Sonntag, 6. September 2009
Zur Begrifflichkeit und Problematik von Geschichtswissenschaft in Deutschland
che2001, 16:42h
Historismus
Die seriös und empirisch betriebene Geschichtswissenschaft in Deutschland geht auf die sog. Historische Schule zurück, die im 19. Jahrhundert durch Leopold von Ranke und Wilhelm Dilthey begründet wurde. Im Gegensatz zur älteren humanistischen Geschichtsschreibung beschäftigt sich die historistisch ausgerichtete Geschichtswissenschaft nicht nur damit, vergangene Ereignisse anhand historischer Quellen zu rekonstruieren, sondern will diese Quellen auch interpretieren. Ihr wichtigster methodischer Ansatz ist daher die auf Dilthey zurückgehende historische Hermeneutik. Die hermeneutische Arbeitsweise beinhaltet eine möglichst vielschichtige Betrachtungsweise des Forschungsgegenstandes; so werden zur Erklärung historischer Ereignisse grundsätzlich unterschiedliche persönliche Motivationen der politischen Entscheidungsträger herangezogen und der Wortlaut historischer Quellen mit Skepsis behandelt: alle Quellen werden einer systematischen Quellenkritik unterzogen, die Rekonstruktion eines Ereignisses ist nur durch den Vergleich unterschiedlicher Quellen möglich.
Sozialhistorische Schule
Ermöglichte der Historismus erstmals eine wissenschaftlichen Objektivitätsmaßstäben zumindest entfernt nahekommende Geschichtsforschung, waren seine Grenzen doch ebenso eng umrissen. Es handelt sich um eine reine Ereignisgeschichte, die unmittelbare politische Entscheidungsprozesse oder beispielsweise den Verlauf von Kriegen zum Thema hat, soziale Wirklichkeit aber nicht erfassen kann. Demzufolge entwickelte sich die Sozialgeschichte als ein eigenständiger Wissenschaftszweig neben der und gegen die historische Schule. Zunächst bildete sich die marxistische Geschichtsauffassung heraus, die Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen und gesellschaftliche Entwicklung als dialektisches Wechselspiel aus technischem Fortschritt und sozialen Umwälzungen ansieht. Im Unterschied zum Historismus fällt der Historische Materialismus, d.h.die orthodox marxistische Geschichtswissenschaft ins andere Extrem: Es werden überhaupt nur noch die sozialen Ursachen geschichtlicher Verhältnisse behandelt, von den konkreten Situationen und Ereignissen hingegen abstrahiert.
Neben dem Historischen Materialismus entwickelte sich seit Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland eine bürgerliche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die Sozialhistorische Schule. Diese war rein positivistisch ausgerichtet, d.h., sie ging von der Vorstellung aus, technischer Fortschritt könne nur Gutes bringen und gesellschaftlicher Fortschritt sei in jedem Fall mit dem technischen Fortschritt verbunden. Wirtschafts- und Sozialgeschichte wird hier im Wesentlichen als Geschichte der Technik, Entwicklungsgeschichte von Wirtschaftsunternehmen und Geschichte wirtschaftlicher Strukturen betrachtet.
Historische Sozialwissenschaft; Bielefelder Schule
Aus der Sozialhistorischen Schule ging die sog. moderne deutsche Sozialgeschichte oder historische Sozialwissenschaft hervor, die sich an Max Weber, den Begründer der deutschen Soziologie, anlehnt. Sie revolutionierte in den Sechziger Jahren die deutsche Geschichtswissenschaft, indem sie „fachfremde“, nämlich aus der Soziologie entlehnte Arbeitsmethoden zur Anwendung brachte. Dazu gehören Statistik, Interview, die Auswertung von Kranken- und Sterbeakten etc. Das, was durch zeitgenössische schriftliche Quellen (Historismus) oder Überreste der materiellen Kultur (Sozialhistorismus) nicht erschließbar war, nämlich die soziale Wirklichkeit der breiten Volksmassen, konnte nun erstmals von der Geschichtswissenschaft erfaßt werden.
Die Auseinandersetzung mit den Vertretern der Historischen Schule vollzog sich entlang politisch-ideologischer Gräben: Während die Historisten überwiegend konservativ, teilweise ausgesprochen rechts ausgerichtet waren, rechneten die jungen SozialhistorikerInnen der sog. Bielefelder Schule, die sich allmählich formierte, sich zum damaligen Reformflügel innerhalb der Sozialdemokratie bzw zum linken SPD-Flügel. Dementsprechend waren auch sie es, die an der historischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein besonderes Interesse hatten und dafür große internationale Reputation erlangten. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass die Begründer dieser Schule nicht an marxistische Wurzeln anknüpften, sondern einerseits an US – amerikanische Entwicklungssoziologie, andererseits an ihre eigenen früheren Lehrer wie Theodor Schieder, Hermann Aubin, Ferdinand Seibt und Gerhard Ritter, welche die Geschichtswissenschaft um archäologische, kunsthistorische, frühgeschichtliche und ethnologische Komponenten erweitert hatten, die von der modernen Sozialgeschichte aufgegriffen wurden. Diese methodologischen Erweiterungen hatten seinerzeit die Grundlage der „Volkstumsforschung“ gebildet, die hauptsächlich der Legitimation deutscher Territorialansprüche in Osteuropa dienten. In diesem Sinne fußt also eine in der Nachkriegszeit sich politisch progessiv orientierende Sozialgeschichte ursprünglich auf NS-Wissenschaft.
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/index.htm
http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/60926/
Das zweite Standbein der modernen Sozialgeschichte, die Arbeitergeschichte, blieb zum großen Teil Geschichte der Arbeiterorganisationen, die durch NS-Zeit und Adenauerära in Deutschland verschüttet erschien und quasi erst wieder ausgegraben werden mußte. Frauengeschichte wurde von den Bielefelderinnen erst seit den Siebziger Jahren betrieben.
Vetreter/innen: Jürgen Kocka, Heinrich August Winkler, Karin Hausen, Hans-Ulrich Wehler, Christoph Kleßmann, Gisela Bock
Alltagsgeschichte; Geschichte von unten
Zu dieser Zeit kam aus Schweden die neue Bewegung der Geschichtswerkstätten. Hierbei handelt es sich um private Vereine, die außerhalb des Wissenschaftsbetriebes und teilweise auch ohne wissenschaftliche Vorbildung Geschichtsforschung zur Vergangenheit des jeweils eigenen Stadtviertels, Dorfes usw getreu dem Motto „grabe, wo du stehst“ betrieben. Die deutschen Geschichtswerkstätten schafften es, diesen Ansatz mit wissenschaftlicher Methodik zu verbinden. Dies war die Geburtsstunde der Alltagsgeschichte oder „Geschichte von unten“, die während der Achtziger Jahre ähnlich revolutionierend wirkte wie die neue Sozialgeschichte in den Sechzigern. Mit Alltagschichte ist nicht die schon immer gut dokumentierte Geschichte des Alltags an Fürstenhöfen oder in Klöstern gemeint, sondern der bis dahin noch nicht systematisch erforschte Alltag der „kleinen Leute“ unabhängig von der Anbindung an besondere historische Ereignisse oder politische Organisationen. Diese Art Alltagsgeschichte stößt an große methodologische Probleme: Sie ist zum großen Teil auf „oral history“, d.h. mündliche Überliefeung angewiesen, die als wesentlich weniger zuverlässig als schriftliche Quellen oder statistisches Material anzusehen ist. So hatte die Alltagsgeschichte zeitweise hart um ihe Anerkennung zu kämpfen. Der standartisierte Vergleich mündlicher Quellen und der Rückgriff auf die gute alte Hermeneutik ermöglichen zwar sehr wohl einen wissenschaftlichen Umgang mit oral history, jedoch dauerte es lange, um diese Erkenntnis in den Köpfen zu etablieren.
Vertreter/innen: Alf Lüdke, Hans Medick, Wolfgang Schlumbohm, Adelheid von Saldern, Carola Gottschalk, Karl-Heinz Roth, Angelika Ebbinghaus, Ahlrich Meyer, Götz Aly
Mikro-und Makrohistorie
Als jüngstes Kind ging schließlich die Mikrohistorie aus der Alltagsgeschichte hervor, die Arbeitsmethoden aller bisherigen Schulen miteinander verbindet, um bestimmte historische Ereignisse oder Zeiträume so exakt wie irgend möglich darzustellen. Aufgrund ihrer „kleinräumigen“ Arbeitsweise - Forschungsgegenstand ist meist ein Dorf, ein Häuserblock oder ein Kollektiv von wenigen Menschen -stößt die Mikrohistorie zunehmend auf das Problem einer Nicht-Verallgemeinerbarkeit ihrer Forschungsgegenstände, sodaß sich in allerneuester Zeit die Makrohistorie als Absetzbewegung entwickelt hat. Dieser geht es wiederum um die großen, epochalen Entwicklungen in der Sozialgeschichte.
Die seriös und empirisch betriebene Geschichtswissenschaft in Deutschland geht auf die sog. Historische Schule zurück, die im 19. Jahrhundert durch Leopold von Ranke und Wilhelm Dilthey begründet wurde. Im Gegensatz zur älteren humanistischen Geschichtsschreibung beschäftigt sich die historistisch ausgerichtete Geschichtswissenschaft nicht nur damit, vergangene Ereignisse anhand historischer Quellen zu rekonstruieren, sondern will diese Quellen auch interpretieren. Ihr wichtigster methodischer Ansatz ist daher die auf Dilthey zurückgehende historische Hermeneutik. Die hermeneutische Arbeitsweise beinhaltet eine möglichst vielschichtige Betrachtungsweise des Forschungsgegenstandes; so werden zur Erklärung historischer Ereignisse grundsätzlich unterschiedliche persönliche Motivationen der politischen Entscheidungsträger herangezogen und der Wortlaut historischer Quellen mit Skepsis behandelt: alle Quellen werden einer systematischen Quellenkritik unterzogen, die Rekonstruktion eines Ereignisses ist nur durch den Vergleich unterschiedlicher Quellen möglich.
Sozialhistorische Schule
Ermöglichte der Historismus erstmals eine wissenschaftlichen Objektivitätsmaßstäben zumindest entfernt nahekommende Geschichtsforschung, waren seine Grenzen doch ebenso eng umrissen. Es handelt sich um eine reine Ereignisgeschichte, die unmittelbare politische Entscheidungsprozesse oder beispielsweise den Verlauf von Kriegen zum Thema hat, soziale Wirklichkeit aber nicht erfassen kann. Demzufolge entwickelte sich die Sozialgeschichte als ein eigenständiger Wissenschaftszweig neben der und gegen die historische Schule. Zunächst bildete sich die marxistische Geschichtsauffassung heraus, die Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen und gesellschaftliche Entwicklung als dialektisches Wechselspiel aus technischem Fortschritt und sozialen Umwälzungen ansieht. Im Unterschied zum Historismus fällt der Historische Materialismus, d.h.die orthodox marxistische Geschichtswissenschaft ins andere Extrem: Es werden überhaupt nur noch die sozialen Ursachen geschichtlicher Verhältnisse behandelt, von den konkreten Situationen und Ereignissen hingegen abstrahiert.
Neben dem Historischen Materialismus entwickelte sich seit Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland eine bürgerliche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die Sozialhistorische Schule. Diese war rein positivistisch ausgerichtet, d.h., sie ging von der Vorstellung aus, technischer Fortschritt könne nur Gutes bringen und gesellschaftlicher Fortschritt sei in jedem Fall mit dem technischen Fortschritt verbunden. Wirtschafts- und Sozialgeschichte wird hier im Wesentlichen als Geschichte der Technik, Entwicklungsgeschichte von Wirtschaftsunternehmen und Geschichte wirtschaftlicher Strukturen betrachtet.
Historische Sozialwissenschaft; Bielefelder Schule
Aus der Sozialhistorischen Schule ging die sog. moderne deutsche Sozialgeschichte oder historische Sozialwissenschaft hervor, die sich an Max Weber, den Begründer der deutschen Soziologie, anlehnt. Sie revolutionierte in den Sechziger Jahren die deutsche Geschichtswissenschaft, indem sie „fachfremde“, nämlich aus der Soziologie entlehnte Arbeitsmethoden zur Anwendung brachte. Dazu gehören Statistik, Interview, die Auswertung von Kranken- und Sterbeakten etc. Das, was durch zeitgenössische schriftliche Quellen (Historismus) oder Überreste der materiellen Kultur (Sozialhistorismus) nicht erschließbar war, nämlich die soziale Wirklichkeit der breiten Volksmassen, konnte nun erstmals von der Geschichtswissenschaft erfaßt werden.
Die Auseinandersetzung mit den Vertretern der Historischen Schule vollzog sich entlang politisch-ideologischer Gräben: Während die Historisten überwiegend konservativ, teilweise ausgesprochen rechts ausgerichtet waren, rechneten die jungen SozialhistorikerInnen der sog. Bielefelder Schule, die sich allmählich formierte, sich zum damaligen Reformflügel innerhalb der Sozialdemokratie bzw zum linken SPD-Flügel. Dementsprechend waren auch sie es, die an der historischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein besonderes Interesse hatten und dafür große internationale Reputation erlangten. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass die Begründer dieser Schule nicht an marxistische Wurzeln anknüpften, sondern einerseits an US – amerikanische Entwicklungssoziologie, andererseits an ihre eigenen früheren Lehrer wie Theodor Schieder, Hermann Aubin, Ferdinand Seibt und Gerhard Ritter, welche die Geschichtswissenschaft um archäologische, kunsthistorische, frühgeschichtliche und ethnologische Komponenten erweitert hatten, die von der modernen Sozialgeschichte aufgegriffen wurden. Diese methodologischen Erweiterungen hatten seinerzeit die Grundlage der „Volkstumsforschung“ gebildet, die hauptsächlich der Legitimation deutscher Territorialansprüche in Osteuropa dienten. In diesem Sinne fußt also eine in der Nachkriegszeit sich politisch progessiv orientierende Sozialgeschichte ursprünglich auf NS-Wissenschaft.
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/index.htm
http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/60926/
Das zweite Standbein der modernen Sozialgeschichte, die Arbeitergeschichte, blieb zum großen Teil Geschichte der Arbeiterorganisationen, die durch NS-Zeit und Adenauerära in Deutschland verschüttet erschien und quasi erst wieder ausgegraben werden mußte. Frauengeschichte wurde von den Bielefelderinnen erst seit den Siebziger Jahren betrieben.
Vetreter/innen: Jürgen Kocka, Heinrich August Winkler, Karin Hausen, Hans-Ulrich Wehler, Christoph Kleßmann, Gisela Bock
Alltagsgeschichte; Geschichte von unten
Zu dieser Zeit kam aus Schweden die neue Bewegung der Geschichtswerkstätten. Hierbei handelt es sich um private Vereine, die außerhalb des Wissenschaftsbetriebes und teilweise auch ohne wissenschaftliche Vorbildung Geschichtsforschung zur Vergangenheit des jeweils eigenen Stadtviertels, Dorfes usw getreu dem Motto „grabe, wo du stehst“ betrieben. Die deutschen Geschichtswerkstätten schafften es, diesen Ansatz mit wissenschaftlicher Methodik zu verbinden. Dies war die Geburtsstunde der Alltagsgeschichte oder „Geschichte von unten“, die während der Achtziger Jahre ähnlich revolutionierend wirkte wie die neue Sozialgeschichte in den Sechzigern. Mit Alltagschichte ist nicht die schon immer gut dokumentierte Geschichte des Alltags an Fürstenhöfen oder in Klöstern gemeint, sondern der bis dahin noch nicht systematisch erforschte Alltag der „kleinen Leute“ unabhängig von der Anbindung an besondere historische Ereignisse oder politische Organisationen. Diese Art Alltagsgeschichte stößt an große methodologische Probleme: Sie ist zum großen Teil auf „oral history“, d.h. mündliche Überliefeung angewiesen, die als wesentlich weniger zuverlässig als schriftliche Quellen oder statistisches Material anzusehen ist. So hatte die Alltagsgeschichte zeitweise hart um ihe Anerkennung zu kämpfen. Der standartisierte Vergleich mündlicher Quellen und der Rückgriff auf die gute alte Hermeneutik ermöglichen zwar sehr wohl einen wissenschaftlichen Umgang mit oral history, jedoch dauerte es lange, um diese Erkenntnis in den Köpfen zu etablieren.
Vertreter/innen: Alf Lüdke, Hans Medick, Wolfgang Schlumbohm, Adelheid von Saldern, Carola Gottschalk, Karl-Heinz Roth, Angelika Ebbinghaus, Ahlrich Meyer, Götz Aly
Mikro-und Makrohistorie
Als jüngstes Kind ging schließlich die Mikrohistorie aus der Alltagsgeschichte hervor, die Arbeitsmethoden aller bisherigen Schulen miteinander verbindet, um bestimmte historische Ereignisse oder Zeiträume so exakt wie irgend möglich darzustellen. Aufgrund ihrer „kleinräumigen“ Arbeitsweise - Forschungsgegenstand ist meist ein Dorf, ein Häuserblock oder ein Kollektiv von wenigen Menschen -stößt die Mikrohistorie zunehmend auf das Problem einer Nicht-Verallgemeinerbarkeit ihrer Forschungsgegenstände, sodaß sich in allerneuester Zeit die Makrohistorie als Absetzbewegung entwickelt hat. Dieser geht es wiederum um die großen, epochalen Entwicklungen in der Sozialgeschichte.
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momorules,
Sonntag, 6. September 2009, 17:32
Kann man sowas nicht mal anders beschreiben, als dass man gleich irgendwelche sozialdemokratischen oder konservativen Flügel-Etiketten da drauf klebt oder "Geschichtsbilder" formuliert, wo dann das Mittelweg-Institut deshalb bei den Guten ist, weil es so ähnlich denkt wie die Autonomen?
Die Verwickungen Theodor Schieders im 3. Reich, da meine ich mich zu erinnern, dass das zeitweise sehr hoch kochte als Thema. Aber einen wissenschaftlichen Aufbruch dadurch loszuwerden, dass man auf Ursprünge im "3. Reich" verweist, das ist in dem Fall doch zu billig.
Es gibt ja gut Gründe, wieso Wehler, Winkler oder Kocka schon auch als Zäsur in positiver Hinsicht gerade angesichts einer an den "große Männern" und deren Biographien orientierten Geschichtsschreibung galten, weil sie eben soziologische Theoriemodelle zur historischen Analyse nutzten, weil sie Sozialstrukturen auch zumThema machten, ohne in einen hegelmarxistischen Geschichtsdeterminus zu verfallen.
Natürlich gilt es immer, die Interessen gesellschaftlicher Gruppen gerade bei der Geschichtsschreibung und derer, die sie schreiben, zu berücksichtigen. Aber man kann nicht jede Methodik und jedes Forschungsergebnis darauf reduzieren.
Nur, um zu provozieren, die jeweiligen Ansätze vielleicht etwas schärfer zu kontrastieren, nicht, weil ich was gegen die Alltagsgeschichtler hätte:
Für mich stellte sich das damals so dar, dass durch die "Alttagsgeschichte" romantisierendes Gesabbel an die Stelle ziemlich gewichtiger Theoriemodelle trat (die ich, weil das nun bald 20 Jahre her ist, auch nicht mal eben so rekonstruieren könnte). Das fanden dann die Leute super, denen ein Kocka zu komplex und schwierig zu lesen war, so konnte sie Omis Tagebuch ausbuddeln und so tun, als wären sie dadurch schon große Historiker. Man konnte fröhlich parteiisch sein, ohne nachdenken zu müssen.
Ich für meinen Teil hatte dann immer Sehnsucht nach Max Weber, trotzdem dessen politische teils fatale Ansichten ja bekannt sind, und fragte mich immer, wieso andere, soziologische Modelle, Habermas, Luhmann zum Beispiel, so aus der Anwendung verschwanden und sich in einem bunten Reigen von Geschichtchen auflöste ...
Die Verwickungen Theodor Schieders im 3. Reich, da meine ich mich zu erinnern, dass das zeitweise sehr hoch kochte als Thema. Aber einen wissenschaftlichen Aufbruch dadurch loszuwerden, dass man auf Ursprünge im "3. Reich" verweist, das ist in dem Fall doch zu billig.
Es gibt ja gut Gründe, wieso Wehler, Winkler oder Kocka schon auch als Zäsur in positiver Hinsicht gerade angesichts einer an den "große Männern" und deren Biographien orientierten Geschichtsschreibung galten, weil sie eben soziologische Theoriemodelle zur historischen Analyse nutzten, weil sie Sozialstrukturen auch zumThema machten, ohne in einen hegelmarxistischen Geschichtsdeterminus zu verfallen.
Natürlich gilt es immer, die Interessen gesellschaftlicher Gruppen gerade bei der Geschichtsschreibung und derer, die sie schreiben, zu berücksichtigen. Aber man kann nicht jede Methodik und jedes Forschungsergebnis darauf reduzieren.
Nur, um zu provozieren, die jeweiligen Ansätze vielleicht etwas schärfer zu kontrastieren, nicht, weil ich was gegen die Alltagsgeschichtler hätte:
Für mich stellte sich das damals so dar, dass durch die "Alttagsgeschichte" romantisierendes Gesabbel an die Stelle ziemlich gewichtiger Theoriemodelle trat (die ich, weil das nun bald 20 Jahre her ist, auch nicht mal eben so rekonstruieren könnte). Das fanden dann die Leute super, denen ein Kocka zu komplex und schwierig zu lesen war, so konnte sie Omis Tagebuch ausbuddeln und so tun, als wären sie dadurch schon große Historiker. Man konnte fröhlich parteiisch sein, ohne nachdenken zu müssen.
Ich für meinen Teil hatte dann immer Sehnsucht nach Max Weber, trotzdem dessen politische teils fatale Ansichten ja bekannt sind, und fragte mich immer, wieso andere, soziologische Modelle, Habermas, Luhmann zum Beispiel, so aus der Anwendung verschwanden und sich in einem bunten Reigen von Geschichtchen auflöste ...
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auch-einer,
Sonntag, 6. September 2009, 18:04
wir sind in deutschland.
bei uns wird geschichte getrieben, um recht zu haben. und da die alte bundesrepublik alle vier jahre aufs neue des kampf gut gegen böse inszenierte, während heute die politik in etwa so persönlich geworden ist, wie eine gesellschaftskolummne in der bunten, war damals politik theologie mit anderen mitteln.
die historiker waren ein teil dieser bataillone, von daher die präzise zuordnung, wer mit wem auf welchem lehrstuhl in welcher uni in welchem bundesland. was machen eigentlich die abgewickelten ostgoten? die rosa-luxemburg-stiftung ist ja recht aktiv hört man und in zukunft...
bei uns wird geschichte getrieben, um recht zu haben. und da die alte bundesrepublik alle vier jahre aufs neue des kampf gut gegen böse inszenierte, während heute die politik in etwa so persönlich geworden ist, wie eine gesellschaftskolummne in der bunten, war damals politik theologie mit anderen mitteln.
die historiker waren ein teil dieser bataillone, von daher die präzise zuordnung, wer mit wem auf welchem lehrstuhl in welcher uni in welchem bundesland. was machen eigentlich die abgewickelten ostgoten? die rosa-luxemburg-stiftung ist ja recht aktiv hört man und in zukunft...
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che2001,
Sonntag, 6. September 2009, 18:07
@"Aber einen wissenschaftlichen Aufbruch dadurch loszuwerden, dass man auf Ursprünge im "3. Reich" verweist, das ist in dem Fall doch zu billig." ---- Mache ich doch gar nicht. Nur beschäftige ich mich in eigenen Forschungen mit genau dieser Vorgeschichte (die in der Zunft Wenige hören wollen), und es ist nunmal leider eine Wahrheit, dass einige der materialreichsten und wertvollsten sozialhistorischen Forschungen methodologisch gesehen aus einem Ansatz hervorgegangen sind, der im Kontext völkischer Ostforschung entstanden ist. Genauer gesagt, in einem sehr engen Zusammenhang zu Forschungen, die selber im Bereich der geistigen Vorbereitung des Völkermordes gestanden haben. Ich will also keinen wissenschaftlichen Aufbruch loswerden, sondern sage umgekehrt, dass die Sozialgeschichte es ertragen können muss, sich selber anzuschauen und festzustellen, wo die Verstrickungen in der eigenen Fachgeschichte liegen. Das Mittelweg-Institut denkt auch nicht so ähnlich wie die Autonomen, sondern die ersten Personen, die in Deutschland unter der Eigenbezeichnung "Autonome" als politisch aktive Menschen erstmals aufgetreten sind gehören teilweise zu den Gründern dieses Instituts, und deren sozialhistorisches Paradigma ist auch das der Autonomie Neue Folge und der Materialien für einen Neuen Antiimperialismus. Das war früher mal ein ganz enger inhaltlicher und auch personeller Zusammenhang. Und die Art Alltagsgeschichte, wie sie z.B. in der Historischen Anthropologie betrieben wird, würde ich auch nicht als unterkomplex gegenüber Kocka betrachten.
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momorules,
Sonntag, 6. September 2009, 18:50
"Und die Art Alltagsgeschichte, wie sie z.B. in der Historischen Anthropologie betrieben wird, würde ich auch nicht als unterkomplex gegenüber Kocka betrachten."
Ja, aber dann führ doch mal aus, in welcher Hinsicht, anhand welcher Kriterien und Methodiken.
Ja, aber dann führ doch mal aus, in welcher Hinsicht, anhand welcher Kriterien und Methodiken.
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che2001,
Montag, 7. September 2009, 14:20
Die Historische Anthropologie hat zunächst mal jede Menge Innovatives in die deutsche Geschichtswissenschaft hineingetragen, sei es die Adaption von Foucault, sei es die Körpergeschichte, sei es die Umweltgeschichte und die Abrechnung mit dem Eurozentrismus. Es gibt da einen sehr schönen Aufsatz von Ganananath Obeyesekere mit dem Titel „Britische Kannibalen“, der von der Entdeckung James Cooks durch die Hawaiier handelt und diese ganzen kolonial-exotizistischen Blickweisen konsequent umdreht und zu so schönen Formulierungen kommt wie „im Übrigen beschränkte sich der sogenannte Kannibalismus der Maori auf den Konsum von Europäern“. Die Historische Anthropologie versteht Geschichte als politische Kulturwissenschaft, damit dockt sie an die Bielefelder Auffassung der Historischen Sozialwissenschaft an, geht aber einen entscheidenden Schritt weiter. Das Ganze ist zumindest im Ursprung als Geschichte von Unten im Zusammenhang mit der sogenannten Anderen Arbeitergeschichte zu verstehen. Alltagsgeschichte ist hier keinesfalls als Geschichte des Alltags gedacht, sondern als eine methodologische Herangehensweise und auch Begrifflichkeit von Geschichte, die sich von bisheriger Historiographie unterscheidet.
Deutlich wird dies zum Beispiel an der Interpretation der Krise des Spätmittelalters durch das Max-Planck-Institut für Geschichte, die an Frantisek Graus´Buch „Pest, Geißler, Judenmorde. Das Spätmittelalter als Krisenzeit“ anküpft. Hier fassen Umweltgeschichte (Interpretation der spätmittelalterlichen Agrarkrise und der Klimaverschlechterung zu Beginn der Kleinen Eiszeit), Körpergeschichte (Bedeutung des Schwarzen Tods und der körperlichen Buße; Geißlerzüge und Aufkommen neuer, raffinierter und grausamer Strafen), Ideengeschichte und klassische Wirtschafts- und Sozialgeschichte das Zeitgeschehen in ein multifaktorielles Modell, das zwar an ältere Ansätze anknüpft und diese integriert, so aber an sich neu ist. Das Entstehen der Renaissance wird hier begriffen als ein Bündel von Lösungen, um aus der Krise des Spätmittelalters herauszukommen und als eine kulturelle, ökonomische und politische Revolution auf Basis einer allumfassenden, sozioökonomischen wie mentalen Krise, auf die das Mittelalter mit seinen bisherigen Lösungsmodellen keine Antworten mehr hatte. Hierbei stehen Fragen des Alltags (Denk- und Handlungsweise, Hygiene, Ernährung usw) im Mittelpunkt, ohne sie wäre das ganze Modell nicht plausibel. Alltagsgeschichte ist hier also keine Geschichte des Alltags, sondern alltagsgeschichtliche Prozesse machen die sozial- wirtschafts- und ideengeschichtliche Entwicklung überhaupt erst plausibel, die sich aus Veränderungen des Alltags ergeben.
Die Geschichte von unten oder Andere Arbeitergeschichte ergab sich innerhalb des alltagsgeschichtliche Ansatzes nicht zuletzt aus den Impulsen der neueren marxistischen Arbeitergeschichte aus England (Dreh- und Angelpunkt: The Making of the English working class, und Making ist hierbei eben als ein dynamischer Entwicklungspozess im Sinne von „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, wen auch nicht aus freien Stücken“ zu verstehen, etwas, was in der deutschen Sozialgeschichte nicht vorkam. Das Problem bei den Wehlers, Winklers und Kockas, bzw. noch viel mehr bei den weniger prominenten VertreterInnen ihrer Schule auf den Lehrstühlen war ja nicht das, was sie vertraten, sondern das, was sie wegließen.
Bei Helga Grebing zum Beispiel, die Geschichte der Arbeiterbewegung lehrte (und die ich bei aller Kritik sehr achte, das nimmt der Kritik aber nicht ihren Wert), reduzierte diese sich auf Geschichte der SPD und der Gewerkschaften, Kommunisten, Anarchisten und insbesondere auch Revolte gegen die Arbeit an sich wurden systematisch ausgeklammert. Ich weiß noch, als ich im Gespräch mit ihr Paul Lafargue und sein „Recht auf Faulheit“ thematisierte und den Fluchtpunkt aufzeigen wollte, dass Befreiung von der Arbeit, nicht ein Recht auf Arbeit ursprünglicher Impuls von Arbeiterkämpfen war. Umsonst. Da kam dann als Antwort der festgemeißelte Glaubenssatz, dass der Mensch Befriedigung nur aus erfüllter Arbeit erleben würde – die Selbstverwirklichung in derSelbstverdinglichung als anthropologische Grundkonstante.
Dem standen Entfremdungserfahrungen von Arbeitern aus der Zeit der industriellen Revolution entgegen, die ganz starke Ähnlichkeit mit der Wirklichkeits- und Körpererfahrung hatten, die Ford-Arbeiter berichteten, die relativ frisch aus den Agrarregionen der Estremadura, Siziliens, Anatoliens und Kurdistans nach Deutschland verfrachtet worden waren und deren wilder Streik 1973 vor allem als Kampf gegen Arbeitsdrill und als Aufbegehren gegen das körperlich zugerichtet werden im Akkord, nicht in erster Linie als Kampf um Lohnforderungen geführt worden war. Überwachen und Strafen von Foucault, in Kombination mit Elias´ Zivilisationsprozess gelesen, machte uns sehr plausibel, um was es da unserer Auffassung nach ging.
Der ganze operaistische Ansatz mit dem Dualismus „das Leben gegen die Maschine“ und Klassenkampf als Kampf gegen die kapitalistische Arbeit setzt da an. Und genau das wollten unsere damaligen Profs auf keinen Fall zulassen. Wer sich mit Alltagsgeschichte beschäftigte und links war, stürzte sich hinsichtlich Prüfungsthemen tunlichst auf das Mittelalter, da man bei Neuzeitthemen mit professoraler Zensur oder Nichtbeachtung rechnen musste.
Das Bild, das unsere Sozialhistoriker vom Arbeiter zeichneten, war, bevor feministische Historikerinnen die Bielefelder Schule mit ihrer Frauen-Alltagsgeschichte gehörig aufmischten, das des gewerkschaftlich organisierten, klassenbewussten, auf seine Arbeit stolzen Arbeiters. Maschinenstürmereien etwa wurden zunächst zwar als Kampf der Pauperisierten um ihre pure Existenz, zugleich aber auch als anachronistisch und unvernünftig betrachtet, der Aspekt eines Aufbegehrens des geschundenen Körpers gegen den Maschinentakt hingegen ausgeblendet. Ich spreche hier von den frühen Achtzigern, der Zeit vor Glasnost und Perestroika, zwischen Hausbesetzungen und Anti-Atomraketenprotesten.
Unsere Sozialhistoriker waren da in ihrer Mehrheit vor allem staatstragend und betonten stets, dass es keine Alternative zur Westbindung gäbe. Kaufhold erzählte in seiner „Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ regelmäßig, dass der westliche Kapitalismus die Beste aller Welten sei. Diese Haltung unserer Profs brachten einen Kommilitonen schon mal dazu, bei einem Symposium gegenüber den Lehrenden auszusprechen: „Ihre Gesinnung wurde doch mit Marshallgeldern zusammengekauft!“
Und dabei waren diese sozialdemokratischen SozialhistorikerInnen ja noch der fortschrittliche Flügel des Lehrkörpers; wir hatten auch in den 90ern noch Profs, die die Existenz eines Patriarchats bestritten.
Letztlich beinhaltete das sozialhistorische Paradigma der Anderen Arbeitergeschichte, die unmittelbare Lebenserfahrung von ArbeiterInnen wieder spürbar werden zu lassen, die wir in der bisherigen Sozialgeschichte verschüttet sahen. Insgesamt bedeutete dies weniger ein grundsätzliches Infragestellen, sondern eher eine Metakritik innerhalb der Historischen Sozialwissenschaft.
http://de.wikipedia.org/wiki/Alltagsgeschichte
http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_von_unten
http://www.trend.infopartisan.net/trd1099/t241099.html
Deutlich wird dies zum Beispiel an der Interpretation der Krise des Spätmittelalters durch das Max-Planck-Institut für Geschichte, die an Frantisek Graus´Buch „Pest, Geißler, Judenmorde. Das Spätmittelalter als Krisenzeit“ anküpft. Hier fassen Umweltgeschichte (Interpretation der spätmittelalterlichen Agrarkrise und der Klimaverschlechterung zu Beginn der Kleinen Eiszeit), Körpergeschichte (Bedeutung des Schwarzen Tods und der körperlichen Buße; Geißlerzüge und Aufkommen neuer, raffinierter und grausamer Strafen), Ideengeschichte und klassische Wirtschafts- und Sozialgeschichte das Zeitgeschehen in ein multifaktorielles Modell, das zwar an ältere Ansätze anknüpft und diese integriert, so aber an sich neu ist. Das Entstehen der Renaissance wird hier begriffen als ein Bündel von Lösungen, um aus der Krise des Spätmittelalters herauszukommen und als eine kulturelle, ökonomische und politische Revolution auf Basis einer allumfassenden, sozioökonomischen wie mentalen Krise, auf die das Mittelalter mit seinen bisherigen Lösungsmodellen keine Antworten mehr hatte. Hierbei stehen Fragen des Alltags (Denk- und Handlungsweise, Hygiene, Ernährung usw) im Mittelpunkt, ohne sie wäre das ganze Modell nicht plausibel. Alltagsgeschichte ist hier also keine Geschichte des Alltags, sondern alltagsgeschichtliche Prozesse machen die sozial- wirtschafts- und ideengeschichtliche Entwicklung überhaupt erst plausibel, die sich aus Veränderungen des Alltags ergeben.
Die Geschichte von unten oder Andere Arbeitergeschichte ergab sich innerhalb des alltagsgeschichtliche Ansatzes nicht zuletzt aus den Impulsen der neueren marxistischen Arbeitergeschichte aus England (Dreh- und Angelpunkt: The Making of the English working class, und Making ist hierbei eben als ein dynamischer Entwicklungspozess im Sinne von „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, wen auch nicht aus freien Stücken“ zu verstehen, etwas, was in der deutschen Sozialgeschichte nicht vorkam. Das Problem bei den Wehlers, Winklers und Kockas, bzw. noch viel mehr bei den weniger prominenten VertreterInnen ihrer Schule auf den Lehrstühlen war ja nicht das, was sie vertraten, sondern das, was sie wegließen.
Bei Helga Grebing zum Beispiel, die Geschichte der Arbeiterbewegung lehrte (und die ich bei aller Kritik sehr achte, das nimmt der Kritik aber nicht ihren Wert), reduzierte diese sich auf Geschichte der SPD und der Gewerkschaften, Kommunisten, Anarchisten und insbesondere auch Revolte gegen die Arbeit an sich wurden systematisch ausgeklammert. Ich weiß noch, als ich im Gespräch mit ihr Paul Lafargue und sein „Recht auf Faulheit“ thematisierte und den Fluchtpunkt aufzeigen wollte, dass Befreiung von der Arbeit, nicht ein Recht auf Arbeit ursprünglicher Impuls von Arbeiterkämpfen war. Umsonst. Da kam dann als Antwort der festgemeißelte Glaubenssatz, dass der Mensch Befriedigung nur aus erfüllter Arbeit erleben würde – die Selbstverwirklichung in derSelbstverdinglichung als anthropologische Grundkonstante.
Dem standen Entfremdungserfahrungen von Arbeitern aus der Zeit der industriellen Revolution entgegen, die ganz starke Ähnlichkeit mit der Wirklichkeits- und Körpererfahrung hatten, die Ford-Arbeiter berichteten, die relativ frisch aus den Agrarregionen der Estremadura, Siziliens, Anatoliens und Kurdistans nach Deutschland verfrachtet worden waren und deren wilder Streik 1973 vor allem als Kampf gegen Arbeitsdrill und als Aufbegehren gegen das körperlich zugerichtet werden im Akkord, nicht in erster Linie als Kampf um Lohnforderungen geführt worden war. Überwachen und Strafen von Foucault, in Kombination mit Elias´ Zivilisationsprozess gelesen, machte uns sehr plausibel, um was es da unserer Auffassung nach ging.
Der ganze operaistische Ansatz mit dem Dualismus „das Leben gegen die Maschine“ und Klassenkampf als Kampf gegen die kapitalistische Arbeit setzt da an. Und genau das wollten unsere damaligen Profs auf keinen Fall zulassen. Wer sich mit Alltagsgeschichte beschäftigte und links war, stürzte sich hinsichtlich Prüfungsthemen tunlichst auf das Mittelalter, da man bei Neuzeitthemen mit professoraler Zensur oder Nichtbeachtung rechnen musste.
Das Bild, das unsere Sozialhistoriker vom Arbeiter zeichneten, war, bevor feministische Historikerinnen die Bielefelder Schule mit ihrer Frauen-Alltagsgeschichte gehörig aufmischten, das des gewerkschaftlich organisierten, klassenbewussten, auf seine Arbeit stolzen Arbeiters. Maschinenstürmereien etwa wurden zunächst zwar als Kampf der Pauperisierten um ihre pure Existenz, zugleich aber auch als anachronistisch und unvernünftig betrachtet, der Aspekt eines Aufbegehrens des geschundenen Körpers gegen den Maschinentakt hingegen ausgeblendet. Ich spreche hier von den frühen Achtzigern, der Zeit vor Glasnost und Perestroika, zwischen Hausbesetzungen und Anti-Atomraketenprotesten.
Unsere Sozialhistoriker waren da in ihrer Mehrheit vor allem staatstragend und betonten stets, dass es keine Alternative zur Westbindung gäbe. Kaufhold erzählte in seiner „Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ regelmäßig, dass der westliche Kapitalismus die Beste aller Welten sei. Diese Haltung unserer Profs brachten einen Kommilitonen schon mal dazu, bei einem Symposium gegenüber den Lehrenden auszusprechen: „Ihre Gesinnung wurde doch mit Marshallgeldern zusammengekauft!“
Und dabei waren diese sozialdemokratischen SozialhistorikerInnen ja noch der fortschrittliche Flügel des Lehrkörpers; wir hatten auch in den 90ern noch Profs, die die Existenz eines Patriarchats bestritten.
Letztlich beinhaltete das sozialhistorische Paradigma der Anderen Arbeitergeschichte, die unmittelbare Lebenserfahrung von ArbeiterInnen wieder spürbar werden zu lassen, die wir in der bisherigen Sozialgeschichte verschüttet sahen. Insgesamt bedeutete dies weniger ein grundsätzliches Infragestellen, sondern eher eine Metakritik innerhalb der Historischen Sozialwissenschaft.
http://de.wikipedia.org/wiki/Alltagsgeschichte
http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_von_unten
http://www.trend.infopartisan.net/trd1099/t241099.html
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momorules,
Montag, 7. September 2009, 15:33
Ah, Danke! Das war doch jetzt substantiell und informativ!
"Wer sich mit Alltagsgeschichte beschäftigte und links war, stürzte sich hinsichtlich Prüfungsthemen tunlichst auf das Mittelalter, da man bei Neuzeitthemen mit professoraler Zensur oder Nichtbeachtung rechnen musste."
Das war bei uns tatsächlich anders. Auch Foucault-Anwendungen wurden zwar von manchen kristisiert, aber nicht abgemeiert.
Habe ja im Fachbereich "Sozial - und Wirtschaftsgeschichte" studiert, und Leute wie der Goertz, dessen Schwerpunkt die Wiedertäufer waren, der war extrem offen für Foucault und Elias. Bei dem hatte ich ein Seminar zur "Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit", also dem Thema,das Du auch erwähnst, wo's ziemlich zur Sache ging.
Aber auch im historischen Seminar gab's solche professorale Zensur eigentlich nicht, wenn man sich Mühe gab. Die hatten alles was gegen's Phrasen dreschen, aber so lange man Quellen ernst nahm und einigermaßen komplex vorging und nicht zu sehr abhob, gab's auch Einsen ;-) ...
"Wer sich mit Alltagsgeschichte beschäftigte und links war, stürzte sich hinsichtlich Prüfungsthemen tunlichst auf das Mittelalter, da man bei Neuzeitthemen mit professoraler Zensur oder Nichtbeachtung rechnen musste."
Das war bei uns tatsächlich anders. Auch Foucault-Anwendungen wurden zwar von manchen kristisiert, aber nicht abgemeiert.
Habe ja im Fachbereich "Sozial - und Wirtschaftsgeschichte" studiert, und Leute wie der Goertz, dessen Schwerpunkt die Wiedertäufer waren, der war extrem offen für Foucault und Elias. Bei dem hatte ich ein Seminar zur "Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit", also dem Thema,das Du auch erwähnst, wo's ziemlich zur Sache ging.
Aber auch im historischen Seminar gab's solche professorale Zensur eigentlich nicht, wenn man sich Mühe gab. Die hatten alles was gegen's Phrasen dreschen, aber so lange man Quellen ernst nahm und einigermaßen komplex vorging und nicht zu sehr abhob, gab's auch Einsen ;-) ...
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che2001,
Montag, 7. September 2009, 16:58
In meiner Magisterarbeit, auch mit 1 bewertet, konnte ich später problemlos aus der "Autonomie" zitieren. Dieser Konflikt AlltagshistorikerInnen vs. Historisten bzw. Sozialgeschichte wie oben geschildert war eine Vor-1989-Angelegenheit, die sich mit dem Generationswechsel auf den Lehrstühlen von selbst löste.
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entdinglichung,
Montag, 7. September 2009, 15:37
bleibt anzumerken, dass in der DDR v.a. zu Themen, die geographisch oder zeitlich nicht unmittelbar mit dem Staat oder seiner Legitimation verknüpft waren durchaus Hervorragendes produziert wurde, z.B. die agrarhistorischen Studien von Hartmut Harnisch oder Walter Markovs Werke zur französischen Revolution
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che2001,
Montag, 7. September 2009, 17:00
Ja, der Markov-Soboul war Standardliteratur bei uns auf der gymnasialen Oberstufe (im Westen). Und der von mir hochgeschätzte und oben erwähnte Frantisek Graus war ja auch ein Tscheche. Die Annales brachten Historiker aus Ost und West in Frankreich zusammen, und das strahlte dann aufs Göttinger MPI zurück. Verglichen damit war die Uni Provinz.
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