Dienstag, 17. November 2020
Keine neuen Corona-Regeln; Moderna-Vakzine zu 94% wirksam; Teil-Lockdown wirkt zu schwach; Kliniken wollen Schutzschirm
Michael van den Heuvel, Sonja Boehm, Dr. Thomas Kron, Medscape

16. November 2020

Der Herbst hat begonnen – und die Zahl der SARS-VoV-2-Infektionen steigt nicht nur in Deutschland drastisch an. Wir informieren Sie in unserem Corona-Blog über aktuelle Entwicklungen, Studien und wissenschaftliche Dispute.

Update vom 16. November 2020
Die neuen Corona-Regeln

Zahl an Neuinfektionen bleibt weiter hoch

IGES-Institut: Lockdown verfehlt Wirkung

Fachgesellschaften fordern Schutzschirm für Kliniken

Kritik an Triage-Software der KV

Moderna mRNA-Vakzine ebenfalls mit über 90%iger Wirksamkeit in Phase 3

EMA beginnt „Rolling Review“ auch für Moderna-Impfstoff

Die geplanten neuen Corona-Regeln
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vertreter der Länder mahnen zur Vernunft

Derzeit keine neuen Maßnahmen geplant

Am 16. November trat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zusammen mit Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) nach der Schaltkonferenz vor die Presse. Wider Erwarten verkündete die Bundeskanzlerin keine weiteren Maßnahmen, sondern äußerte sich enttäuscht: „Die Länder wollen keine Zwischenrechtsänderungen, ich hätte mir Beschlüsse vorstellen können, die rechtlich umgesetzt werden.“

Momentan bleibt es beim Teil-Lockdown – und bei einem Appell: Merkel rief alle Bürger auf, ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum zu beschränken – auch Familien mit Kindern. Auf private Feiern oder Ausflüge sollte gänzlich verzichtet werden.

Merkel und Söder machten aber klar, dass etwaige Maßnahmen nur vertagt worden seien. Sie verwiesen auf die nächste Sitzung in einer Woche und kündigten an, die weitere Entwicklung zu bewerten. „Wir müssen sehen, wie es sich entwickelt. Deswegen kann man heute nicht sagen, was nächste Woche geboten ist“, so Merkel. Sie stellte ein längerfristiges Konzept in Aussicht. Schon heute versprach sie vulnerablen Patientengruppen ab Dezember 1 FFP2-Maske pro Woche.

Ob Einschnitte wie zusätzliche Hygieneregeln oder eine erweiterte Quarantäne kommen werden, ist offen. Söder nannte als Ziel weniger als 50 Infektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche. Doch davon sei man noch weit entfernt, sagte der bayerische Ministerpräsident. „Es gibt keinen Anlass, zu glauben, dass Ende November alles wieder gut ist.“

Zahl an Neuinfektionen bleibt weiter hoch
„Aktuell ist weiterhin eine große Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten“, schreibt das Robert Koch-Institut (RKI) im Tagesreport vom 15. November 2020. „Daher wird dringend appelliert, dass sich die gesamte Bevölkerung für den Infektionsschutz engagiert.“ Am 15. November wurden 16.947 neue Fälle übermittelt; heute waren es 10.824.

Im Vergleich zum Vortag sind weitere 62 Personen (Sonntag 107) an COVID-19 gestorben. Wegen des Meldeverzugs der Gesundheitsämter am Wochenende sind diese Zahlen mit Vorsicht zu betrachten. Politisch stellt sich die Frage, ob alle bisherigen Maßnahmen ausreichen, um die aktuelle Situation zu kontrollieren.

IGES-Institut: Lockdown verfehlt Wirkung
„Es mehren sich die Anzeichen, dass der aktuelle Lockdown seine Wirkung verfehlt“, kritisiert das IGES-Institut. Forscher haben aktuelle Daten zum Krankheitsgeschehen mit historischen Daten des Lockdowns vom Frühjahr verglichen. Ihre statistische Modellierung zeigt, dass die aktuellen Fallzahlen ab dem 11. November hätten zurückgehen sollen, was nicht eingetreten ist. Am 13. November gab es einen leichten Rückgang, gefolgt von einem neuerlichen Anstieg am 14. November.

„Derzeit ist damit zu rechnen, dass die täglichen Fallzahlen am 30. November noch bei 8.100 liegen werden, wenn der Abwärtstrend sich verstetigen sollte“, so die IGES-Experten. „Bei 8.100 Fällen wird die Aufklärungsquote durch die Gesundheitsämter allenfalls bei 50% liegen, was den Erfolg ihrer Arbeit weiterhin stark einschränken wird.“

Kliniken stoßen in SARS-CoV-2-Hotspots an ihre Belastungsgrenzen
Das hat Folgen für die klinische Versorgung: Laut Tagesreport des DIVI-Intensivregisters vom 15.11.2020 befinden sich derzeit 3.386 COVID-19-Patienten auf Intensivstationen. Das sind 60 mehr als am Vortag. Von ihnen müssen 1.923 (56%) invasiv beatmet werden. Aktuell sind 13.494 Low-Care-, 7.735 High-Care- und 282 ECMO-Behandlungseinheiten belegt. Die freien Kapazitäten liegen bei 1.754, 5.145 bzw. 478 Betten in den jeweiligen Bereichen.

„Wir brauchen jetzt ein klares Signal der Politik, dass die enorme Belastung des Krankenhauspersonals gesehen wird und Konsequenzen daraus gezogen werden“, mahnen Dr. Susanne Johna, 1. Vorsitzende des Marburger Bunds, DIVI-Präsident Prof. Dr. Uwe Janssens, DGAI-Präsident Prof. Dr. Rolf Rossaint, DGIIN-Präsident Prof. Dr. Stefan John und DGINA-Präsident Martin Pin in einer gemeinsamen Erklärung. „Wenn wir jetzt nichts ändern können, wird bald in einigen Regionen Deutschlands die Versorgung aller Patienten nicht mehr sicherzustellen sein. Die Zeit drängt!“


Vertreter der Verbände fordern, dass die Politik Vorgaben erlässt, damit planbare stationäre Eingriffe verschoben werden – oder dass weniger OPs durchgeführt werden. Krankenhäuser sollen dafür eine Entschädigung erhalten, die sich am Vorjahreszeitraum orientiert. Als Schwelle nennen die Verbände mindestens 100 Fälle pro 100.000 Einwohner und Woche.

Notfallmediziner: „Triage-Software gefährdet Patientensicherheit“
Aber auch bei medizinischen Notfällen aller Art, COVID-19 eingeschlossen, sehen Fachgesellschaften die Sicherheit von Patienten gefährdet. Stein des Anstoßes ist das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG). Es sieht vor, dass künftig die Kassenärztliche Vereinigung eine Triage-Software auswählt, um zu entscheiden, ob ein Notfall ambulant oder stationär behandelt wird – ohne ärztliche Untersuchung.

„Eine ‚Ersteinschätzungs-Software‘ der KV kann und darf nicht den ärztlichen Kontakt und die ärztliche Untersuchung ersetzen“, erklärt DGINA-Präsident Pin. „Wenn Notfälle aufgrund dieser Ersteinschätzung weggeschickt werden, kann dies für die Betroffenen möglicherweise lebensbedrohliche Folgen haben.“ DIVI und DGINA fordern vom Bundesministerium für Gesundheit, entsprechende Passagen im Entwurf zu streichen und die Notfallmedizin grundlegend zu reformieren.

EMA: Rolling Review zu einem mRNA-Impfstoff beginnt
Letztlich versuchen Ärzte und Politiker, die Zeit zu überbrücken, bis es Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 gibt. Auch Zulassungsbehörden drücken aufs Gas. Die European Medicines Agency (EMA) hat am 16. November begonnen, Daten über die Vakzine mRNA-1273 des US-Unternehmens Moderna auszuwerten. Das Verfahren, auch Rolling Review oder fortlaufende Überprüfung genannt, beschleunigt Zulassungen. Ansonsten wird die EMA erst aktiv, wenn Hersteller mit ihrem Zulassungsantrag alle Daten übermittelt haben.

mRNA-Vakzine von Moderna ebenfalls mit über 90%iger Wirksamkeit
Moderna hat heute eine Zwischenanalyse der laufenden Phase-3-Studie veröffentlicht. Sie umfasst 95 COVID-19-Fälle. Danach lag die Wirksamkeit ähnlich wie beim der mRNA-Vakzine von Biontech und Pfizer bei 94,5%. 90 Krankheitsfälle seien in der Placebogruppe und nur 5 in der mRNA-1273-Gruppe aufgetreten.

Der Impfstoff enthält eine in Lipiden verkapselte mRNA, die für das Spike-Protein von SARS-CoV-2 codiert. Nach der Impfung lesen körpereigene Zellen die genetischen Anweisungen und produzieren das Protein. Im nächsten Schritt stellt das Immunsystem Antikörper und T-Zellen dagegen her. Wenn die geimpfte Person später mit SARS-CoV-2 in Kontakt kommt, werden Viren anhand ihrer Oberflächenproteine erkannt. Sie können nicht mehr an Rezeptoren andocken.

Update vom 12. November 2020
Ob der Lockdown Wirkung zeigt, ist noch nicht klar

Die Hälfte der Kliniken nur noch limitierte intensivmedizinische Verfügbarkeit

Schulen als Infektionstreiber?

Ob der Lockdown Wirkung zeigt, ist noch nicht klar
„Vorsichtig optimistisch“, äußerte sich RKI-Chef Prof. Dr. Lothar Wieler bei der heutigen Pressekonferenz seines Institutes zur aktuellen Corona-Lage. Die Zahlen der Neu-Infektionen seien in den letzten Tagen „etwas weniger stark angestiegen“ – doch seien auch die Laborkapazitäten am Limit. Die Lage sei „nach wie vor sehr ernst“, sagte Wieler. Noch lasse sich nicht beurteilen, ob die Maßnahmen des Lockdowns schon Wirkung zeigten.


Das RKI hat in den vergangenen 24 Stunden knapp 22.000 neue Infektionen gemeldet. Knapp 12.000 Menschen sind in Deutschland inzwischen infolge von COVID-19 gestorben. Derzeit sind in Deutschland laut den Meldungen ans RKI 3.127 Personen wegen einer Corona-Infektion in intensivmedizinischer Behandlung, berichtete die Leiterin des Corona-Lagezentrum beim RKI Dr. Ute Rexroth. Und Wieler ergänzte: „Diese Zahl hat sich allein in den letzten 2 Wochen verdoppelt und liegt jetzt über dem Wert vom April dieses Jahres.“

Rexroth präsentierte auch die aktuellen Hospitalisierungsraten von Menschen mit SARS-CoV2. Auch hier zeige sich eine leichte Abflachung der Zunahme. Doch steige die Rate derjenigen, die 60 Jahre oder älter sind, was Anlass zur Besorgnis gebe. Zudem seien selbst unter den Todesfällen auch jüngere Patienten sagte sie. Und: Die wahre Zahl der mit SARS-CoV2 hospitalisierten Menschen werde wohl unterschätzt, da nicht alle Hospitalisierungen wegen COVID-19 an das RKI gemeldet würden.

Die Hälfte der Kliniken nur noch limitierte intensivmedizinische Verfügbarkeit
„Bei den intensivmedizinisch betreuten Patienten haben wir aber genauere Zahlen“, betonte Wieler. Dies dank des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), das nach seinem Wissen weltweit einzigartig sei. Und die aktuellen Zahlen stimmen den RKI-Chef nicht ganz so optimistisch. Er erwarte, dass aufgrund der sich in ältere Jahrgänge verlagernden Altersstruktur der Infizierten sich auch der Bedarf an intensivmedizinischer Betreuung vermehren werde, sagte er.

In den intensivmedizinischen Abteilungen machten sich sie aktuellen Infektionszahlen erst mit einem Zeitverzug von etwa 2 Wochen bemerkbar. Und bereits jetzt habe rund die Hälfte der Kliniken eine nur noch begrenzte Verfügbarkeit an intensivmedizinischer Betreuung gemeldet. Der Hauptgrund der Einschränkungen seien Limitationen beim Personal und bei den Räumlichkeiten, dagegen gebe es kaum Engpässe bei Verbrauchsmaterialien und Beatmungsgeräten. Ein Grund sei sicher, dass auch zunehmend das ärztliche und pflegerische Personal infiziert sei oder sich in Quarantäne befinde, so Wieler.

Nach Angaben des RKI bleibt das Ziel, die Infektionszahlen wieder so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter, aber auch die Kliniken, „damit umgehen können“. Eine Inzidenz von 50/100.000 sei dabei „immer noch ein sehr wichtiger Wert“.

Als geeignete Maßnahmen dies zu erreichen verwies Wieler erneut auf die AHA-L-Regele (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken, Lüften), auf die Bedeutung, die Kontakte zu reduzieren – und zum dritten, da ja die Testkriterien verschärft wurden und sich aufgrund zunehmender Engpässe bei den Laboren nicht mehr jeder mit Erkältungssymptomen auf Corona testen lassen sollte – darauf, dass Menschen mit Erkältungssymptomen eine 5-tägige freiwillige Quarantäne zuhause machen.

Schulen als Infektionstreiber?
Auf die Situation an Schulen angesprochen und ob es nicht doch auch darüber zu vermehrten Infektionen komme, räumte Wieler ein, dass derzeit auch bei den 10- bis 19jährigen die Inzidenzen steigen. „Sie tragen es sicher auch weiter, ab der Pubertät ist die Virusausscheidung wohl nicht geringer als bei Erwachsenen, auch wenn viele Kinder und Jugendliche selbst kaum Symptome entwickeln“, sagte er. Er appellierte an die Schulen die Hygienekonzepte konsequent umzusetzen. Eine Maske zu tragen schade der Gesundheit der Kinder nicht.

Auf die Frage nach der Dunkelziffer an Infektionen verwies der RKI-Chef auf verschiedene Studien, nach denen von 4 bis 5 Mal so vielen Infektionen auszugehen ist, wie nachgewiesen werden. Doch auch dieser Wert hänge natürlich auch von den Testkriterien ab, die ja vergangene Woche verschärft worden sind. Damit sei auch mit einer Verschiebung der Schwere der Verläufe zu rechnen, sagte Rexroth. Wird restriktiver getestet, werde der Anteil der schwer Erkrankten unter den positiv Getesteten steigen.


Wie lange der Lockdown dauern werde, ob er verlängert werden müsse und ob er überhaupt greife, lasse sich derzeit noch nicht vorhersagen, sagte Wieler. Die 2. Welle sei – allein schon wegen der Jahreszeit – schwieriger zu bewältigen als die 1. Welle im Frühjahr. Auch wenn die Infektionszahlen wieder abnehmen, müsse sich die Bevölkerung weiter an die oben genannten Regeln halten. Selbst wenn man nach den Ankündigungen Anfang der Woche nun bezüglich eines Impfstoffes optimistisch sein könne – „es wird dauern, bis sich alle impfen lassen können“.

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Ich schreibe selber mal den ersten Kommentar: Wenn die Inkubationszeit maximal 2 Wochen betragen kann, wenn zudem die Auswertung der Labortests, ihre elektronische Erfassung und anschließende Meldung unter Umständen Wochen dauert dann sind die Daten etwa vom 14. November ein Konglomerat aus tagesaktuellen Daten und solchen die bis 15. Oktober zurückgehen. Daraus kann gar nichts über Erfolg und Misserfolg des Lockdowns abgeleitet werden. Die Politik sollte so ehrlich sein, das genau so zu kommunizieren.

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