Montag, 3. August 2020
Verschwörungstheorien damals und heute: Auch bei der Pest 1720 wurde ein Epidemiologe Zielscheibe der Debatte
Verschwörungstheorien damals und heute: Auch bei der Pest 1720 wurde ein Epidemiologe Zielscheibe der Debatte
Dr. Thomas Kron, Medscape


Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat die These von der ewigen Wiederkehr des Gleichen aufgestellt. Damit scheint er nicht ganz falsch gelegen zu haben. So hat ein historischer Fall der Seuchenprävention durchaus Gemeinsamkeiten mit aktuellem Geschehen. Konkret geht es einerseits um 2 Wissenschaftler, und zwar um den Arzt Richard Mead und den Virologen Prof. Dr. Christian Drosten, sowie andererseits um Verschwörungstheoretiker.
Hitzige Debatten mit verschwörungstheoretischen Zügen
Verschwörungstheoretiker, die nicht an die Pandemie glauben, die finden sich nicht nur aktuell wie etwa bei der Corona-Demo am Wochenende in Berlin. Das gab es vor genau 300 Jahren Historikern zufolge schon einmal. „Als 1720 in Marseille die Pest ausbrach, ergriff England umfassende Quarantänemaßnahmen und provozierte damit hitzige Debatten mit verschwörungstheoretischen Zügen. Der noch wenig bekannte historische Fall zeigt verblüffende Parallelen zum heutigen Deutschland“, schreibt der Historiker PD Dr. André Krischer vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster [1].
Der noch wenig bekannte historische Fall zeigt verblüffende Parallelen zum heutigen Deutschland. PD Dr. André Krischer
Prävention: Angeblich überflüssig
„Wo heute auf ‚Corona-Demos‘ gegen eine ‚Neue Weltordnung‘ unter Führung von Bill Gates gewettert wird, kursierten damals Gerüchte über dunkle Machenschaften der Regierung. Es hieß, sie werde Freiheiten beschneiden, Militär im Land einsetzen und Familien voneinander trennen.“ Kritiker hielten jede Prävention für unnötig. „Manch einer meinte gar, die Seuche könne den Briten überhaupt nichts anhaben.“
Dass Seuchenprävention Verschwörungstheoretiker auf den Plan ruft, komme in der Geschichte immer wieder vor, so Krischer. „Paranoide Angst vor dem Errichten einer Diktatur, Sorge vor wirtschaftlichem Einbruch und ein Naturwissenschaftler im Zentrum der Kritik – die englische Debatte aus dem 18. Jahrhundert ähnelt auch in dieser Hinsicht unserer Gegenwart.“.
Der Historiker stellt den historischen Fall und strukturelle Ähnlichkeiten zur Gegenwart in einem Beitrag „Willkürherrschaft und Strafe Gottes“ im „Epidemien“-Dossier auf der Website des Exzellenzclusters der Universität dar. Krischer schildert sie anhand vielfältiger Quellen und Begebenheiten, etwa einer Flugschrift des Bischofs von London, Edmund Gibson (1669-1748), der grassierende „Lügen und Falschnachrichten“ unter seinen Zeitgenossen verurteilte.
In einem weiteren Beitrag schreibt Krischer gemeinsam mit den Fachkollegen Prof. Dr. Wolfram Drews und Dr. Marcel Bubert über die lange Tradition von „Verschwörungstheorien als Elitenkritik“.
Verschwörungstheorien – in England Tradition
Dass sich die Gemüter im 18. Jahrhundert gerade in England erhitzten, ist kein Zufall, wie der Historiker ausführt. „London hatte schon 1720 eine sehr selbstbewusste Öffentlichkeit mit Kaffeehäusern und einer einzigartig vielfältigen Presse- und Medienlandschaft, die von keiner Zensur mehr reglementiert wurde.“

Zudem hätten Verschwörungstheorien in England, das zudem damals unter dem Platzen der größten Spekulationsblase der Frühmoderne litt, eine lange Tradition: „Man dachte ständig in verschwörungstheoretischen Kategorien: Entweder fürchtete man sich vor der Unterwanderung durch ‚Papisten‘, also Katholiken, oder man unterstellte den jeweils Herrschenden, ein Arbitrary Government, eine Willkürherrschaft, errichten zu wollen.“
Auch auf religiöser Seite bestritt man die Maßnahmen der Regierung, so Krischer. Die Pest sei eine Strafe Gottes, besonders für London, diesen Sündenpfuhl der Ungläubigen, hieß es von den Kanzeln. Gegen die Seuche würden nur Fasten, Beten, Buße und die gefasste Vorbereitung auf den Tod helfen.
Misstrauen auch wegen Nähe zur Politik
Zur Zielscheibe der Debatte wurde 1720 – ähnlich wie heute der Virologe Christian Drosten – ein Arzt, Richard Mead (1673-1754), so Krischer. Diesem misstrauten viele Zeitgenossen aufgrund seiner strikten Empfehlungen zum Eindämmen der Pest, auch wegen seiner Nähe zur Politik und, anders als im heutigen Fall, seiner Religion, denn Mead war Quäker und nicht Anglikaner.
Epidemien sind Stresstests für Gesellschaften und können bestimmte diskursive Muster verstärken. PD Dr. André Krischer
„1720 wurde über den Sinn von Quarantäne gestritten, weil es noch viele Mediziner gab, die die Pest nicht für ansteckend hielten. 2020 schloss man Schulen und Kitas, während noch darüber gestritten wurde, ob Kinder überhaupt relevante Überträger des Corona-Virus seien.“
Offenbar lasse sich umso leichter ein „Skandal“ aus etwas machen, „wenn wissenschaftlich unsichere Expertisen politische Relevanz erlangen und zugleich mit Personen identifiziert werden können, mit dem Virologen Christian Drosten 2020 und dem Epidemiologen Richard Mead 1720/21“, so der Historiker.
Allerdings sei der „Resonanzraum“ für „Lügen und Falschnachrichten“ sowie Verschwörungstheorien in der Bevölkerung in beiden Fällen rasch wieder kleiner geworden. „Epidemien sind Stresstests für Gesellschaften und können bestimmte diskursive Muster verstärken.“
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de

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