Dienstag, 4. Januar 2011
Völlig außerhalb des Diskurses
Wo zurzeit schon so vielfältig über sexistische, rassistische usw. Diskursmuster debattiert wird möchte ich anekdotisch auf einen alten Schnack zurückkommen, der ein klein wenig die Differenz zwischen Alltagserfahrung und abstrakten Theoriedebatten aufgreift. Ich diskutierte vor einigen Jahren mal mit einer Feministin über Hate Speech, verbale Sexismen und die Frage, ob die sich schichtspezifisch unterscheiden würden. Meine These war die, dass sexistische Umgangs- und Verhaltensweisen in allen Gesellschaftsschichten in etwa gleich stark verbreitet seien, sich aber höchst unterschiedlich manifestierten - bei Bürgers eher in Form von geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen, die mit sozialer Selektion/Segregation/Hierarchisierung aus der Perspektive von oben nach unten gesehen gekoppelt sind (die Projektion grob sexistischer Verhaltensweisen auf Unterschichten, die Wahrnehmung sexueller "Devianz" als Verhalten unterhalb der eigenen Klasse, die "primitive Schlampe", der "dumpfe Lustmolch", die "perversen Homos" usw.), bei Prols eher im Sinne einerseits einer Verlagerung eben genau der sog. "Devianz" eher nach oben (Homos, BDSMer und andere seien "bürgerlich-dekadent") und allgemein den Gebrauch einer gröberen Sprechweise. Sie hingegen vertrat den Standpunkt, die Oberschicht sei insgesamt sexistischer als die Unterschicht. Mir schien dies darauf hinauszulaufen, das Proletariat insgesamt sozusagen vom Mittragen des Patriarchats ein Stück weit freisprechen zu wollen und Letzteres sehr eng mit der herrschenden Klasse gleichzusetzen. Wir kamen von Höckchen auf Stöckchen, und schließlich berichtete ich etwas, das sich in meinem Bekanntenkreis zugetragen hatte.

Drei Genossinnen von mir hatten sich kurzfristig auf einer Baustelle als Handlangerinnen verdingt. Ihnen gefiel die Arbeit, war zwar ein Knochenjob, sie nahmen den aber sportlich und fanden es nett, von den Bauarbeitern angehimmelt oder doch zumindest mit Komplimenten versorgt zu werden. Doch eines Tages bestellte der Chef sie zu sich und meinte, man müsste sich voneinander trennen, sie gefährdeten den Arbeitsfortschritt auf der Baustelle. Wieso, entgegneten sie, sie arbeiteten doch fleißig, das Klima wäre auch sehr kollegial, wo läge denn das Problem. Der Chef druckste ziemlich lange herum, dann meinte er, das Problem bestehe darin, dass die Bauarbeiter eine bestimmte Sorte von Kalksandsteinen, die in der Mitte ein sphärisch-ovales Loch hätten wegen der Form dieses Lochs als <frauenfeindliches Wort mit F> bezeichneten. Da sie alle bemüht seien, die drei Ladies höflich zu behandeln, sei es nicht mehr möglich, laut über die Baustelle "Günter, bring mal ne Karre mit ****** rüber!" zu brüllen, und deshalb kämen die Steine nicht an ihren Platz.

Meine Gesprächspartnerin ging ziemlich hoch und meinte, so ein abgefahrener durchgeknallter Kram hätte doch überhaupt nichts mit feministischen Diskursen zu tun. Ich machte damals Marketing für ein Unternehmen der Bauindustrie und antwortete "Wie sich Bauarbeiter gegenüber Frauen verhalten, hat mit meinem momentanen Leben sehr viel mehr zu tun als die von Dir angesprochenen Diskurse!" Und sie meinte dann: "Cut. Da weiß ich nicht mehr weiter."

Bis heute fällt mir dazu auch keine Lösung ein, finde aber den grobschlächtigen Sprachgebrauch viel harmloser als komplexe sexistische Zuschreibungsmuster "von oben", und meine Genossinnen fanden das eher abgefahren-komisch als bedrohlich.

... comment

 
Fanden die das vielleicht deswegen abgefahren-komisch, weil sie selber nicht zur Schicht der Malocher gehörten und das Ganze für sie ein Ausflug in eine exotische Welt war? Als ich als Studentin in einer Fabrik arbeitete trug ich mal keinen BH weil es sehr heiß war, und die Nippel guckten durchs T-Shirt, da meinte eine Kollegin: "Heute trägst Du kein Geschirr. Will das Pferdchen geritten werden?"


Diese Sprache würde ich nicht überbewerten.


Und wenn die als Männer untereinander von Fotzen sprachen, das aber in Gegenwart von Frauen vermieden, würde ich das zunächst mal als Form von Respekt werten. Du willst nicht wissen, wie wir manchmal intern über Kerlinger reden. Und doch verkehren wir mit Euch. Ihr bemackten Fickschwänze mit Euren lächerlichem Imponiergehabe macht ja auch echt Spaß.

... link  

 
Während die Deutschen vulgärsprachlich allgemein analfixiert sind (Scheiße, Arschloch), sind die Russen genitalfixiert ( khui = Schwanz, pizda = Fotze; idi na khui = "hau ab", aber auch "kaputt-/verloren gehen", ne pizdi = "Halt's Maul!").

Müssen wir also im Sinne des OP bestimmte Schlüsse bezüglich der Russen ziehen?

... link  

 
Das mit der Genitalfixierung gilt nicht nur fürs Russische, sondern auch fürs Englische (fuck), Französische (putain), Spanische (coño) und (soweit mich meine Linguistik-Kenntnisse nicht täuschen) überhaupt für die meisten Sprachen, so dass hier eher das Deutsche in seiner Analfixierung erklärungsbedürftig wäre.
(Im Türkischen gibt es beide Fluchformen etwa gleich häufig: bok ye "Friss Scheiße neben ananı sikim "Ich ficke deine Mutter" u.ä.)

... link  

 
Ja das stimmt, fuck wird etwa dann gesagt, wenn man im Deutschen Scheiße sagen würde. Übrigens gibt es im Arabischen, zumindest im Ägyptischen diese ganze Kategorie Kraftausdrücke gar nicht, sondern stattdessen eher blumige Flüche ("Demerek ishti via Ful = Dein Kopf ist mit weich gekochtem Bohnenmus gefüllt" u.ä.).


Ägyptische Witze sind auch frei von ernsteren erotischen Anspielungen und klingen für uns sonderbar unschuldig.


Kenne übrigens kluge Leute, die die Exkrementlastigkeit der deutschen Schimpfsprache im Gegensatz zur Genitalisierung in anderen Sprachen als Zeichen für eine besondere Verklemmtheit der Deutschen werten.

... link  

 
selber ein kind aus buergerlichem hause kann mich noch heute an meine tiefe abscheu als unfreiwilliger zuhoerer eines dialoges in der strassenbahn erinnern (vollgestopft mit ford-arbeitern auf dem wege zur arbeit). der offensichtlich frisch am vortag gewordende vater wurde von seinen kollegen beim einsteigen gefragt "krücke oder loch?" worauf der vater stolz mit "loch" antwortete - ein mädchen also.

die jungs hätten bestimmt ihre steine bekommen...und im theoretischen diskurs würde man das wahrscheinlich reduktion auf das wesentliche nennen.

... link  

 
@che, 10:26:
Das kann man auch genausogut rumdrehen: Dass Sexualität anderswo mehr zum Fluch taugt, zeigt den dort höheren Grad an Tabuisierung ("no sex please, we're british!"). Und was an "bloody" (selbst wenn Menstruationsblut gemeint sein sollte), so obszön und shocking sein soll, versteht man hierzulande auch nicht so recht.

Die Franzosen, denen man keine besondere Verklemmtheit nachsagt, fluchen auch mehr mit "merde" als mit Fickkram (die einschlägigen Vokabeln habe ich tatsächlich vergessen).

... link  

 
Ich pflege sekretfrei und appetitlich stets nur "Palim, palim" zu fluchen.

... link  

 
@mark793: 'bloody' ist (nach primär gängiger Ethymologie) eine religiöse Blasphemie. Der Begriff ist wohl zusammengezogen aus 'by Our Lady', und das fand man mal sehr lästerlich. Vielleicht gerade wegen der assoziierenden Verknüpfung von Heiliger Jungfrau und (Menstruations-)Blut.

... link  

 
Der Spanier flucht "Hostia!" oder auch "Hostia y mierda!"

... link  


... comment