Donnerstag, 24. Juni 2021
Neue Virus-Varianten, unklare Wirksamkeit der Impfstoffe: Welche Schritte jetzt erforderlich sind
Michael van den Heuvel, Medscape


Die Zahl an besorgniserregenden SARS-CoV-2-Varianten (variants of concern, VOC) steigt seit Beginn der Pandemie stetig an. Derzeit sorgt vor allem die Delta-Variante für Schlagzeilen. Im NEJM gehen Dr. Philip R. Krause von der US Food and Drug Administration und Kollegen der Frage nach, welche Strategien bei Impfstoffen weltweit erforderlich sind, sollte es zum Immune Escape kommen

Sie fordern, nicht nur mutierte Erreger zu überwachen, sondern rechtzeitig modifizierte Vakzine zu entwickeln. Internationale Forschungsprojekte sollten von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) koordiniert werden. Einfachere Studiendesigns seien aber möglich, verglichen mit den Erstzulassungen.

Unklare Daten zu SARS-CoV-2-Varianten
Zum Hintergrund: Besorgniserregende Varianten des neuartigen Coronavirus machen womöglich Erfolge von Impfkampagnen in vielen Ländern zunichte:

B.1.1.7 (Alpha) hat eine höhere Übertragbarkeit und tritt zunehmend als häufigste Mutation auf.

P.1 (Gamma) kann selbst bei Personen, die infiziert waren, eine schwere Erkrankung auslösen, obwohl abschließende Bewertungen fehlen.

Bei B.1.351 (Beta) weiß man, dass Rekonvaleszenzplasma von Patienten, die mit früher zirkulierenden Varianten infiziert waren, eine schlechtere Wirksamkeit hat.

Vorläufige Daten auf der Basis von Post-hoc-Analysen zeigen, dass Impfstoffe ? abhängig vom Typ ? weniger Schutz aufbauen. Das gilt vor allem für leichtes oder mittelschweres COVID-19, jeweils im Vergleich zum Wildtyp.

Für andere Varianten wie B.1.617.2 (Delta) fehlen noch Daten, um die Bedeutung zu bewerten. Immerhin gibt es Hinweise, dass die zugelassenen Impfstoffe wirksam bleiben. Auch das kann sich ändern, sollten weitere Mutationen auftreten. Wie können sich Gesundheitssysteme oder pharmazeutische Hersteller darauf vorbereiten? Dieser Frage ging Krause zusammen mit seinen Koautoren jetzt nach.

Die Zeit ist reif für neue Impfstoffe
Obwohl Tiermodelle und In-vitro-Studien wichtige Informationen liefern, werden klinische Daten benötigt, um festzustellen, ob zugelassene Impfstoffe ihre Wirksamkeit gegen Varianten eventuell verlieren.

Randomisierte, Placebo-kontrollierte Studien kosten Zeit ? und sind bei zugelassenen Impfstoffen auch nicht erforderlich. Die Autoren empfehlen, in Gebieten mit hoher Prävalenz einer Variante die Bevölkerung randomisiert zeitversetzt zu impfen. So könne man Personen mit oder ohne Schutz vergleichen. Harte Endpunkte wie Krankenhausaufenthalte oder schweres COVID-19 ließen sich durchaus erfassen.

Sorgfältig konzipierte Beobachtungsstudien könnten recht zuverlässige Schätzungen der relativen Impfstoffwirksamkeit gegen verschiedene Varianten liefern. Dr. Philip R. Krause und Koautoren
Solche Studien sind bekanntlich anfällig für Verzerrungen. ?Dennoch könnten in Gebieten, in denen mehrere Varianten zirkulieren und ein Teil der Bevölkerung, aber nicht die gesamte Bevölkerung geimpft wurde, sorgfältig konzipierte Beobachtungsstudien ? recht zuverlässige Schätzungen der relativen Impfstoffwirksamkeit gegen verschiedene Varianten liefern?, so Krause und Kollegen. ?Sie könnten auch den Verlust des Schutzes gegen bedenkliche Varianten bei zuvor infizierten Personen aufdecken.? Bei niedrigen Impfquoten oder niedriger Prävalenz einer Variante sei das Design aber zu ungenau, geben die Experten zu bedenken.

Modifizierte Vakzine: Nicht zu lange abwarten?
Im schlimmsten Fall zeigen solche Studien, dass zugelassene Wirkstoffe keinen ausreichenden Schutz bieten. Krause und Kollegen schreiben: ?Jetzt ist es an der Zeit, die Entwicklung modifizierter Impfstoffe zu planen, die vor resistenten Varianten schützen könnten, da solche Mutationen durchaus auftreten können.? Wer dies hinauszögere, verzögere auch die Bekämpfung von SARS-CoV-2.

Studien sollten nicht nur Geimpfte, sondern auch Personen einschließen, die bislang keinerlei Schutz hatten ? weder durch Vakzine noch durch COVID-19. ?Die Bewertung der neutralisierenden Reaktionen gegen mehrere bedenkliche Varianten und gegen das Wildtyp-Virus kann helfen, zu bestimmen, ob mehr als ein Impfstoff ? benötigt wird.? Studien, in denen ein Impfstoff mit einer späteren Dosis eines anderen Impfstoffs geboostet wird, seien ebenfalls wertvoll. Und bei Durchbruchsinfektionen mache eine Genotypisierung Sinn, die zeige, mit welcher Mutation sich Menschen infiziert hätten.

Jetzt ist es an der Zeit, die Entwicklung modifizierter Impfstoffe zu planen, die vor resistenten Varianten schützen könnten. Dr. Philip R. Krause und Koautoren
Die Hürden zur Zulassung modifizierter Impfstoffe sind jedenfalls geringer als bei der 1. Runde ab Ende 2020. ?In den jüngsten regulatorischen Diskussionen und in Leitlinien der WHO besteht Konsens darüber, dass konventionelle, große, klinische Endpunktstudien wahrscheinlich nicht notwendig sind ??, konstatieren die Autoren. Die US Food and Drug Administration (FDA), aber nicht die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) schlägt vor, auf Tiermodelle zurückzugreifen.


Nach der Einführung modifizierter oder neuer Impfstoffe, die Varianten adressieren, beginnt der Kreislauf aus Überwachung und Forschung erneut. Dabei gilt es, zu bedenken, dass in manchen Gebieten vielleicht mehrere Varianten nebeneinander persistieren.

Welche Faktoren könnten Mutationen fördern?
Impfstoffe scheinen das Auftreten veränderter Erreger jedenfalls nicht zu befeuern. ?In Anbetracht des Auftretens von Varianten, die Immunität umgehen, noch bevor Impfstoffe auf breiter Basis eingesetzt wurden, ist es schwierig, Impfstoffe oder Strategien zur Einführung von Impfstoffen als Haupttreiber der Immunevasion zu betrachten?, merken die Autoren an.

Eine verlängerte Virusreplikation bei partieller Immunität in immungeschwächten Patienten oder Umstände, unter denen hohe Viruslasten auftreten, etwa bei beengten Wohnverhältnissen, könnten jedoch zur rascheren Veränderung beitragen. Ähnliche Gefahren sehen Krause und Kollegen beim Einsatz antikörperbasierter Therapien: ?Teilweise wirksame Interventionen können die virale Evolution fördern.?

Teilweise wirksame Interventionen können die virale Evolution fördern. Dr. Philip R. Krause und Koautoren
Außerdem gilt: Je größer die Zahl an Infizierten ist, desto größer ist auch die Chance, dass neue, bedenkliche Varianten entstehen. ?Daher können wirksame Strategien ? wie soziale Distanzierung, die Verwendung von Masken und der gezielte Einsatz effektiver Impfstoffe, die sowohl die Infektion als auch die Übertragung reduzieren, dazu beitragen, die virale Evolution zu begrenzen?, heißt es im Artikel. ?Die Abwägung zwischen dem Einsatz von Impfstoffen zum Schutz vulnerabler Personen vor einer Erkrankung oder zur gezielten Verhinderung der Ausbreitung ist eine strategische Entscheidung, die auf zuverlässigen epidemiologischen Informationen beruhen sollte.?

Weltweite Koordinierung der Maßnahmen
Doch die Herausforderungen sind noch lange nicht zu Ende. Neue VOC können in jedem Winkel der Erde entstehen. Krause und Kollegen sehen die Entwicklung neuer oder modifizierter Vakzine auf internationaler Ebene, mit Federführung der WHO.

?Die Koordinierung ist von entscheidender Bedeutung bei der Beurteilung des Bedarfs an neuen oder modifizierten Impfstoffen, bei der Bewertung dieser Impfstoffe und beim Verständnis für das Risiko?, so ihre Einschätzung. ?Eine offene und wissenschaftliche Diskussion ist notwendig, um festzustellen, welche Varianten, die Anlass zur Sorge geben, Aufmerksamkeit erfordern.?

Das bedeutet: Die internationale Staatengemeinschaft braucht allgemeingültige Kriterien, um Vakzine bei neu auftretenden Varianten zu bewerten und ? falls erforderlich ? angemessen darauf zu reagieren. Als Blaupause eigne sich die Auswahl von Antigenen in Grippeimpfstoffen durch die WHO, schreiben die Experten. In die Entscheidung müssten epidemiologische Daten, Daten aus der Evolutionsbiologie sowie klinische, tierexperimentelle und In-vitro-Daten einbezogen werden.

?Durch die gemeinsame, offene Diskussion der Ergebnisse wird dieser Datenaustausch dazu beitragen, eine konsistente und durchdachte öffentliche Kommunikation über neue Varianten und ein angemessenes Vertrauen in Impfstoffe und in deren Entwicklung, Prüfung und Anwendung zu fördern?, hoffen Krause und seine Koautoren.

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