Samstag, 31. Dezember 2016
Far beyond the filter bubble 2
Vor geraumer Zeit hatte ich mich im Kollegenkreis über die Art und Weise unterhalten wie in der Bloggosphäre über queerfeministische Theorie diskutiert wird und wie da sexuelle Präferenzen, Klassenverhältnisse, Rassismus und Heteronormativität in Relation zu einander gebracht werden. Meine Chefin erklärte daraufhin, die Leute die so etwas denken würden wären wohl in der Psychiatrie. Was sie nicht etwa so meinte dass sie queere Leute psychiatrisieren wollte - ihr Bruder ist schwul und gehört zu den Organisatoren unseres lokalen CSD - sondern wer glaubte, LGBT seien im Deutschland des Jahres 2016 in den Großstädten noch unterdrückte Minderheiten, deren Lage sich mit der von Schwarzen oder Flüchtlingen vergleichen ließe, wer solches behauptet sei wohl psychisch krank. Schwule, Lesben, Transen seien doch gesellschaftlich längst voll akzeptiert, die Homophoben seien ihrerseits längst zu einer ewiggestrigen Minderheit geworden, die ihrerseits immer weniger ernst genommen würde. Ich hatte dieses Statement hier gepostet, nicht, weil ich das inhaltlich vertreten würde, sondern weil ich es einen interessanten Kontrapunkt zu dem darstellt was in Kleinbloggersdorf üblicherweise so zu lesen ist. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich meine Chefin für eine liberale Feministin.


https://che2001.blogger.de/stories/2613057/


Dann aber hatte ich ein zweites Gespräch im Kollegenkreis über ein politisches Thema. Diesmal ging es um Gentrifizierung, genauer gesagt um Häuser in Kreuzberg, die von ihren Besitzern mit teils kriminellen Methoden entmietet werden. In einem Fall hatte man Arbeiten am Dach bewusst im Dezember durchgeführt, damit es in den abgedeckten Dachstuhl hineinschneit und dann das Schmelzwasser die Treppenstiegen hinabfließt. Auf die Weise hatte man alle HausbewohnerInnen vertrieben bis auf eine 83 jährige Omi, die verhärmt abends in einer Eckkneipe saß und ihr Leid klagte. Da kamen meine Kolleginnen damit, dass man doch mit seinem Eigentum machen kann was man wolle, eine 83jährige gehöre eh ins Altenheim und nicht in ein Miethaus und in Berlin wuerden sie eh glauben, es sei moeglich, Sozialismus mit westlichem Lebensstandard zu haben. Mir wuerde mein Gutmenschentum schon vergehen, wenn ich erst das Mietshaus erben wuerde. Ueberfluessig zu erwaehnen dass ich empoert und sauer war. Ziemlich reaktonaeres, dumpfbackiges Publikum, meine lieben Kolleginnen.

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Stiller Siegeszug
Zu meiner Studienzeit, in den 1980er Jahren, war in der Geschichtswissenschaft die Alltagsgeschichte Steckenpferd notorischer Außenseiterinnen und Special-Interest-Thema linker Gruppen. Damals spielte sich eine allgemeine battle of minds ab um die gesellschaftliche Deutung von Geschichte. Es war die Zeit des Historikerstreits, der autonomen Frauenseminare, die ERSTMALS feministische Forschungsinhalte gegen den massiven Widerstand der Lehrstuhlinhaber in den Wissenschaftsbetrieb einbrachten, der autonomen Seminare überhaupt, mit denen wir linken Studis so eine Art Gegenveranstaltungen gegen den offiziellen Lehrbetrieb auf die Beine stellten. Wissenschaftskritik konnte damals sehr konkret werden, wie das Lemma "anschlagsrelevante Themen" deutlich macht: Eine Diskussionsveranstaltung zum Thema Gentech zu organisieren konnte bedeuten, vom Staatsschutz ins RZ-Umfeld eingeordnet zu werden und auf eine Fahndungsliste zu kommen. Vom damaligen Bundespräsidenten - Richard von Weizsäcker - und Kanzler - Helmut Kohl - bis hin zur autonomen Kleingruppe, die ganze Republik diskutierte kontrovers zu historischen Themen, diese Diskussion war Teil einer gesellschaftlichen Gesamtauseinandersetzung. Innerhalb der Geschichtswissenschaft setzte sich damals gerade die Sozialhistorie der Bielefelder Schule gegen die Traditionslinie der Historischen Schule durch. Das bedeutete, jetzt etwas grob vereinfacht, Technik-Wirtschafts- und Strukturgeschichte verbunden mit Geschichte der Arbeiterbewegung und einem auf Max Weber basierendem entwicklungssoziologischen Geschichtsmodell im Hintergrund. Alltags- Umwelt- und Frauengeschichte waren hingegen nicht anerkannte Ansätze, die von undogmatischen Linken, Feministinnen und Grünen ins Feld geführt wurden und von der großen Mehrheit der Zunft ignoriert wurden - mit Ausnahme ihrer absoluten Elite, nämlich dem Max-Planck-Institut für Geschichte. Als eine besondere Form der Alltagsgeschichte entstand die sogenannte Andere Arbeitergeschichte, eine Verbindung aus marxistischer englischer Arbeiterbewegungsgeschichte, der französischen Alltagsgeschichte des Annales-Ansatzes, Geschlechtergeschichte und Foucault-Anwendungen, vor allem rund um die Schriftenreihen Mittelweg 36 und Autonomie Neue Folge - Materialien gegen die Fabrikgesellschaft. Wir waren damals noch so avandgardistisch, dass wir um Quartier für unsere Teilnahme am Hamburger Geschichtsfest 1985 zu machen dort eigens ein Haus besetzten.


Und heute? Die Alltagsgeschichte ist absolut etabliert, die Historische Schule, ja die gesamte politische Geschichte/Ereignisgeschichte ist selber Historie. Sogar das wehrhistorische Museum der Bundeswehr arbeitet strikt alltagshistorisch. Die Schlachten Napoleons werden nicht mehr dahingehend analysiert wer wen wie taktisch ausmanövriert hat, sondern es wird veranschaulicht wie sich das für den kleinen Soldaten angefühlt hat, und Aspekte beackert an die man früher im Traum nicht gedacht hätte: Etwa die Tatsache, dass nach dem großen Sterben Massen an Zahnärzten über die Schlachtfelder strichen, um den Gefallenen die Zähne zu ziehen, als Rohmaterial für Prothesen. Alltagsgeschichte rules, feministische Geschichtswissenschaft auch. Pardon, wir haben gewonnen. Aber nur in der Theorie; die Theorie als Theorie des politischen Handelns hat sich unendlich von den damaligen Debatten entfernt, und wir sind weiter als je zuvor von der Durchsetzung klassenkämpferischer Forderungen entfernt.

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