Montag, 21. November 2005
Die SZ schreibt zum Thema Flüchtlinge
che2001, 14:19h
Interview mit Franco Frattini über Einwanderung nach Europa
„Dieser Ansturm war ein Schock"
Justizkommissar will stärkeres Engagement der EU gegen Armutsflucht erreichen
Seit zehn Jahren arbeiten europäische und afrikanische Staaten daran, die Verhältnis-se rund um das Mittelmeer zu verbessern. In Barcelona will man in einer Woche Bi-lanz ziehen. Der Mittelmeer-Gipfel wird diesmal mit lange vernachlässigten Proble-men konfrontiert: Armutsflucht aus Afrika und illegale Einwanderung. EU-Justizkom-missar Franco Frattini erläutert, welche Antworten die Europäer darauf haben.
SZ: Vor wenigen Wochen starben zahl-reiche Afrikaner bei dem Versuch, über die Grenzzäune der spanischen Exkla-ven Ceuta und Mellila in Nordafrika auf EU-Territorium zu gelangen. Waren Sie schockiert?
Frattini: Ja, das war ein Schock für mich, obwohl der Druck der Migranten auf Europa ja seit langem eine Realität ist. Wir dürfen darauf nicht einfach nur reagieren. Wir brauchen eine Strategie, um diese Opfer zu vermeiden.
SZ: Bisher wirkt Europa hilflos, so als habe es kapituliert.
Frattini: Europa hat nicht kapituliert. Es hat nur Zeit gebraucht, bis sich im Kreis der Regierungen ein gemeinsames Problembewusstsein entwickelt hat. Hier geht es schließlich um hochpoliti-sche Fragen. Inzwischen aber stehen alle 2 5 Staaten hinter dem Ziel, mit den Tran-sitländern der Migranten besser zu ko-operieren, also zum Beispiel mit Marok-ko, Libyen, Tunesien.
SZ: Sie haben vorgeschlagen, dass die EU mit diesen Ländern eine gemeinsame Mittelmeer-Polizei aufbauen soll. Das scheint die alte Antwort zu sein - höhere Grenzzäune, mehr Bewachung.
Frattini: Ich habe nicht von einer Poli-zei gesprochen, sondern, von einem Grenzschutzkorps europäischer und nordafrikanischer Mittelmeeranrainer. Ich spreche nicht von Repression. Ich spreche von einer Truppe, die in der Lage ist, Menschen aus Seenot zu retten. Die dort eingreift, wo die Menschenschmugg-ler tätig sind. Wir wollen verhindern, dass die Leute auf lebensgefährlichem Weg nach Europa geschleust werden.
SZ: So hat auch der deutsche Innenmi-nister Otto Schily argumentiert. Er hat das Reizwort „Lager" in die Debatte ein-geführt. Die Flüchtlinge sollten in Nord-afrika in Lagern untergebracht werden.
Frattini: Ich spreche nicht von Lagern. Die EU wird keine Lager bauen. Es geht darum, die nordafrikanischen Staaten in die Lage zu versetzen, Tausende von Mig-ranten auf ihrem Boden human zu behan-deln. Die EU setzt auf die politische Zu-sammenarbeit. Dazu gehören aber auch Abkommen, in denen sich die Staaten verpflichten, diejenigen wieder zurück-zunehmen, die illegal von ihrem Territori-um aus nach Europa eingewandert sind. Denn eines muss auch ganz klar sein: Europa darf keine illegale Einwande-rung, keine Verstöße gegen das Gesetz dulden.
SZ: Was soll konkret mit den Flüchtlin-gen geschehen, die Ihre Mittelmeer-Trup-pe auf hoher See entdeckt. Wohin werden sie gebracht?
Frattini: In die vorhandenen Aufnah-meeinrichtungen in Spanien oder Italien.
SZ: Wird jeder, der dort Asyl beantragt, individuell angehört werden? Kann er ein Gericht anrufen?
Frattini: Auf jeden Fall. Ich lege gro-ßen Wert darauf, dass diese Menschen human behandelt werden. Wenn festge-stellt wird, dass kein Asylgrund besteht, müssen sie allerdings zurückgeschickt werden. Ich hoffe sehr, dass es uns noch im Dezember gelingt, mit Marokko ein solches Abkommen zu schließen. Das wäre ein ganz wichtiger Erfolg.
SZ: Das italienische Aufnahmezen-trum auf der Insel Lampedusa ist höchst umstritten. Dort sollen die Rechte der Flüchtlinge nicht beachtet werden. Was können Sie tun?
Frattini: Ich habe mit Italiens Innenmi-nister vereinbart, dass er dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die Möglichkeit gibt, die Zustände in Lampedusa zu untersuchen.
SZ: Wenn Europa die Sicherung der Grenzen verstärkt, wie sollen dann die wirklich asylberechtigten Flüchtlinge zu ihrem Recht kommen?
Frattini: Mit Hilfe des UNHCHR gelan-gen bereits schutzbedürftige Flüchtlinge direkt aus den Herkunftsregionen nach Europa. Bisher sind es leider nur wenige EU-Staaten, die sich an dieser „Neuansiedlung" außerhalb der gängigen Asyl-verfahren beteiligten. Ich will, dass aus dieser Idee ein europäisches Programm wird. Dafür soll es künftig im EU-Bud-get auch feste Mittel geben.
SZ: Braucht die EU zur Steuerung der Migration nicht auch ein Konzept für die legale Einwanderung?
Frattini: Wir wissen, wie wichtig die Finanztransfers der Einwanderer an ihre Familien für die Entwicklung in den Herkunftsländern sind. Noch im Dezem-ber will ich konkretere Vorschläge für die legale Einwanderung nach Europa machen.
SZ: Bedeuten die Aufstände in den französischen Vorstädten nicht einen her-ben Rückschlag für die Einwanderungspolitik?
Frattini: Was in Frankreich passiert, ist das Ergebnis von Frustration und Dis-kriminierung. Wir müssen darauf mit einer Integrationspolitik reagieren, die sich um die Erziehung, um bessere Ar-beitsmöglichkeiten und vernünftige Woh-nungen für Einwanderer kümmert.
Interview: Cornelia Bolesch, Brüssel
Süddeutsche Zeitung vom 19./20.11.2005
Apropos „Neuansiedlung“: Bereits in der letzten rot-grünen Koalitionsvereinbarung wurde das Ziel ausgegeben, p.a. 500 Flüchtlingen, die der UNHCR bestimmt, in Deutschland Schutz zu geben. Allein in 2005 gewährte man 14 Flüchtlingen aus Usbekistan Schutz.
„Dieser Ansturm war ein Schock"
Justizkommissar will stärkeres Engagement der EU gegen Armutsflucht erreichen
Seit zehn Jahren arbeiten europäische und afrikanische Staaten daran, die Verhältnis-se rund um das Mittelmeer zu verbessern. In Barcelona will man in einer Woche Bi-lanz ziehen. Der Mittelmeer-Gipfel wird diesmal mit lange vernachlässigten Proble-men konfrontiert: Armutsflucht aus Afrika und illegale Einwanderung. EU-Justizkom-missar Franco Frattini erläutert, welche Antworten die Europäer darauf haben.
SZ: Vor wenigen Wochen starben zahl-reiche Afrikaner bei dem Versuch, über die Grenzzäune der spanischen Exkla-ven Ceuta und Mellila in Nordafrika auf EU-Territorium zu gelangen. Waren Sie schockiert?
Frattini: Ja, das war ein Schock für mich, obwohl der Druck der Migranten auf Europa ja seit langem eine Realität ist. Wir dürfen darauf nicht einfach nur reagieren. Wir brauchen eine Strategie, um diese Opfer zu vermeiden.
SZ: Bisher wirkt Europa hilflos, so als habe es kapituliert.
Frattini: Europa hat nicht kapituliert. Es hat nur Zeit gebraucht, bis sich im Kreis der Regierungen ein gemeinsames Problembewusstsein entwickelt hat. Hier geht es schließlich um hochpoliti-sche Fragen. Inzwischen aber stehen alle 2 5 Staaten hinter dem Ziel, mit den Tran-sitländern der Migranten besser zu ko-operieren, also zum Beispiel mit Marok-ko, Libyen, Tunesien.
SZ: Sie haben vorgeschlagen, dass die EU mit diesen Ländern eine gemeinsame Mittelmeer-Polizei aufbauen soll. Das scheint die alte Antwort zu sein - höhere Grenzzäune, mehr Bewachung.
Frattini: Ich habe nicht von einer Poli-zei gesprochen, sondern, von einem Grenzschutzkorps europäischer und nordafrikanischer Mittelmeeranrainer. Ich spreche nicht von Repression. Ich spreche von einer Truppe, die in der Lage ist, Menschen aus Seenot zu retten. Die dort eingreift, wo die Menschenschmugg-ler tätig sind. Wir wollen verhindern, dass die Leute auf lebensgefährlichem Weg nach Europa geschleust werden.
SZ: So hat auch der deutsche Innenmi-nister Otto Schily argumentiert. Er hat das Reizwort „Lager" in die Debatte ein-geführt. Die Flüchtlinge sollten in Nord-afrika in Lagern untergebracht werden.
Frattini: Ich spreche nicht von Lagern. Die EU wird keine Lager bauen. Es geht darum, die nordafrikanischen Staaten in die Lage zu versetzen, Tausende von Mig-ranten auf ihrem Boden human zu behan-deln. Die EU setzt auf die politische Zu-sammenarbeit. Dazu gehören aber auch Abkommen, in denen sich die Staaten verpflichten, diejenigen wieder zurück-zunehmen, die illegal von ihrem Territori-um aus nach Europa eingewandert sind. Denn eines muss auch ganz klar sein: Europa darf keine illegale Einwande-rung, keine Verstöße gegen das Gesetz dulden.
SZ: Was soll konkret mit den Flüchtlin-gen geschehen, die Ihre Mittelmeer-Trup-pe auf hoher See entdeckt. Wohin werden sie gebracht?
Frattini: In die vorhandenen Aufnah-meeinrichtungen in Spanien oder Italien.
SZ: Wird jeder, der dort Asyl beantragt, individuell angehört werden? Kann er ein Gericht anrufen?
Frattini: Auf jeden Fall. Ich lege gro-ßen Wert darauf, dass diese Menschen human behandelt werden. Wenn festge-stellt wird, dass kein Asylgrund besteht, müssen sie allerdings zurückgeschickt werden. Ich hoffe sehr, dass es uns noch im Dezember gelingt, mit Marokko ein solches Abkommen zu schließen. Das wäre ein ganz wichtiger Erfolg.
SZ: Das italienische Aufnahmezen-trum auf der Insel Lampedusa ist höchst umstritten. Dort sollen die Rechte der Flüchtlinge nicht beachtet werden. Was können Sie tun?
Frattini: Ich habe mit Italiens Innenmi-nister vereinbart, dass er dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die Möglichkeit gibt, die Zustände in Lampedusa zu untersuchen.
SZ: Wenn Europa die Sicherung der Grenzen verstärkt, wie sollen dann die wirklich asylberechtigten Flüchtlinge zu ihrem Recht kommen?
Frattini: Mit Hilfe des UNHCHR gelan-gen bereits schutzbedürftige Flüchtlinge direkt aus den Herkunftsregionen nach Europa. Bisher sind es leider nur wenige EU-Staaten, die sich an dieser „Neuansiedlung" außerhalb der gängigen Asyl-verfahren beteiligten. Ich will, dass aus dieser Idee ein europäisches Programm wird. Dafür soll es künftig im EU-Bud-get auch feste Mittel geben.
SZ: Braucht die EU zur Steuerung der Migration nicht auch ein Konzept für die legale Einwanderung?
Frattini: Wir wissen, wie wichtig die Finanztransfers der Einwanderer an ihre Familien für die Entwicklung in den Herkunftsländern sind. Noch im Dezem-ber will ich konkretere Vorschläge für die legale Einwanderung nach Europa machen.
SZ: Bedeuten die Aufstände in den französischen Vorstädten nicht einen her-ben Rückschlag für die Einwanderungspolitik?
Frattini: Was in Frankreich passiert, ist das Ergebnis von Frustration und Dis-kriminierung. Wir müssen darauf mit einer Integrationspolitik reagieren, die sich um die Erziehung, um bessere Ar-beitsmöglichkeiten und vernünftige Woh-nungen für Einwanderer kümmert.
Interview: Cornelia Bolesch, Brüssel
Süddeutsche Zeitung vom 19./20.11.2005
Apropos „Neuansiedlung“: Bereits in der letzten rot-grünen Koalitionsvereinbarung wurde das Ziel ausgegeben, p.a. 500 Flüchtlingen, die der UNHCR bestimmt, in Deutschland Schutz zu geben. Allein in 2005 gewährte man 14 Flüchtlingen aus Usbekistan Schutz.
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