Montag, 1. April 2013
Rechtfertigung
Der G. meinte kürzlich in einem Gespräch, dass meine Antwort sehr harsch und aggressiv rübergekommen wäre und fragte mich, ob ich meine, mich rechtfertigen zu müssen, es höre sich so an, dazu gäbe es ja keinen Grund. Ich dachte darüber nach. Ich fürchte, dass ich mir selber im Lauf meine Lebens sehr viele Türen dadurch zugeschlagen habe, weil ich so reagiert habe, als ob ich mich rechtfertigen müsste. Aber - ich muss mich rechtfertigen! Mindestens seit ich 4 Jahre alt bin lebe ich in dem Gefühl, mich für meine pure Existenz rechtfertigen zu müssen. Dass mich jemand so akzeptiert wie ich bin ist für mich eine Ausnahmeerfahrung. Im Allgemeinen bin ich bemüht, meine Gefühle zu verbergen, rede zwar sehr offen darüber, was ich fühle und denke, habe mein Herz auf der Zunge, bin aber regelmäßig entsetzt, wenn mir nahestehende Leute (also: so nahestehend wie eine gute Freundin, mein Vater, mein bester Kollege usw.) aus meinem Gesichtsausdruck ableiten, wie es mir geht. Das sollte eigentlich niemand mitbekommen, ich nehme es als mein persönliches Versagen wahr, wenn das jemand merkt.



Es ist absurd: Ich weiß, dass ich als Einziges meiner Geschwister gezielt gezeugt wurde, als absolutes Wunschkind. Und ich nahm mich seit früher Kindheit als "Mißgeburt" wahr, als jemand, der eigentlich gar nicht da sein sollte.

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eins scheint mir hier nicht ganz konsistent: dass du "das Herz auf der Zunge hast", einerseits, andererseits aber manchmal "barsch", usw., genervt reagierst. G. hätte ja sicherlich nicht nachgefragt, wenn er nicht der Ansicht gewesen wäre, dass zum Sich-Rechtfertigen gar kein Anlass bestanden hätte. So eine Frage kann ziemlich fies beabsichtigt sein, weil psychologisierend, "Du armes Würstchen glaubst, Dich immer rechtfertigen zu müssen". Paul Watzlawick lässt grüßen.

So hatte ich deinen an die Anekdote anschließenden Satz "Aber - ich muss mich rechtfertigen!" gelesen. Also:

- Glaubst Du Dich rechtfertigen zu müssen?

- Soll ich mich jetzt rechtfertigen, weil ich mich so fühle, als müsste ich mich immer rechtfertigen?

- Du bist echt aufm Rechtfertigungstrip!

Es kommt natürlich auf die Situation, den Tonfall und eure Beziehung allgemein an. Eine Klarstellung, dass das Gesagte nicht als Vorwurf gemeint war, hätte eigentlich sonst ausgereicht, möglw. war es auch so gemeint. Oder ein freundliches: "Das hast Du aber mal wieder sehr charmant gesagt, danke dafür!"

Sieht mir ziemlich nach ner Watzlawick-Konszellation aus: sorrysorrysorry, ich musste mich immer rechtfertigen, was dazu führte, dass ich immer glaubte, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich das Gefühl habe, mich rechtfertigen zu müssen, das liegt alles nur daran, dass ich das Gefühl hatte, mich rechtfertigen zu müssen, wenn ich mich nicht ständig rechtfertigen müsste, würde ich mich dafür nicht immer rechtfertigen müssen, sorry, aber das musste gerechtfertigt sein, meine Rechtfertigungen, sorry.

Watzlawick zufolge stellen solche iterierenden Ketten für den Alltagsverstand sehr bald eine Überforderung dar. (Du hast gesagt, dass ich gesagt habe, du hättest gesagt, ich hätte gesagt, du habest gesagt, ich hätte ....)

Daher verwende ich solche Interventionen wie die von G. nur in Notfallsituationen. Wenn gar nichts mehr geht. Oder ich es auf Streit oder Zerwürfnis angelegt habe. Aber dann ist die Trennung meist ja schon vollzogen; und die Anhänglichkeit einer Person sadistisch auszunutzen liegt mir nicht. Solche Szenen spielen sich gerne ab, wenn Abhängigkeitsverhältnisse bestehen; kenn ich von meinem Alten, der manchmal ganz schön den Zyniker raushängen ließ. Also in Ehen.

Das 'Herz auf der Zunge' zu haben ist vielleicht eine Option, um sich (und vermeintlich andere) von den eigenen Gefühlen abzulenken. Daher möglw. die oben erwähnte Inkonsistenz.

Kenne ja G. nicht, aber manchmal ist eine "barsche" Antwort ja vielleicht durchaus auch passend.

Nichtsdestotrotz reicht es meiner Erfahrung nach aus, schmerzhafte Erkenntnisse, wenn sie sich einstellen, einmal ausgesprochen zu haben.

So, jetzt habe ich den Psycho-Doctor gegeben, jetzt kommt Eso-Ziggev: Bhagwan schlägt vor, in Abgrenzung zu den "objektiven" Wissenschaften, nicht nur die äußere Welt zu akzeptieren, sondern auch eine innere hypothetisch anzunehmen. Die ließe sich ebensogut erforschen; die "Wissenschaft" hierzu sei Meditation. Ich will dir keine der auf dem Markt herumwimmelnden Therapieangebote anempfehlen. Es gibt ja bekanntlich das Phänomen des Übertherapiert-Seins. Sowas führt möglw. dazu, dass therapeutische Methoden, Erfahrungen etc. einen nur von den eigenen Gefühlen ablenken.

Aber wie auch immer, hast du es mal ausprobiert, ganz die existenzialistische schweigsame Nummer durchzuziehen? Die Leute raussuchen, mit denen schweigsames Einvernehmen möglich ist? Kenne da son Lieblings-Gitarristen, mit dem das möglich ist. Manchmal langweilt es mich schon. Da bleibt nur noch die Philosophie!

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Wenn ich sage, dass ich fast immer meine mich rechtfertigen zu müssen dann ist das einfach so. Es geht mir oft so, dass ich mich dafür schäme, der zu sein, der ich bin, ich vermute sogar, dafür, dass es mich gibt. Ich habe das mit der Muttermilch eingesogen. Das heißt nicht, dass ich nicht auch oft stolz auf mich oder von mir Erreichtes bin, das kommt beides vor.

@Herz auf der Zunge: Generell habe ich ein sehr ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis, meine Kommunikationssstruktur ist wie die einer Frau und auch an weiblichen Vorbildern entwickelt, wirkt auf viele irritierend, dass ein Mann sich so verhält. Die Hemmschwelle, psychisch tiefergehendes herauszulassen fehlt bei mir weitgehend, in jungen Jahren, so als Abiturient und Student habe ich selbst intimste und schwerste persönliche Probleme ungehemmt im Kneipentischgespräch ausgebreitet.


Aber aktiv etwas von sich erzählen oder vom Anderen erkannt zu werden sind zwei verschiedene Dinge, und so gut ich mit Worten bin, so eingeschränkt ist bei mir die nonverbale Kommunikation, zumindest dann, wenn ich sie nicht bewusst einsetze. Dass jemand aus meinem Mienenspiel erkennt wie es mir geht nehme ich fast als Bedrohung wahr.


@Schweigen: Dafür, dass ich an Stellen schweige wo andere Antworten erwarten werde ich auch wiederum kritisiert;-)

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aber Scham, nicht als Argument gemeint, ist eine natürliche und um Aufrichtigkeit bemühte Haltung. Es ist eine philosophische Haltung. Irgendwo bei Nietzsche gelesen, so ungefähr: jemanden zum Erröten zu bringen ist eine Art Mord.

nochmal therapeutisch, auch wenn Nietzsche das nicht gern hätte, 'psychisch Tiefergehendes herauszulassen' - dazu muss man es erstmal auf den Begriff gebracht haben. Ich hatte mal nen Therapeuten, der sich immer um hochkorrektes Deutsch bemühte. "Ach so, Sie wurden von Ihren Eltern etwas vernachlässigt, so sagt man das."

Den Typen hätte ich sofort abgelehnt, aber er sprach ein vorzüglichstes Deutsch, wie es in irgendwelchen Kneipen wahrscheinlich nicht gesprochen wird. Psychische Ereignisse auf den Punkt zu bringen, das ist der Punkt.

Meine Ansicht ist halt, dass du mit deiner offenherzigen Art, mich nervt eigentlich immer nur noch das Macho-Gegenteil davon, dich biographisch in die falschen Kontexte hineinbegeben hast, Leute, die Nietzsche nicht gelesen hatten und das nicht zu schätzen wussten. Gleich der Psycho-Manier. Und welchen Schuh du dir dann auch mal manchmal angezogen hast.

Frei nach Nietzsche: Wählst Du den Weg des Schaffenden, wählst Du den Weg der Einsamkeit.

Hätte aber nie jemand gemusst, sich irgendwelche Schuhe anzuziehen, es geht darum, dass wir alle einsam sind, und damit potenziell Schaffende.

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Das kann man auf vielerlei Weisen betrachten.Ich hatte mal einen guten Freund, der kultivierte eine Haltung der generellen Schamlosigkeit und lebte nach dem Motto "Mir ist überhaupt nichts peinlich", weil er der Auffassung war, nur das sei eines Libertären würdig. Der konnte für Andere allerdings ziemlich anstrengend sein und manchmal richtig eklig.

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ja, stimmt, auch Schamlosigkeit ist eine philosophische Haltung. Und dass ich mich dergestalt in Dein Leben einmische, hat etwas von solcher (anstrengenden) Schamlosigkeit.

Diogenes von Sinope ist (war) mein Vorbild. Der sein einziges Kleidungsstück abwarf, seiner Freundin, eine Prostituierte, seinen zerschundenen Körper zeigte, und sinngemäß gesagt haben soll: "Dies ist mein zerschundener Korper, liebe mich so, wie ich bin, oder lass es!" Und der damit Erfolg gehabt haben soll.

Diogenes soll nicht nur am hellichten Tag Laternen zum Markt getragen haben (oder gerupfte Hähne als 'zweibeinige ungefiederte Wesen' in die Akademie), zum Zwecke der "Erleuchtung", kynische Freunde sollen - ich sehe das als antike Performance - öffentlich den Geschlechtsverkehr vollzogen haben (btw., das ist das Erste Mal, dass Philosophinnen, in diesem Fall ebenfalls Prostituierte, die Bühne betreten), Diogenes himself soll versucht haben, sich öffentlich auf dem Markte einen runterzuholen. Hab da mal hinterherrecherchiert, so richtig gegklappt scheint es nicht zu haben.

Kynos, der Hund, war das Vorbild. Es wird nur leider immer vergessen, dass der Hund in seiner Funktion mit seiner sozialen Kompetenz, aufzupassen und rechtzeitig zu warnen (bellen), besonders geschätzt wurde.

Hab jetzt keine Lust, da in eigener Sache nachzurecherchieren. Bei Bersarin oder so hab ich da mal ein Zitat gebracht, wo ein römischer Autor, dessen Name mir gerade nicht einfällt, sich über die Hippies=Kyniker beschwert, die immer nur zum Schnorren ankämen, zugleich aber voll des Lobes ist, was die Tugenden des Hundes (in meiner Lesart des Diogenes´) betrifft.

Habe die Diogenes-Lebensform ein paar Jahre ausprobiert, es klappt aber nicht. Jetzt halte ich mich mehr an Nietzsche. Scham ist ein Impuls, den jedes Kind versteht.

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Da ich bestimmte Teilaspekte meines Lebens öffentlich hier ausbreite und Du darauf reagierst sehe ich Deinerseits keine Schamlosigkeit. Mit Nietzsche kann ich offen gesagt wenig anfangen, obwohl einige seiner Texte, gerade aus dem Zarathustra schön sind. Halte mich da eher an Marx, Reclus oder die Kritische Theorie. Mein Weltbild ist ja eher so eine Verbindung aus Materialien für einen Neuen Antiimperialismus (Autonomie-Ansatz, der wiederum eine Synthese aus Dependenz-Theorie und Operaismus darstellt kombiniert mit Foucault und englischer ArbeiterInnengeschichte), Adorno, Poulantzas
http://de.wikipedia.org/wiki/Nicos_Poulantzas
und Bourdieu.

http://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Bourdieu

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Aber lassen sich diese Philosophen und Soziologen existenzialistisch lesen? So waren meine Hinweise auf Nietzsche und Diogenes gemeint. Was ich immer aus linkem Umfeld von Bourdieu kolportiert bekomme, steht schon klein-kleinst bei Proust. Wie im Habitus sich Klassen voneinander abgrenzen. Was dies betrifft, ist der profane Volks-Bourdieu echt banal, nun wirklich.

Zur Vertiefung habe ich dann mal in Sartres Flaubert-Analysen hineingeschaut. (Der Idiot der Familie) Madame Bovarie - das bin ich; der abgrundtiefe Hass gegenüber der eigenen Klasse. (Aufsteigertypen wie Flauberts Vater.)

Ich habe ja eingesehen, dass links-nietzscheanische Bewegungen, siehe im Stile Michel Onfrays, wenig bringen, es hilft aber nix, ich habe Adorno immer auch vor Allem mit existenzialsistischen Vorzeichen gelesen. Verantwortlich waren dafür nicht nur Kierkegaard, Camus, Sartre, Proust und Nietzsche, sondern auch Adorno himself.

Vielleicht wehre ich mich desh. immer so gegen marxistisches Herunterbrechen, weil mir die existenzialistische Dimension fehlt. Die haben wir aber bei Nietzsche, bei Adorno im Übermaß!

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Ob die sich existenzialistisch lesen lassen ist mir schnurz
Ich bin Poltikwissenschaftler, Historiker und ein Reststück immer auch noch politischer Aktivist. Mir geht es darum, ob und wie politische Theorien gesellschaftliche Prozesse erklären und als geistiges Rüstzeug für emanzipatorische Bewegungen taugen, weder um Literatur noch um Individuelles.

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Wenn Adorno sich antitoitsch lesen läßt, läßt er sich auch existenzialistisch lesen. Die Hanswursterei liegt im Auge des Betrachters.

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D`aquero, Companero noergler! Endlich, endlich tauchst Du mal wieder auf. Und da habe ich auch gleich gerade eine Kommentaranfrage an Dich:

http://netbitch1.twoday.net/stories/342793720/comments/342794598/edit

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ja, stimmt ja, nörgler, ...
Adorno "existentialistisch lesen" zu wollen, ist eine lexische Fehlleistung. Keine Frage. Manchmal wird nur der Kontext vom "es gibt kein richtiges Leben im Falschen" vergessen.

Wenn ich mich nicht ganz falsch erinnere, geht es um die Lebenssituation im Exil. Und hier geht es darum, wie, oder ob es geht, sich eine nicht-verlogene bürgerliche Existenz "irgendwo häuslich" einzurichten, wenn ich mal Wiki zitieren darf.

Hier spricht Adorno Klartext. Und ich erkenne mich wieder: in meiner Abscheu davor, mich irgendwie "häuslich einzurichten". Häusliches Leben, Mangel und Katastrophe, - es ist einfach konkret nicht machbar. Das Wahre kommt noch lange nicht zum Vorschein, wenn Du alles Falsche austilgst; wenn Du Deine Rechnungen nicht bezahlen kannst oder mal so locker jeden Monat zwei Wochen fast schon hungern musst, dann bekommen diese Worte schon einmal eine andere Wendung.

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Es geht mitnichten um die Lebenssituation im Exil, sondern um Wohnen. Mit dem Bezug auf "häuslich einrichten" allerdings hast Du dann doch noch die Kurve gekriegt, aus der Du mit "Exil" schon geflogen warst.
Einfach nochmal die MM aufklappen. Der Text heißt "Asyl für Obdachlose".

(Der Don könnte das auch mal lesen.)

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Liebe Netbitch,
über Deine Worte 7. April 2013, 23:18 habe ich mich riesig gefreut!
Es ist jedoch im Sommer und Herbst 2012 eine tsunamiartige Woge an Baustellen über mir niedergegangen, die mir Kraft, Zeit, Nerv und Muße rauben, um in den von mir geschätzten Blogs zu kommentieren, obzwar ich das unendlich viel lieber täte als das, das zu tun ich gezwungen bin. Mehr als ein alle paar Monate erfolgenden Kurzkeucher geht schlichtweg derzeit nicht.
Niemandem tut das mehr leid, als mir selbst.

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vielleicht stört uns "Künstler" am politischen Denken, dass immer gerne in Kategorien einsortiert wird, während wir uns wirklich den Arsch abarbeiten, um neue Kategorien zu schaffen, subjektive, meinetwegen; solange wirkliches Kategorieendenken fehlt, werden wir - gegen euch - weitermachen.

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Der Nörgler scheint
in seiner Kreativpause ein neuer Mensch geworden zu sein. Dieser Ton... Ich gratuliere.

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Was Genova da macht,
nennt man gemeinhin "das Schicksal herausfordern" oder "Gott versuchen".

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