das ist insofern bemerkenswert, als es seit 30 Jahren einen eigenen Theoriestrang gibt, der sich weltweit mit dieser Thematik beschäftigt (z.B. bei den Diskussionen um die Weltwirtschafts- und Weltsozialforen von Davos und Porto Alegre) und seinen Weg von den äußeren linken Rändern (Redaktionsgruppe Autonomie, Wildcat) bis hin in die etablierte Sozial- und Geschichtswissenschaft geschafft hat und dort inzwischen paradigmengebend für verschiedene Forschungsansätze ist. In dem Kontext wurde mir Eskapismus vorgeworfen im Sinne einer Romantisierung von vormodernen Gesellschaftsentwürfen. Das genaue Gegenteil ist der Fall ? ich suche vielmehr sehr empirisch-realitätsorientiert nach Anknüpfungsmöglichkeiten für sozialrevolutionäre Perspektiven, und hierbei ist die Debatte um die Subsistenz eine Schlüsseldebatte. Der Theorieansatz der Materialien für einen Neuen Antiimperialismus ist ja an sich eine Kombination aus marxorientierter (nicht: marxistischer) Geschichtsphilosophie, Max Weber, Dependenztheorie und Foucault. Im absoluten Gegensatz zum Traditionsmarxismus stehen hier drei Fluchtpunkte (oder Betrachtungsweisen) im Vordergrund oder Mittelpunkt, die an Foucaults Kategorie der Bio-Macht anknüpfen und philosophisch eher im Existenzialismus verwurzelt sind, zugleich aber an Diskursen der extremen Linken der 70er und 80er anknüpfen:


1) Der Kampf um das unmittelbare Existenzrecht
2) Subsistenz als Voraussetzung, soziale Kämpfe überhaupt führen zu können
3) Kapitalstrategien gegen das unmittelbare Existenzrecht, gegen die Subsistenz und die Inwertsetzung menschlichen Lebens als Grundlage der Kapitalakkumulation einschließlich der Triage, d.h. Ausmerzung unverwertbarer Existenzformen bis hin zur Vernichtung ?überflüssiger Esser?.

Sowohl die neuere Forschung zum Vernichtungskrieg der Nazis und der Shoah als auch die linke Kritik an westlicher Entwicklungspolitik hat diesem Ansatz sehr viel zu verdanken, die Schriften von Detlef Hartmann, Karl-Heinz Roth, Angelika Ebbinghaus, Susanne Heim und Götz Aly (und, kleineres Licht, von mir) sind ohne die Kenntnis dieses Grundzusammenhangs gar nicht zu verstehen.

Einen Schlüsselansatz lieferten Forschungen des Historikers Ahlrich Meier, der Anfang der 1980er der Frage nachging, ob es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Brotpreisrevolten oder "Anti-IWF-Riots" in Entwicklungs- und Schwellenländern und den Armutsrevolten des Vormärz, den sog. "Emeuten", Weberaufstand usw. geben würde. Diese Frage wurde in einer Art und Weise bejaht, die Meier selbst sehr erstaunte. Es zeigte sich nämlich, dass nicht nur soziale Zusammensetzung der revoltierenden Bevölkerungsgruppen und die Dynamik der Proteste starke Parallelen aufwiesen, sondern dass ein Faktor bestimmend war, um in Gesellschaften ohne soziale Sicherungssysteme längeranhaltende Sozialproteste überhaupt erst möglich werden zu lassen: Das Vorhandensein rudimentärer Subsistenzwirtschaft neben dem eigenen Dasein als ArbeiterIn oder sonstwie prekär beschäftigte Person. Nun waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Unterschiede zwischen landlosen Bauern, umherziehendem Bettel und Industrieproletariat noch fließend (das war die Welt von Büchners Woizech, Dickens Oliver Twist und Hugos Les Miserables), die entstehende Industriegesellschaft noch stark agrarisch geprägt - und es war selbstverständlich, dass Arbeiterfamilien nebenher ein wenig Ackerbau betrieben oder Kleinvieh züchteten. In geringerem Umfang sollte dies bis weit ins 20. Jahrhundert der Fall sein, noch bis in die 1960er Jahre. In einer Welt ohne Streikkasse, ohne Sozialversicherung und ohne Krankenkasse sicherte die "nebenberufliche" Subsistenzwirtschaft das unmittelbare Überleben in Notzeiten. Meier stellte fest, dass es, reine Hungerrevolten mal außen vor, immer eine Korrelation zwischen dem Vorhandensein solcher Subsistenzstrukturen und Revolten gab, und umgekehrt eine Strategie des Kapitals, Subsistenzstrukturen zu vernichten.

Dies heißt nun allerdings nicht unbedingt, dass die Vernichtung der Subsistenz durch das Kapital aus der strategischen Einsicht erfolgt, dass fragmentarisch vorhandene Subsistenzstrukturen den Rückhalt für Widerstand eröfnen, sondern aus einem ganz anderen Grunde. Es geht um die Inwertsetzung bisher nicht verwertbarer Strukturen für den Kapitalismus, die Aufbereitung neuen Terrains, um überhaupt Wertschöpfung zu ermöglichen. Ich mache das mal am Beispiel Yugoslawiens fest. Dort gab es auf dem Lande früher, d.h. vor Tito, sehr verbreitet die Zadrugas. Das waren landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, zugleich auch Lebenszusammenhänge, in denen es kein Privateigentum an Produktionsmitteln und auch bis auf persönliche Gegenstände wie Kleidung, Schmuck usw. kaum persönliches Eigentum gab. Eine Art archaischer Kommunismus, in mancher Hinsicht frühen Kibbuzim ähnlich, im krassen Gegenteil zu diesen aber nicht als politisches Projekt gedacht, auch nicht demokratisch strukturiert, sondern erzpatriarchal von Sippenältesten geführt und mit Einrichtungen wie der Blutrache. In den Zadrugas wurden Feldfrüchte angebaut und Vieh gezüchtet, die von den Zadrugas selbst wieder konsumiert wurden, es wurde höchstens für den Dorfmarkt verkauft, und eigentlich brauchte man dort kein Geld, Naturaltausch hätte gereicht, bei Geldentwertungen wurde dazu auch übergegangen. Die Zadrugas ernährten sich selbst, wenn auch auf ärmlichem Niveau. Mit ihnen war keine grüne Revolution, keine Modernisierung der Landwirtschaft für die Cash-Crop-Produktion zu haben. In den Dreißiger Jahren entwickelten NS-Ökonomen Strategien zur Modernisierung des Balkan, bei denen die gewaltsame Zerschlagung der Zadrugas und die Einführung moderner Landmaschinen für eine neu zu schaffende Schicht von Großbauern, die sich zunächst einmal über lange Zeiträume zu verschulden hatten um sich die Landtechnik überhaupt leisten zu können im Mittelpunkt stand. Der später real stattfindende Vernichtungskrieg sorgte dafür, dass die Zadruga-Zerschlagungen erstmal ohne ökonomische Modernisierungen stattfanden, das Modell wurde aber z.B. von der Rockefeller-Stiftung als Blaupause für entwicklungspolitische Strategien im Zeitalter der Entkolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg übernommen: Die Zerschlagung von Subsistenzwirtschaftsstrukturen als Motor der schöpferischen Zerstörung traditioneller Agrargesellschaften im Trikont wurde zu einem der Eckpfeiler westlicher Entwicklungspolitik. Die ja keineswegs, wie sie in ihrer eigenen Propaganda behauptete, ein humanitäres Unterfangen war, sondern vielmehr der Aufrechterhaltung der westlich-kapitalistischen Kontrolle über die Ökonomien der nun unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien und ihrem Ausbau als künftige Absatzmärkte für europäische und nordamerikanische Produkte sowie Cash-Crop-Lieferanten dienen sollte. "Entwicklungspolitik" -das war von Vornherein Vernichtung traditioneller Strukturen im Interesse kapitalistischer Erschließung mit der dazugehörigen Vertreibung großer Bevölkerungsgruppen, der Produktion von neuem Hunger und der Vernichtung der überflüssigen Esser.


Wird fortgesetzt.

Hinweis an Willy und Sozi ohne Partei: Das ist hier gerade eine sehr konsequente Foucault-Anwendung in Kombination mit Marx.

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