Mittwoch, 13. April 2022
Giftgas-Einsatz in der Ukraine?
Ein Blick in die Geschichte und die medizinischen Folgen einer solchen Barbarei
Dr. Thomas Kron


Seit Beginn des Krieges in der Ukraine besteht die große Sorge, dass Putin und seine Handlanger außer zu Atomwaffen auch zu chemischen und biologischen Kampfstoffen greifen. Nun besteht zum ersten Mal der Verdacht, dass es in Mariupol zu einer chemischen Attacke gekommen ist.

Die Kriegsführung der russischen Armee in der Ukraine, in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und auch in Syrien lässt keine Zweifel daran, dass Putin ? ganz in der Tradition von Josef Stalin ? zu dieser Barbarei fähig ist.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereitet sich daher auch auf mögliche Angriffe mit chemischen Kampfstoffen in der Ukraine vor. ?Wegen der gegebenen Ungewissheiten der gegenwärtigen Lage gibt es keine Sicherheiten, dass der Krieg nicht noch schlimmer werden kann?, so Hans Kluge, WHO-Chef für Europa. Die WHO ziehe alle Szenarien in Erwägung. Das reiche von der Behandlung massenhafter Verletzter bis hin zu chemischen Angriffen.

Wegen der gegebenen Ungewissheiten der gegenwärtigen Lage gibt es keine Sicherheiten, dass der Krieg nicht noch schlimmer werden kann. Hans Kluge
Es begann im April 1915
Was ein Einsatz von Giftgas bereits vor über 100 Jahren, lange vor Entwicklung moderner Nervengifte, bedeutete, beschreibt ein Beitrag in der Zeitschrift Wehrmedizin und Wehrpharmazie am Beispiel des Chlorgas-Angriffes Deutschlands im April 1915, des ersten großflächigen Einsatzes eines chemischen Kampfstoffes [1]. Mit ihm habe die massive chemische Kriegsführung ihren Anfang genommen, so der britische Historiker Prof. Dr. David Stevenson, Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics, in seinem Buch ?1914-1918. Der Erste Weltkrieg?.

Die Wirkung der neuartigen Waffe bei dem Einsatz an der Front vor der Kleinstadt Ypern in Flandern hat der spätere französische General Henri Mordacq dann 1933 in seinem Buch ?Le Drame de l?Yser: Surprise des gaz (avril 1915)? so beschrieben [1]:

?Man konnte am Ufer des Kanals nur noch einige gelbliche Rauchschwaden erkennen, als wir uns aber Boesinghe auf drei oder vierhundert Metern genähert hatten, fühlten wir heftiges Prickeln in der Nase und Kehle, in den Ohren sauste es, das Atmen fiel uns schwer; ein unerträglicher Chlorgeruch umgab uns.? In der Nähe des Dorfes war das Bild, das sich uns bot, mehr als bedauernswert, es war tragisch. Überall Flüchtende: Landwehrleute, Afrikaner, Schützen, Zuaven, Artilleristen ohne Waffe, verstört mit ausgezogenen oder weit geöffneten Röcken, abgenommener Halsbinde liefen wie Wahnsinnige ins Ungewisse, verlangten laut schreiend nach Wasser, spuckten Blut, einige wälzten sich sogar am Boden und versuchten vergeblich, Luft zu schöpfen.?

Die Soldaten, meist aus den französischen Kolonien, seien völlig überrascht worden, hätten schwere Erstickungssymptome gezeigt, aspiriert oder Anzeichen von schwerer Dyspnoe aufgewiesen. Panik sei ausgebrochen, die Truppe habe ? soweit noch möglich ? die Stellungen verlassen und sei nach hinten davongerannt.

Schwere Schädigung der Atemwege und der Lunge
Bei dem bei Ypern eingesetzten Chlor handelte es sich um einen schwer lungenreizenden bzw. ätzenden Kampfstoff, der konzentrationsabhängig vor allem in den Atemwegen wirkt. Bei den schweren Vergiftungen erfolgte laut dem Beitrag in der Fachzeitschrift innerhalb weniger Minuten der Gastod ?unter dem Gesamteindruck akuter Erstickung mit gleichzeitig schwerster chemischer Schädigung des Lungenparenchyms?.

Bei vielen Soldaten sei ein akutes Lungenödem aufgetreten, das auch Tage später noch habe tödlich verlaufen können. Die Sektionsprotokolle der Feldprosektoren hätten hier eine erhebliche Gewichtszunahme der Lungen mit schaumigen hämorrhagischen Ödemen und partiellen Emphysemen bis hin zu Pleuraergüssen notiert. Spätfolgen seien zuweilen Bronchopneumonien bis hin zu Lungenabszesse und -gangrän gewesen.

Beteiligt an der Entwicklung der chemischen Kampfstoffe war übrigens ein renommierter deutscher Wissenschaftler: Nobelpreisträger Prof. Dr. Fritz Haber , Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Dahlem und durch die Entdeckung der Ammoniaksynthese bereits weltberühmt: Er ?sollte als Abteilungsleiter im Allgemeinen Kriegsdepartment zum zentralen Angelpunkt für die ?volle wissenschaftliche und organisatorische Leitung von Gasforschung, Produktion und Gasschutz? avancieren.?

Das Jahrhundert der chemischen Waffen
Obgleich der Einsatz von ?vergiftenden Waffen? schon vor dem Ersten Weltkrieg durch die Haager Landkriegsordnung geächtet worden war und dann 1925 im Genfer Protokoll die Anwendung von Giftgasen und bakteriologischen Mitteln verboten wurde, ging die Entwicklung chemischer Kampfstoffe weiter.

Und auch auf den Einsatz wurde in mehreren Kriegen nach dem ersten Weltkrieg nicht verzichtet. Als das ?Jahrhundert der chemischen Waffen? wurde das 20. Jahrhundert 2013 in der New York Times bezeichnet. Die Nationen hätten zwar ein Jahrhundert lang dafür gekämpft, die Geißel der chemischen Waffen zu stoppen. ?Doch ihr Einsatz gehe weiter??

Sarin-Einsatz in Syrien
Zu einem schrecklichen Verbrechen mit chemischen Kampfstoffen kam es erst vor wenigen Jahren, und zwar 2017 in Syrien, in der Provinz Idlib. Nach Angaben der oppositionellen Gesundheitsbehörde von Idlib wurden durch das freigesetzte Giftgas, das Sarin oder eine ähnliche Substanz enthielt, mindestens 74 Menschen getötet und mehr als 557 Personen verletzt. Im syrischen Bürgerkrieg war dieser Angriff der tödlichste Einsatz von Chemiewaffen seit dem chemischen Angriff in Ghouta im Jahr 2013, berichtete die BBC .

Ein Forscherteam hat sich mit den medizinischen Folgen eines Sarin-Angriffes bei Menschen befasst, die in einem Krankenhaus in Nord-Syrien eingeliefert wurden. Für ihre Studie werteten die Ärzte die Krankenakten von Patienten mit Verdacht auf Sarin-Exposition aus. Für 17 Patienten mit Anzeichen einer Sarin-Gas-Exposition lagen detaillierte Krankenakten vor. Das Durchschnittsalter betrug 29,1 Jahre (Spanne 4 bis 70 Jahre). 6 Patienten waren männlich (35,3%), und 4 (23,5 %) waren Kinder unter 18 Jahren.

Bei der Erstvorstellung litten nach Angaben der Autoren alle Opfer unter Atemnot aufgrund einer schweren Entzündung der Atemwege, an Brustschmerzen und ophthalmologischen Symptomen. Alle Patienten wiesen in unterschiedlichem Maße intestinale, neurologische und dermatologische Symptome auf.

Die Therapie bestand aus der Gabe von Sauerstoff, Atropin, Bronchodilatatoren, Dexamethason, Antiemetika, Paracetamol und Ranitidin. 13 Patienten (76,5%) hätten sich rasch gebessert und das Krankenhaus innerhalb von 24 Stunden verlassen können; vier Patienten hätten länger als 24 Stunden stationär behandelt werden müssen, 2 auf der Intensivstation. Überlebt hätten alle Patienten.

Von Sarin über VX zu Nowitschok
Sarin (GB, O-Isopropylmethylphosphonofluoridat) ist ein starkes Nervengift, das die Acetylcholinesterase (AChE) irreversibel hemmt. Die Anhäufung von Acetylcholin (ACh) im Zentralnervensystem führt zu Krampfanfällen und bei ausreichenden Dosen zum Atemstillstand. Opfer entwickeln eine Miosis, Atembeschwerden und einen allgemeinen Verlust der Körperfunktionen aufgrund der kontinuierlichen Stimulation von Muskeln, Drüsen und des ZNS.

Sarin wurde zuvor ? in den 1990er-Jahren ? bei 2 Terroranschlägen in Japan eingesetzt. Beim Matsumoto-Anschlag von 1994 führte die Inhalation von Sarin bei mehreren Opfern zum sofortigen Tod durch Atemstillstand, während andere schwer verletzte Opfer, die sich im Koma und mit generalisierten Krämpfen präsentierten, erfolgreich reanimiert sowie behandelt werden konnten und sich rasch erholten, ohne dass es zu Folgeschäden kam.

Ein noch nicht lang zurückliegendes Verbrechen mit einem solchen ?Nervengift? war auch die Ermordung von Kim Jong-Nam (ältester Sohn von Nordkoreas Ex-Machthaber Kim Jong-il) im Jahr 2017 mit dem Sarin-ähnlichen Nervengift VX.

Besonders große Aufmerksamkeit haben in jüngster Zeit die Giftanschläge auf Sergej Skripal und vor allem Alexej Nawalny geweckt, bei denen Nowitschok oder neuere Wirkstoffe verwendet wurden, die noch stärker sind als VX. Was solche ?modernen? Gifte oder Hemmstoffe der Acetylcholinesterase bewirken können, haben Ende 2020 Ärzte der Charité ausführlich beschrieben; in diese Klinik ist bekanntlich Putin-Gegner Nawalny nach seiner Vergiftung eingeliefert worden.

Wie von Univadis berichtet war Nawalny mehrere Tage in einem sehr kritischen Zustand und wurde erst nach 33 Tagen aus der Klinik entlassen. Bei der letzten Nachuntersuchung am Tag 55 sei der inzwischen in Russland inhaftierte Politiker dann neurologisch allerdings wieder nahezu gesund gewesen.

Ausreichender Schutz und medizinische Versorgung der Bevölkerung möglich?
Eine Frage, die sich aufdrängt, ist die, ob eine Bevölkerung vor einem Einsatz von chemischen Kampfstoffen geschützt werden könnte und ob die Folgen zu bewältigen wären.

Kein Gesundheitssystem könne die Zahl der Verletzten und der Krankenhausaufenthalte nach einem großen Chemiewaffenangriff bewältigen, heißt es dazu in einem Beitrag des französischen Journalisten Thomas Detombe auf dem Fachportal ?MediQuality? .

Detombe verweist in seinem Beitrag auf einen Vortrag des Notfallmediziners Prof. Dr. Peter De Paepe, Universität Gent. Um das potenzielle Ausmaß etwa eines terroristischen Anschlages anzudeuten, präsentierte De Paepe die Simulation eines Chemieangriffs auf einen Chlorgaslagertank. Dabei dringen Terroristen in ein Industriegelände ein und versuchen, einen Chlorgastank aufzubrechen. Dazu reicht ein wenig Sprengstoff aus. Die freigesetzte Chlorgaswolke bewegt sich in Richtung städtischer Gebiete und führt zu 17.500 Todesfällen, 10.000 Schwerverletzten und 100.000 Krankenhauseinweisungen. Zahlen, mit denen kein Gesundheitssystem angemessen umgehen könne, so der Notfallmediziner und Toxikologie.

Das dürfte auch für das deutsche Gesundheitswesen gelten. ?Deutschland ist gut vorbereitet?, heißt es zwar in der ?Katastrophen-Fibel? des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. In Deutschland gebe es viele Einrichtungen, die bereit stünden, Gefahren zu bannen. Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienste seien zur alltäglichen Hilfe da. Die Katastrophenschutz-Organisationen und das Technische Hilfswerk stünden bei großflächigen Krisen und Katastrophen helfend zur Verfügung. Ergänzt würden sie im Notfall durch weitere Hilfskräfte, z.B. von der Bundespolizei oder der Bundeswehr.

Aber, so heißt es weiter, ?auch die beste Hilfe ist nicht immer sofort zur Stelle. Bei einer großflächigen und sehr schweren Katastrophe können die Rettungskräfte nicht überall sein. Wenn Sie sich und Ihren Nachbarn selbst helfen können, sind Sie klar im Vorteil. Es kommt dann auf jeden Einzelnen an.?

Bei einer großflächigen und sehr schweren Katastrophe können die Rettungskräfte nicht überall sein. Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Das stimmt nicht übermäßig optimistisch. In Kombination mit der Erinnerung an Katastrophen wie der Flutkatastrophe im Ahrtal und der Erfahrung, dass es fast gesetzmäßig eine unglückliche Verkettung der Umstände gibt, könnte sogar Pessimismus überwiegen.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Entwarnung aus der Wissenschaft: Keine Assoziation zwischen Gehirntumoren und Mobilfunk bei Kindern
Wissenschaftler finden in der groß angelegten MOBI-Kids-Studie keine Assoziation zwischen der Nutzung mobiler Technologien und dem Risiko von Gehirntumoren. Damit bestätigen sie ältere Studien.

Die Nutzung von Mobiltelefonen und DECT-Telefonen erhöht das Risiko für Hirntumoren bei Kindern und Jugendlichen nicht. Das legen die Ergebnisse der kürzlich veröffentlichten internationalen MOBI-Kids-Studie nahe. Auch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) teilt diese Einschätzung.

?Die neuen Ergebnisse tragen dazu bei, wissenschaftliche Restunsicherheiten auch mit Blick auf Kinder und Jugendliche zu verringern?, sagt Inge Paulini, Präsidentin des BfS. ?Sie bestätigen, dass die im Mobilfunk geltenden Grenzwerte Erwachsene und Kinder schützen.?

Die neuen Ergebnisse tragen dazu bei, wissenschaftliche Restunsicherheiten auch mit Blick auf Kinder und Jugendliche zu verringern. Inge Paulini
Hohe Aussagekraft durch große Datenbasis
Ein Blick auf Details: Für die großangelegte MOBI-Kids-Studie untersuchte Wissenschaftler das Nutzungsverhalten von rund 800 Kindern und Jugendlichen, die im Alter zwischen 10 und 24 Jahren an einem Hirntumor erkrankt sind. Verglichen wurden die Daten mit denen einer Kontrollgruppe. Informationen zu Dauer und Häufigkeit der Nutzung von Mobiltelefonen und DECT-Telefonen wurden in Interviews erhoben.

Insgesamt nahmen die Forscher zwischen 2010 und 2015 rund 2800 junge Menschen aus 8 europäischen Ländern ? darunter Deutschland ? sowie Israel, Australien, Kanada, Japan, Korea und Neuseeland in die Studie auf.

Wie die Auswertung der Daten nahelegt, war das Risiko an einem Hirntumor zu erkranken bei regelmäßiger Nutzung von Mobil- und DECT-Telefonen in der Studie nicht höher als für Personen ohne Nutzung der Technologie.

Es zeigte sich sogar ein tendenziell sinkendes Erkrankungsrisiko mit der Intensität und der Dauer der Nutzung, insbesondere in der Altersgruppe der 15 bis 19-Jährigen.

Hier vermuten die Autoren eine methodische Verzerrung ? etwa, weil Angaben zum Nutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen mit Hirntumoren teilweise von den Eltern abgegeben wurden. Eine andere Erklärung wäre, dass sich bei jungen Patienten das Nutzungsverhalten aufgrund von Symptomen der Erkrankung, die bereits vor der Diagnose vorlagen, verändert haben könnte. Es gibt keinen Grund für die Annahme eines schützenden Effekts bei Mobilfunknutzung.

Ergebnisse der MOBI-Kids-Studie decken sich mit denen früherer Studien. Durch ihren Umfang und den hohen Anteil an Langzeit-Nutzer verfügt sie jedoch über eine deutlich aussagekräftigere Datenbasis als bisherige Studien, insbesondere für jugendliche Personen.

Abschätzung möglicher Effekte elektromagnetischer Strahlung auf Kinder und Jugendliche
Zum Hintergrund: Die Nutzung von Mobiltelefonen, Smartphones und Tablets hat in den letzten Jahren stark zugenommen, auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Auswirkungen elektromagnetischer Felder auf die Gesundheit junger Menschen sind jedoch im Vergleich zur robusten Studien- und Datenlage bei Erwachsenen weniger gut erforscht. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), die Strahlenschutzkommission (SSK) sowie Strahlenschutzorganisationen im In- und Ausland haben in der Vergangenheit immer wieder den Forschungsbedarf in diesem Bereich angemahnt.

Ermöglicht wurde die MOBI-Kids-Studie 2009 mit finanzieller Unterstützung der EU-Kommission und weiteren Projektpartnern aus den 14 Teilnehmerländern. Das BfS förderte im Rahmen der Ressortforschung die Auswertung der Daten aus Deutschland. Der Abschluss der Untersuchung und die Publikation Ende Dezember 2021 in der Zeitschrift Environment International ist deshalb nicht nur für den Strahlenschutz in Deutschland von Bedeutung.

Das betont auch Paulini: ?Das Projekt MOBI-Kids demonstriert die Bedeutung einer international kooperierenden und interdisziplinären Strahlenschutzforschung. So angelegte Studien garantieren eine breite Datenbasis, die verlässliche Informationen liefert. Das BfS unterstützt daher die internationale Forschungsvernetzung.?

Dieser Beitrag ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Habeck in Katar
Ist Hassan al Thani eigentlich ein lupenreiner Demokrat?

... link (0 Kommentare)   ... comment