Donnerstag, 17. Juni 2021
SARS-CoV-2 als neues "Forever Virus": Wie sich Wissenschaftler auf die Zukunft mit dem Erreger vorbereiten
Michael van den Heuvel, Medscape



Zu Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie hofften Forscher noch, das Virus könnte vielleicht eines Tages wieder verschwinden ? spätestens nach Abschluss flächendeckender Impfkampagnen zum Aufbau einer Herdenimmunität. Diese Hoffnung schwindet mehr und mehr, denn SARS-CoV-2 reagiert auf den evolutionären Druck mit immer wieder neuen Mutationen. Das Robert Koch-Institut (RKI), Berlin, nennt aktuell 4 Variants of Concern (VOC, besorgniserregende Varianten). Und ?Foreign Affairs?, ein Online-Magazin, schreibt bereits vom nächsten ?Forever Virus?.

Für die Wissenschaft bleibt als Herausforderung, neuartige Coronaviren flächendeckend zu überwachen und daraus ? falls erforderlich ? entsprechende Maßnahmen abzuleiten. Wie dies funktionieren könnte, erklärten Experten gegenüber dem Science Media CenterGermany (SMC) [1].

Lehren aus Influenza
Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Aufgabe, pathogene Viren dauerhaft zu erfassen, nicht neu. Beim Influenzavirus gibt es schon lange entsprechende Strukturen. So bietet das Global Influenza Surveillance and Response System (GISRS) der WHO eine flächendeckende Überwachung. Es arbeitet mit einzelnen Zentren in allen 123 WHO-Mitgliedsstaaten.

Das Influenza-Überwachungssystem kann tatsächlich ein Vorbild sein. Prof. Dr. Richard Neher
?Das Influenza-Überwachungssystem kann tatsächlich ein Vorbild sein?, erklärte Prof. Dr. Richard Neher von der Universität Basel. Viren würden seit Jahren weltweit gesammelt und bei der WHO charakterisiert. Übertragen auf das neuartige Coronavirus heißt das: ?Die genomische Surveillance von SARS-CoV-2 funktioniert mittlerweile in Europa sehr gut, aber bei der Charakterisierung der Varianten und der Risikobewertung wäre mehr internationale Koordination sinnvoll?, so Nehers Einschätzung.

Die genomische Surveillance von SARS-CoV-2 funktioniert mittlerweile in Europa sehr gut, aber bei der Charakterisierung der Varianten und der Risikobewertung wäre mehr internationale Koordination sinnvoll. Prof. Dr. Richard Neher
Prof. Dr. Isabella Eckerle von der Universität Genf befürwortet auch, Strukturen und Netzwerke, die bereits zur Influenza-Surveillance bestehen, für SARS-CoV-2 zu nutzen. Probleme erwartet die Expertin in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Pro-Kopf-Einkommen. Denn sie hätten nicht nur geringe Durchimpfungsraten, sondern auch niedrige Laborkapazitäten.

?Welche Faktoren bei der Zirkulation von SARS-CoV-2 eine Rolle spielen, ist noch sehr viel weniger gut verstanden als bei der Influenza, sodass man viel breiter und umfassender überwachen muss?, lautet ihre Empfehlung. ?Ein weiterer wichtiger Punkt ist in meinen Augen der Hergang in Tierpopulationen, der überwacht und sofort erkannt werden muss, wie es bereits mehrfach etwa auf Nerzfarmen geschehen ist.?

Wie könnte die Surveillance bei SARS-CoV-2 aussehen?
Wenig überraschend besteht bei Experten Einigkeit darin, SARS-CoV-2 engmaschig zu überwachen. ?Inzidenzen werden ein wichtiger Parameter bleiben; sie sind ein guter Indikator für das Infektionsgeschehen?, ist sich Neher sicher. ?Wir sollten den Fokus aber ebenso weiterhin auf die Genomsequenzierungen legen.?

Eckerle bestätigt: ?Eine Surveillance mittels Vollgenom-Sequenzierung kann den besten Überblick über zirkulierende Varianten geben, allerdings ist die Auswahl der Proben hier sehr wichtig und nicht trivial.? Wichtig sei eine repräsentative, flächendeckende Probennahme. Methodisch nennt sie entweder Sentinel-Untersuchungen, also repräsentative Stichproben, oder eine symptomatische Surveillance für respiratorische Infektionen, etwa über Hausarztpraxen. ?Neben der technisch aufwendigen und teuren Vollgenom-Sequenzierung, die gerade in ressourcenarmen Regionen ein Problem darstellen kann, können mutationsspezifische PCRs auf Marker-Mutationen einen Überblick verschaffen?, weiß die Expertin.

?Ein wichtiger Punkt ist, dass Surveillance allein noch keine Infektionskontrolle darstellt?, schränkt Eckerle ein. Ein Monitoring sei wichtig, um neue Varianten möglichst früh zu erkennen und ihre Dynamik zu beschreiben. ?Die Vorstellung jedoch, dass man sich durch massive Vollgenom-Sequenzierung vor der Verbreitung von Varianten schützen kann, ist in meinen Augen ein Trugschluss.?

Wichtig sei, dass sich das Infektionsgeschehen in sehr niedrigen Inzidenzen bewege, sodass die Nachverfolgung von Kontakten umfassend möglich sei, inklusive geeigneter Maßnahmen zur Eindämmung. Auf globaler Ebene sei die möglichst schnelle und breite Durchimpfung jetzt besonders wichtig.

Prof. Dr. Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig wünscht sich außerdem, dass die im Jahr 2020 initiierten großen, repräsentativen Antikörper-Studien weitergeführt werden. ?Anhand einer solche Kohorte kann man die Veränderungen des Immunstatus in der Bevölkerung überwachen?, lautet seine Einschätzung. Mittlerweile gebe es Methoden, um Antikörper, die nach Impfung gebildet werden, von denjenigen Antikörpern nach Infektion zu unterscheiden. Auch nach Virusvarianten könne man bei dem Verfahren differenzieren.

Unklare Rolle von Hotspots
Eine Besonderheit bei der Surveillance: ?Regionale Hotspots werden dort eine Rolle spielen, wo geringe Impfraten vorliegen und das Virus weiterhin in einer teil-immunen Bevölkerung zirkuliert?, so Eckerle. ?Dies kann ganze Länder umfassen, die benachteiligten Zugang zu Impfstoff haben, oder aber bestimmte Bevölkerungsgruppen, die die Impfung aus den verschiedensten Gründen ablehnen.?

Krause spekuliert ebenfalls, das lokale Geschehen werde an Bedeutung zunehmen und damit auch die Rolle der Gesundheitsämter. Doch Vorsicht: ?Deren aktuelle Personalunterstützung von außen wird gerade wieder abgebaut und kann auch nicht nachhaltig in dem Maße wie im vergangenen Jahr aufrechterhalten werden.? Somit komme der Digitalisierung der Arbeitsprozesse weiterhin eine große Bedeutung zu.

Regionale Hotspots werden dort eine Rolle spielen, wo geringe Impfraten vorliegen und das Virus weiterhin in einer teil-immunen Bevölkerung zirkuliert. Prof. Dr. Isabella Eckerle
?Ich glaube, regionale Hotspots werden keine große Rolle spielen?, widerspricht Neher. ?Mit zunehmender Impfrate wird das Infektionsgeschehen an Dynamik weiter verlieren und eher nach dem Muster der Grippe oder Erkältungswellen ablaufen.? Es werde also voraussichtlich nicht mehr zu einer Karnevalsfeier kommen, bei der die Zahl der Ansteckungen durch die Decke gehe. ?Regionale Unterschiede bleiben aber bei der Nachverfolgung neuer Varianten wichtig?, so seine Einschätzung.

Szenarien für Impfungen
Auch zur Zukunft von Vakzinen äußerten sich die Experten. Prof. Dr. Annelies Wilder-Smith von der London School of Hygiene and Tropical Medicine nannte 4 hypothetisch denkbare Szenarien:

COVID-19-Impfstoffe führen zur starken T-Zell-Antwort und zusätzlich zur humoralen Antwort. Innerhalb der nächsten 1 bis 3 Jahre ist keine Auffrischung erforderlich.

Patienten benötigen eine Auffrischungsimpfung mit dem gleichen Vakzin wie bei der Grundimmunisierung. Es gibt bereits Hinweise darauf, dass diese Strategie zu höheren Antikörper-Titern und zu einem besseren Schutz gegen COVID-19 führt.

Eine Auffrischungsimpfung wird mit einem angepassten Impfstoff, der sich gegen eine bestimmte, zirkulierende Variante richtet, durchgeführt.

Patienten erhalten eine multivalente Auffrischungsimpfung, die neben dem Wildtyp diverse VOC als Antigen oder als Nukleinsäure enthält.

Die beste Strategie, um die Entwicklung von bedenklichen Varianten zu reduzieren, ist ganz klar die schnelle Immunisierung eines großen Teils der Bevölkerung. Prof. Dr. Annelies Wilder-Smith
Wilder-Smith´ Fazit: ?Die beste Strategie, um die Entwicklung von bedenklichen Varianten zu reduzieren, ist ganz klar die schnelle Immunisierung eines großen Teils der Bevölkerung.? Doch dann müssten prospektive Studien zeigen, welche der 4 Optionen die effektivste sei.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Impfstoff falsch verteilt? ?Man hätte sozial Schwache eher impfen müssen? ? ein Medizinethiker über Gerechtigkeit und Impfneid
Christian Beneker, Medscape



Sind Sie privilegiert und können schon mit dem digitalen Impfausweis in den Urlaub starten? Wie gerecht wird und wurde der SARS-CoV2-Impfstoff verteilt? Medscape sprach mit Prof. Dr. Georg Marckmann, an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, über die Fragen von Impfneid und Impfgerechtigkeit.


Prof. Dr. Georg Marckmann

Medscape: Am 7. Juni wurde die Priorisierung aufgehoben - prompt sind die Hausarztpraxen überlaufen von Impfwilligen. Erwarten Sie jetzt eine Art Verteilungskampf, wo jeder nur noch sich selbst der Nächste ist?

Marckmann: Ich mahne zur Gelassenheit. Die Frage der Impfpriorisierung ist etwas dramatisiert worden, als ginge es um den Zugang zu lebensnotwendigen Maßnahmen. Das Infektionsrisiko ist inzwischen sehr niedrig und auch derjenige, der noch keine Impfung bekommen hat, kann sich weiter mit den üblichen Maßnahmen wie Mund-Nase-Schutz oder Abstand halten schützen.

Der Impfneid ist im Übrigen vor allem deshalb entstanden, weil wir so intensiv über die Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen für Geimpfte diskutiert haben. Das ist für mich die falsche Frage gewesen.

Wir hätten eher diskutieren müssen, ob es noch gerechtfertigt ist, die Freiheiten der Menschen insgesamt weiter einzuschränken angesichts einer zunehmenden Durchimpfung der Hochrisikogruppen, angesichts sinkender Inzidenzzahlen, angesichts möglicher Alternativen zum Impfen, wie zum Beispiel Schelltests. Es war nicht mehr gut nachvollziehbar, warum die Geimpften bestimmte Freiheiten bekommen, aber die Ungeimpften nicht.

Medscape: Sie kritisieren, dass man bei der Impfpriorisierung mehr soziale Aspekte mitberücksichtigen hätte sollen. Hat man Arme, Obdachlose und Migranten vergessen?

Prof. Marckmann: Es ist ethisch geboten, schlechter Gestellte und sozial Schwache eher zu impfen. Dafür sehe ich 3 gute Gründe: Sie haben aufgrund ihrer oft beengten Lebenssituation ein erhöhtes Infektionsrisiko, sie können zum Beispiel oft nicht im Homeoffice arbeiten. Außerdem ist erwiesen, dass zum Beispiel Langzeitarbeitslose ein höheres Risiko für schwere Verläufe einer Corona-Infektion haben.

Sozial Schwache, die ohnehin schlechtere Gesundheitschancen haben, haben zudem auch noch einen schlechteren Zugang zu den Impfungen. Man hätte arme, benachteiligte Bevölkerungsgruppen eher impfen müssen.

Medscape: Ist so etwas wie Impfgerechtigkeit überhaupt möglich?

Prof. Marckmann: Ja, aber es bleibt ein Ideal, das wir nie vollkommen erreichen. Impfstoffe sollen so eingesetzt werden, dass möglichst viel gesundheitlicher und sozio-ökonomischer Schaden abgewendet wird. Wesentliche Aspekte wurden bisher bei der Priorisierung ja auch berücksichtig. Die Anwendung der Kriterien führt zwar zu einer Ungleichverteilung, aber zu einer ethisch gerechtfertigten Ungleichverteilung. Mein Ziel wäre eine ?ausreichende Gerechtigkeit.?

Es liegt übrigens im Interesse aller, dass Menschen, die in armen Verhältnissen enger zusammenleben und ein höheres Infektionsrisiko haben, schnell geimpft werden. Denn dies verhindert Infektionsausbrüche, die sich weiter auf andere Bevölkerungsgruppen ausbreiten können.

Medscape: Inzwischen sind ja Impfteams etwa in Hochhaus-Siedlungen unterwegs.

Marckmann: Ja, das ist ein wichtiger erster Schritt. Allerdings: Saisonarbeiter, Migranten oder Obdachlose sind oft nicht leicht zu identifizieren, um ihnen ein Impfangebot zu unterbreiten. Wir wissen nicht genau, wo sie leben.

In den USA gibt es Indizes, die systematisch erfassen, welche Regionen und Stadtbezirke am meisten benachteiligt sind. Den dort lebenden Menschen kann man dann gezielt Impfangebote machen. Meines Wissens werden solche Instrumente bei uns bislang nicht angewendet.

Medscape: Jetzt werden verschiedentlich auch Kinder geimpft ?

Prof. Marckmann: Ob es richtig ist, Kinder und Jugendliche jetzt zu impfen, finde ich fraglich. Das wäre eine egalitäre Gerechtigkeit, die alle gleich behandelt, aber insgesamt wenig hilft, da sie die individuelle Bedürftigkeit nicht berücksichtigt. Kinder und Jugendliche haben nun einmal ein sehr geringes Risiko für schwerwiegende COVID-19-Verläufe.

Ob es richtig ist, Kinder und Jugendliche jetzt zu impfen, finde ich fraglich. Prof. Dr. Georg Marckmann
Zudem gibt es bislang nur wenig wissenschaftliche Evidenz zur Corona-Impfung bei Kindern. Insofern sollten wir nicht alle Kinder impfen, sondern nur diejenigen, die beispielsweise aufgrund von Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe haben. Dies wäre wieder eine eher bedürfnisorientierte Gerechtigkeit.

Medscape: Bei der internationalen Verteilung der Impfstoffe werden ebenfalls die armen Länder benachteiligt. Da wiederholt sich auf internationaler Ebene, was schon national nicht funktionierte.

Prof. Marckmann: Die internationale Verteilung der Impfstoffe ist bislang noch unzureichend geregelt. Dabei ist die Pandemie eine internationale Herausforderung, wir müssen entsprechend global agieren.

Doch es haben sich Länder, die nur etwa 16% der Weltbevölkerung ausmachen, über 70% der im Jahr 2021 weltweit verfügbaren Impfstoffe gesichert. Hier haben die reichen Länder eine moralische Pflicht entsprechend gegenzusteuern. Auch die ärmeren Länder müssen unbedingt ausreichenden Zugang zu den SARS-CoV-2-Impfungen erhalten.

Medscape: Auch zu Ungunsten der reichen Länder?

Prof. Marckmann: Wir stehen nicht unter Druck, sehr schnell 70% oder 80% der Gesamtbevölkerung zu impfen. Vor allem müssen die Risikogruppen geschützt werden, und das ist ja auch weitgehend erfolgt. Die Impfung der verbleibenden vor allem jüngeren Menschen hat keine so hohe Priorität mehr. Von den knapp 90.000 Menschen, die in Deutschland im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion gestorben sind, waren nur knapp 1.000 unter 50 Jahre alt.

Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus vertretbar, der internationalen Verteilung der Impfstoffe eine höhere Priorität einzuräumen. Es wäre ethisch gerechtfertigt, global zu denken und den ärmeren Ländern mehr Impfstoffe zukommen zu lassen.

Natürlich muss dann auch über globale Verteilungskriterien nachgedacht werden: Vorrang sollte die Vermeidung von vorzeitigen Todesfällen durch COVID-19 haben, dann wären schwerwiegende soziale und wirtschaftliche Auswirkungen zu berücksichtigen und schließlich die Rückkehr zu einem normalen gesellschaftlichen Leben.

Medscape: Ist das in Deutschland vermittelbar?

Marckmann: Zumindest sollte man versuchen, dafür zu werben. Dies muss ja nicht notwendig bedeuten, dass wir viel weniger Impfstoffe für die eigene Bevölkerung zur Verfügung haben. Vielleicht sollten wir sogar vorrangig versuchen, ausreichende Produktionskapazitäten in ärmeren Ländern zu schaffen. Astra Zeneca produziert zum Beispiel Impfstoffe in Brasilien.

Aber so lange die Impfstoffe global noch knapp sind, wäre es ratsam, in den reichen Ländern zunächst nur die Risikogruppen zu impfen, um international mehr Impfstoff zur Verfügung stellen zu können.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Die Lehren aus der Pandemie: Experten diskutieren auch über die richtige Kommunikation in Krisenzeiten
Christian Beneker


Berlin " Vertrauen schaffen, das Erreichte ausbauen, Fehler korrigieren " diesen Dreiklang im Hinblick auf den bisherigen Umgang mit der Corona-Krise schlugen alle Rednerinnen und Redner bei der Eröffnung des Hauptstadtkongresses 2021 Medizin und Gesundheit am Dienstag in Berlin an .

?Bald wird es nicht mehr darum gehen, wer beim Impfen als erster dran kommt. Sondern wir werden bald in die Phase kommen, wo wir um Leute werben müssen, die sich impfen lassen wollen?, sagte Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) in seiner Rede. ?Wir müssen an einer hohen Impfquote im Land arbeiten, weil es ? das muss man leider sagen ? auch Leute gibt, die dagegen arbeiten.? Man erlebe an Desinformation in Hinblick auf die Impfstoffe ?eine ganze Menge?, deutete Braun an.

Wir werden bald in die Phase kommen, wo wir um Leute werben müssen, die sich impfen lassen wollen. Helge Braun
Umso professioneller müsse die öffentliche Kommunikation politischer Entscheidungen etwa zum Impfen ablaufen, laut Braun eines der zentralen Themen der Pandemie. ?Wir machen pausenlos Regeln und erwarten, dass die Bürger sich daran halten?, sagte Braun. Da die Infektionen sich meistens da abspielten, wo der Staat sich mit Kontrollen zurückzuhalten habe, müsse die Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse an die Bürger umso effektiver sein.

?Wir sind auf die Bevölkerung in einer Weise angewiesen, wie das sonst selten der Fall ist?, sagte Braun. Man müsse sich deshalb fragen, wie Politik und Wissenschaft der Öffentlichkeit die Balance zwischen Mehrheitsmeinung und Minderheitsmeinung der Forschung erklären können, um Desinformationen zu vermeiden.

Skandalisierungen vermeiden
Doch das dürfte schwer werden. ?Wir kennen in der Wissenschaft den Widerspruch als treibendes Element?, sagte der Kongresspräsident, Prof. Dr. Karl Max Einhäupl. Dies führte in den Medien aber oft zu Unsicherheit und Skandalisierung der Widersprüche. ?Die Menschen wissen nicht mehr, woran sie sind?, so Einhäupl.

Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor des Institutes für Virologie an der Berliner Charité, forderte in diesem Zusammenhang eine bessere Moderation der Widersprüche durch die Medien. ?Die Medien sollten der Wissenschaft entgegenkommen?, so Drosten. Gerade der Wissenschaftsjournalismus müsse darauf hinweisen, dass verschiedene Ansichten in der Wissenschaft nicht gleich Konflikte darstellen, sondern ?differenzierte Meinungen?.

Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Dr. Alena Buyx unterstrich, dass die Wissenschaft nur wenige Erfahrungen mit der öffentlichen Kommunikation habe. ?Wir sind in diesen Medienkontexten im Ehrenamt und überhaupt nicht ausgebildet für diese Art von Arbeit?, sagte Buyx. Auch die Wissenschaft verfahre hier nach dem Prinzip ?learning by doing?. Und das sei ?manchmal besser gelungen und manchmal schlechter?.

Im Übrigen sei das Vertrauen der Deutschen in die Wissenschaft erstaunlich hoch. Das Wissenschaftsbarometer, das einmal im Jahr das Vertrauen in die Wissenschaft abfragt, sei im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie enorm gestiegen. Im Verlauf der Pandemie sank es allerdings ?von spektakulären über 70% auf immer noch über 60%?, so Buyx. ?Deshalb meine erste Botschaft: Die Bevölkerung hält das aus, jedenfalls ein großer Teil der Bevölkerung!?

Wir sind in diesen Medienkontexten im Ehrenamt und überhaupt nicht ausgebildet für diese Art von Arbeit. Prof. Dr. Alena Buyx
Buyx plädierte dafür, schon in den Schulen zu erläutern, wie Bildung und Wissenschaft einander durchdringen. Buyx warnte auch vor Desinformation durch die Medien, die zum Teil gewollt sei. Dagegen könne allerding die Wissenschaft nichts beitragen. Sie sei vielmehr mitunter ?den Medien hingeworfen?, sagte die Ethikerin.

?Wir haben unter Dauerbelastung aufgerüstet!?
Nicht nur in der Wissenschaftskommunikation hätten die Verantwortlichen hinzu zu lernen, hieß es auf dem Hauptstadtkongress. ?Wir haben auch Schwachstellen gesehen?, räumte die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) in ihrem Statement ein. ?Wir waren nicht gut genug vorbereitet?, so Kalayci. Tatsächlich fehlten nicht nur in Berlin Masken, Schutzanzüge, Einmalhandschuhe oder Testkits. Allerdings habe die Mangelsituation auch die Hilfsbereitschaft stimuliert. ?Wir haben unter der Dauerbelastung aufgerüstet und mussten am Schluss in den Krankenhäusern keine Triage vornehmen?, resümierte die Senatorin.

Wir waren nicht gut genug vorbereitet. Dilek Kalayci
Auch EU-Kommissionspräsidentin Dr. Ursula von der Leyen (CDU) betonte die Lernfähigkeit der EU unter dem Druck der Pandemie. So habe die EU einen Weg gefunden, die Impfstoffe gemeinsam zu bestellen. ?Die EU hat die Anfangsschwierigkeiten bewältigt und ausgebliebene Lieferungen ausgleichen können?, so von der Leyen. Zwar hätten manche Staaten ihre Grenzen für Ausfuhren geschlossen und andere nicht. Aber die EU habe dafür gesorgt, dass medizinische Geräte etwa immer dahin gelangt sein, wo man sie gebraucht habe.

Gleichwohl blieben eine Menge Aufgaben zu tun: Ein besseres Pandemie-Frühwarnsystem installieren, die Prozesse der EMA beschleunige oder die Industrie stärker auf Krisenbewältigung ausrichten und die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung in den Mitgliedsländern voranbringen.

Der Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit in Berlin läuft noch bis zum 17. Juni. Unter dem Dach des Hauptstadtforums Gesundheitspolitik finden 3 Fachkongresse statt, der Managementkongress Krankenhaus Klinik Rehabilitation, der Deutsche Pflegekongress und das Deutsche Ärzteforum.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Intensivbetten: DIVI und DKG verwahren sich gegen Betrugsvorwürfe
Ute Eppinger, Medscape


Erstattung von Schutzmasken, Ausgleichszahlungen an Kliniken und Aufbau von Intensivbetten ? der Bericht des Bundesrechnungshofs (BRH), der vergangene Woche dem Haushaltsausschuss des Bundestages zugeleitet wurde, verursacht reichlich Wirbel. Der BRH hat die Ausgaben der Bundesregierung in der Corona-Pandemie scharf kritisiert und strengere Kontrollen verlangt.

Die Regierung müsse ?bei künftigen Maßnahmen zulasten der Steuerzahler stärker auf eine ordnungsgemäße und wirtschaftliche Mittelverwendung achten?, heißt es in dem 42-seitigen Prüfbericht. Unterstützung sei nach dem ?Gießkannenprinzip? verteilt worden.

Eine ?massive Überkompensation aus Steuermitteln? habe es auch bei den Ausgleichszahlungen für Kliniken gegeben. Im Jahr 2020 lagen sie bei 10,2 Milliarden Euro und damit um 1,3 Milliarden höher als 2019, obwohl die Betten 8% weniger ausgelastet waren.

Betrug mit den Intensivbetten?
Moniert wird auch, dass das Bundesgesundheitsministerium bis heute nicht in der Lage sei, die Zahl der tatsächlich aufgestellten sowie der zusätzlich angeschafften Intensivbetten verlässlich zu ermitteln. Die als Folge aufgetretenen ?unerwünschten Mitnahmeeffekte? seien ?nicht vertretbar?.

Innerhalb eines Jahres flossen bis Anfang März 2021 rund 686 Millionen Euro für neue Intensivbetten. Teilt man die Summe durch den Zuschuss pro Bett müsste es 13.700 neue Intensivbetten geben ? doch die kann der BRH nicht finden, berichtet die Tagesschau . Ein im BRH-Bericht erwähntes Schreiben aus dem Robert Koch-Institut (RKI) vom Januar diesen Jahres, in dem das Institut die Vermutung geäußert haben soll, dass Kliniken zum Teil weniger Intensivbetten meldeten, als tatsächlich vorhanden waren, nährt ebenfalls Spekulationen.

?Horror-Zahlen gefälscht: Der große Betrug mit den Intensivbetten?, titelte prompt die Bild . Es sei ?befremdend? wie ein ehemaliger Staatssekretär im Finanzministerium (Spahn) ?so großzügig und planlos mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger? umgehe, sagte die Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz, die als Obfrau der Grünen im Rechnungsprüfungsausschuss den Bericht bereits lesen konnte, gegenüber der Süddeutschen Zeitung .

Erst im Mai hatte die Ad-hoc-Stellungnahme von Prof. Dr. Matthias Schrappe und Kollegen Aufruhr verursacht, in der von verschwundenen Intensivbetten die Rede war. Die Kritik der Verbände folgte prompt und die Autoren mussten einige Punkte ihrer Stellungnahme korrigieren. Durch den BRH-Bericht sehen sie jetzt aber ihre Einschätzung bestätigt. Schrappe sagt dazu: ?Der Bundesrechnungshof hat unsere Beobachtungen bestätigt und er geht sogar noch einen Schritt weiter.? Die Autorengruppe um Schrappe hat einen Kommentar zum Bericht des BRH veröffentlicht.

Laut Bild führt die Landesregierung in NRW jetzt eine ?Überprüfung eventuell auffälliger Meldewerte? durch, um ?systematisches Fehlverhalten? einzelner Krankenhäuser aufzudecken.

Intensivmediziner fordern Aufarbeitung und schnelle Digitalisierung
Wie ernst die Situation auf den Intensivstationen war, machte Prof. Dr. Christian Karagiannidis, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) und Leitender Oberarzt an der Lungenklinik Köln-Merheim, auf der Pressekonferenz der DGIIN, deutlich [1]. ?Wir hatten bei uns in Köln viele Tage, da war kein einziges Intensivbett mehr frei, wir mussten COVID-19-Patienten kilometerweit auslagern, in andere Kliniken transportieren. Wir waren an diesem Punkt und brauchten dringend Maßnahmen ? das war keine Übertreibung und es waren keine falschen Zahlen.?

War die Krisenkommunikation aus seiner Sicht zu alarmistisch? ?Wir müssen uns da kritisch hinterfragen und ja, wir haben gewisse Dinge akzentuiert ? der Hintergrund war aber, dass jeder zweite COVID-19-Patient auf Intensiv gestorben ist und dass das Personal überlastet war?, erinnerte Karagiannidis.

Er betonte, dass verschiedene Lehren aus der Pandemie gezogen werden müssten. So sollten die pandemischen Daten von Think Tanks aufgearbeitet und analysiert werden. Wichtig sei, die Digitalisierung voranzutreiben und die Real-Time-Erfassung der betreibbaren Intensivbetten und des verfügbaren Personals umzusetzen. ?Eine Real Time Erfassung wäre extrem hilfreich ? hätten wir die jetzt in der Pandemie schon gehabt, wären wir unabhängig von den individuellen Eingaben der Krankenhäuser gewesen.?

DIVI: Daten des Intensivregisters zu jeder Zeit belastbar
Im Bericht des BRH heißt es, dass nach Ansicht des RKI die ans DIVI-Zentralregister gemeldeten Daten ?nicht mehr für eine Bewertung der Situation geeignet? gewesen seien. In einer Stellungnahme weist das die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ausdrücklich zurück: ?Das DIVI-Intensivregister und die hierin abgefragten Daten aller Intensivstationen mit Akutversorgung in Deutschland, rund 1.330 an der Zahl, sind und waren zu jeder Zeit belastbar ? zur Bewertung der Pandemie und der Lage auf den Intensivstationen.? Als wissenschaftliche Fachgesellschaft stütze man die Aussagen nicht auf einzelne Daten und nicht auf eine einzige Quelle.

?Selbstverständlich gleichen wir Meldungen im DIVI-Intensivregister mit anderen Daten und weiteren Experten ab. Die DIVI hat keinen Hinweis darauf, dass eine bewusste Falschmeldung der Krankenhäuser erfolgt ist. Wir weisen den Verdacht entschieden zurück, Kliniken würden sich im großen Stil durch bewusste Falschmeldungen bereichern?, stellt die DIVI klar.

Wir weisen den Verdacht entschieden zurück, Kliniken würden sich im großen Stil durch bewusste Falschmeldungen bereichern. DIVI
Neben den ?freien betreibbaren Betten? seien im Intensivregister zahlreiche weitere Indikatoren erfasst worden (freie Beatmungskapazitäten, freie ECMO-Kapazitäten, Bewertung der Situation nach dem Ampel-Prinzip). So habe sich ein eindeutiges und umfassendes Bild der Lage ergeben, dass sich mit der Wahrnehmung zahlreicher Kollegen gedeckt habe. ?Die Intensivstationen waren voll, teilweise überlastet, die Zahl der schwerkranken COVID-Patienten stieg steil an, Patienten mussten überregional verlegt werden?, schreibt die DIVI.

... link (0 Kommentare)   ... comment