Sonntag, 26. Mai 2019
Jahreshauptversammlung Flüchtlingsrat Niedersachsen
Da trafen wir uns mal wieder, war toll die alten Genossinnen und - nossen nach teils Monaten, teils Jahren und in einem Fall Jahrzehnten wiederzusehen. Eine schöne Brünette begrüßte und umarmte mich und meinte "Ey, Che, lange nicht mehr gesehen!" Ich erkannte sie nicht, dabei war das eine Genossin die ich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte und die damals tolle Sachen gebracht hatte. Wir haben damals Straßenfeste veranstaltet mit Döner, Kebap und Felafel verkaufen, Bücherstände und Ähnliches und sie gehörte zu denen, die die Erlöse dann in Bargeld nach Kurdistan/Irak brachten, in der eigenen Unterwäsche verborgen und illegal über die Grenze, dort unterwegs im Jeep mit lafettiertem MG und Schützen, um das Geld direkt denen in die Hand zu drücken die es brauchten. Auf diese Weise haben wir den Wiederaufbau einer zerbombten Brücke über den Tigris und das Gehalt für einen Lehrer in einer von uns auch wiederaufgebauten Schule in Pengwin bei Süleymania finanziert. "Hoch die internationale Solidarität!" war für uns keine Demoparole, sondern alltäglich gelebte Praxis. Haben auch eine Frau aus einem türkischen Folterknast herausgeholt, die heute im Irak in der verfassungsgebenden Kommission für eine Republik Kurdistan sitzt.

Nun ja, kommen wir zu den Themen der Tagung.


Auf kommunaler Ebene gibt es keine Mindeststandards für die Unterbringung von Flüchtlingen. Erstaufnahmeeinrichtungen die eigentlich nur für eine Unterbringung für einige Wochen vorgesehen sind werden in vielen Fällen zu Dauerunterbringungsorten. Problem der Beschulung wird zunehmend gelöst durch Unterricht in regulären Schulen.

Es gibt kaum noch Unterschiede zwischen Abschiebehaft und Strafhaft, Flüchtlinge, auch Kinder, werden wie Verbrecher behandelt.

Im Juli startes ein neues Projekt zum Thema Bleiberecht. Wie bekommen wir Menschen aus der Langzeitduldung heraus zu einem Aufenthaltstitel?

Highlight war der Vortrag von Behrenice Böhlo (tolle Frau, by the way), bei dem man merkte, dass sie Foucault, Zizek und Mouffe gelesen hat und zu operationalisieren versteht.

Kriminalisierung von Flüchtlingen und Flüchtlingsräten

Es gab keine Grenzöffnung, die EU-Grenzen sind offen.
Was stattfand war der Verzicht auf das Zurückhalten von Flüchtlingen.



Es wurde keine Beschleunigung der Asylverfahren erreicht.
Seit 2015 hat sich die Behandlung der Flüchtlinge massiv verschlechtert.
Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und das Nachzugsrecht von Angehörigen sowie der Schutz alleinreisender Jugendlicher waren alle auf gutem Weg, davon ist nichts übriggeblieben.
Die BAMF-Vertreter in den Asylverfahren sind fast ausnahmslos Verwaltungsjuristen im Alter von 34, 35 Jahren ohne jede Kenntnis der politischen Verhältnisse in den Herkunftsländern oder der sozialen Situation der Flüchtlinge.

Die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge ist angestiegen, ihre Behandlung ist massiv verschlechtert worden.

Schizophrene Diskursdynamik

Deutsche und europäische Politik kreist um die Flüchtlingsfrage während die objektive Lage der Flüchtlinge katastrophal ist, es geht im Diskurs aber darum wie man die Flüchtlinge schneller loswird und abschiebt. Der Türkeideal hat nicht funktioniert: Die Türkei lässt 0% Flüchtlinge nach Griechenland, die Flüchtlinge die in den Hotspots in Griechenland ankommen kommen als Bootsflüchtlinge. Griechenland selbst hat angefangen abzuschieben. Zentrale Aussage der Politik ist im Grunde: „Gewöhnt Euch an das Sterben im Mittelmeer!“

Das Recht von Menschen auf die Suche nach einem besseren Leben wird negiert

Unmittelbar vor der sogenannten Grenzöffnung fand eine Konsultation von Bundesregierung und Bundespolizei statt, bei der die Bundespolizei vorschlug die Grenzen so dichtzumachen wie beim Gipfel in Heiligendamm die Bannmeile. Auf die Frage wie lange das durchzuhalten ist wenn alle Kräfte mobilisiert werden wurde geantwortet „ein paar Wochen“, das würde aber ausreichen damit auf den Fluchtrouten die Botschaft rüberkommt dass es sich nicht mehr lohnt nach Deutschland zu flüchten. Da erwiderte das Innenministerium das man das nicht machen könne da es europäischem Recht widerspricht. Nach dem Dublin-Abkommen müssen die Flüchtlinge zunächst aufgenommen werden. Es war also nicht Merkel die die Flüchtlinge einlud, die Entscheidung kam aus dem BMI. Als Seehofer mit dem Rücktritt drohte wenn nicht verschärft abgeschoben würde war das ein Verstoß gegen geltendes Recht, bewegte er sich im rechtsfreien Raum. Der Staat bricht seine eigenen Gesetze.

Die Auffassung konservativer Staatsrechtler dass das Recht des Staates auf Grenzsicherung ein absolutes sei bedeutet de facto und de jure die Menschenrechte zur Disposition zu stellen. Das „Vollzugsdefizit“ bei Abschiebungen wird in der Öffentlichkeit als das zentrale Problem der Politik wahrgenommen. Die Politik kümmert sich nicht um Ursachen sondern nur um Symptome. Der Mangel an Dolmetschern, SozialarbeiterInnen usw. macht beschleunigte Asylverfahren völlig unmöglich. In dieser Situation beginnt der Staat mit der Kriminalisierung der Flüchtlingsräte die nichts anderes tun als sich für die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahren einzusetzen. Es finden bereits Razzien in Kanzleien von Asylanwältinnen und Praxen von Ärzten die Flüchtlinge behandeln statt. Wir brauchen neue Institutionen, neue Verfahrenswege, neue Herangehensweisen um diese Probleme zu lösen. Im Mittelpunkt muss das Recht stehen Rechte zu haben.



Aktionen wie die Welcome United Demo in Hamburg, die Bleiberechtsdemo „Unteilbar“ in Berlin mit 400 beteiligten Organisationen und Fridays for Future, die von außen betrachtet scheinbar aus dem Nichts kamen zeigen was für ein großes zivilgesellschaftliches Potenzial mobilisierbar ist. Von staatlicher Seite wird teile und herrsche praktiziert indem soziale Frage und Flüchtlingsfrage gegeneinander ausgespielt werden, die AFD ist hier nur eine Zuspitzung der staatlichen Politik.

Dem müssen wir sozialen Widerstand entgegensetzen und neue Bündnispartner suchen, etwa Easy-Jet-Streikende, Klimaaktivisten, MieterInnenaktivitäten und Flüchtlinge zusammenbringen. Auf institutionellem Wege sind wir im Augenblick massiv am Verlieren; praktisch müssen wir uns auf einer strategischen und analytischen Ebene neu aufstellen. Aktionen auf der Straße, Vernetzung mit anderen sozialen Bewegungen und pragmatische Maßnahmen wie z.B. die Einstellung von Flüchtlingen in Handwerksbetrieben mit Stellenmangel müssen aufeinander bezogen werden, es gilt aus der empirischen Erfahrung heraus eine Gesamtstrategie abzuleiten.

Uns steht keine geschlossene Gegenseite gegenüber, ebenso wie es Bündnispartner gibt die wir nicht sehen – etwa Bürger in Nauen die aggressiv gegenüber dem Landrat auftraten etwa in dem Wortlaut: „Det könnse nich machen den Ali nach Italien schicken zum Betteln aufde Straße, det is doch Schitt. Der jehört zu uns!“




Wir müssen einen Schalter umlegen und einen Gegendiskurs zur hegemonialen Erzählung in Gang bringen. Wer sagt denn dass die Mobilisierungskraft von Fridays for Future nicht auch für Flüchtlings/Antirassismusbewegung aufgebracht werden könnte?



Lesebefehl: „Erschlagt die Armen!“

https://www.medimops.de/shumona-sinha-erschlagt-die-armen-roman-gebundene-ausgabe-M03894018208.html?variant=UsedGood&utm_source=PSM_KOO&utm_medium=cpc

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