Sonntag, 16. Oktober 2016
Des deutschen Spießers Wunderland, heute: die schlecht gebundene Krawatte als nationale Katastrophe
Ich war mal wieder bei meinem Vater, und der sagte in alarmistischem Tonfall "Deine Krawatte ist falsch gebunden, das sieht unmöglich aus!"

Ich schaute in den Spiegel und konnte nichts Falsches feststellen. Nun habe ich hinten keine Augen, und so sahtete ich nicht dass der Schlips im Nacken an einer Stelle über den Kragen ragte. Indessen kam es bei Vater zu einer Übersprungshandlung. Er brüllte los dass man wenn man das sähe ja Bescheid wüsste dass ich in meinem Leben nicht irgendetwas auf die Reihe kriegen würde. Das wäre das "schnell-schnell", mit dem ich alles machen würde, 10 Minuten früher aufstehen und das Problem wäre gelöst. Ich war drauf und dran zu antworten, nein, solche Probleme löse man mit Ritalin, Elektroschocks oder Hirnoperationen. Als Doktor magna cum laude, 8 Jahre lang PR-Chef einer nicht kleinen Firma, zeitweise einer der beliebtesten Lehrer an einer Schule bzw. beliebtesten Dozenten eines Bildungswerks, seit 6 Jahren selbstständiger Unternehmer, zwar mehr als einmal am Rand der Insolvenz aber jedenfalls immer noch am Markt muss ich mir so etwas anhören. Eigentlich ist das ein lieber und sozial äußerst kompetenter Mensch. Gerät er aber unter Stress bricht sich der alte Nazi seine Bahn.

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Norddeutsche sind halt schwierig. ;-)
Mein Vater ist auch einer.
Meine Schwester und ich konnten uns jahrelang auch so einen Blödsinn anhören, obwohl beruflich erfolgreich und auch bei den Steuerbehörden sicher beliebt, weil bei denen einiges reinläuft. Meine Schwester dann noch bei einem Großkonzern und nicht als Freelance-Progger wie ich.
Vielleicht ist es eine Macke der sozialen Aufsteiger des Nachkriegs-Deutschland, ob mehr als selfmademann wie dein Vater oder mit Bildungsweg als in den 60ern die Massenunis aufkamen wie mein Vater (42 geboren).
Als beruflich schon mal unter cholerischen Anfällen leidender Typ weiss ich, dass Aggression eigentlich immer aus Verunsicherung entsteht. Oft hab ich den Eindruck, dass sich da vielleicht aus dem Aufstieg in die "bessere" Schicht stets eine Art Unsicherheit mitschwang. Die äussert sich dann in diesen extremen Reaktionen gegen vermeintliche Selbstexklusion durch Kleinigkeiten wie eine angeblich schlecht gebundene Krawatte.
Ich müsste zum krawatte binden google bemühen. Vor 10 Jahren hab ich mir sowas mal zum Erstkontakt mit Kunden angezogen. War damals schon sehr naiv. Machte einen schlechten Eindruck.

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Ich denke nicht, dass sich da Altnazitum Bahn bricht. Mein Vater hatte als Kriegsverschleppter aus der Ukraine mit Nazis wenig bis nichts am Hut, war aber auch zu solchen Ausrastern wegen irgendwelcher Lappalien fähig.

Der Vater meines früheren Kompagnons ist mit Leib und Seele Sozialdemokrat, und der hat es vor vielen Jahren mal geschafft, sich mit seinem Sohn wegen einer von ihm frisch geöffneten Mineralwasserflasche (obwohl eine bereits angebrochene im Kühlschrank stand) so derart zu verkrachen, dass ich schon überlegte, ob ich die Polizei rufen muss.

Ach ja, und der ist streng genommen Südhesse mit ungarndeutschem Background... ;-)

Man wäre geneigt, es auf den Krieg zu schieben, aber weder der Vater meines Kollegen noch mein eigener waren im Krieg...

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Man wäre geneigt, es auf den Krieg zu schieben, aber weder der Vater meines Kollegen noch mein eigener waren im Krieg...

Man muss nicht an der Front gekämpft haben, um ein Trauma davon zu tragen. Ihr Vater als Kriegsverschleppter aus der Ukraine war nur auf andere Weise im Krieg.

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Mein Vater hat seine Sozialisation im Wesentlichen über das Jungvolk und die HJ erfahren, insofern passt das schon. Im Übrigen, in meiner Alterskohorte (in den Sechzigern geboren, soziokulturell Hippies bis Punks) gelten generell die Ordnungs- und Sauberkeitsmaßstäbe der Geburtenjahrgänge 1920-1950 als "voll faschistisch" ;-)

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Ich weiß, dass solche Anranzereien eigentlich Ausdruck liebevollen Sich-Sorgens sind, aber er kalibriert das so dass es bei mir als hasserfüllter Vernichtungswille ankommt.

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Psychologisierungen stehen mir hier ja nicht zu ... ich durfte mir allerdings aus nicht erkennbaren Gründen minutenlange aber nicht minder brillante Tiraden eines ü. 10 Jahre älteren Bekannten anhören.

Schockierend, aber druckreif (nach diversen Bieren), sodass ich schon begann ihn zu bewundern, obwohl diese Tiraden kaum erträglich waren ...

Es stellte sich dann nach seinem Ableben heraus: der Vater, Alkoholiker, Kapitän zur See. Aus kleinen Verhältnissen stammend. Seine Frau hatte ihn geldverdienend und auch wg. einer Art sozialem Engagement (selber wohl aus gebildeter Schicht u. eher betuchter stammend) über die Jahre unterstützt - eben bis er das Patent hatte, alle Weltmeere zu befahren.

Also kurz, ich sage nur: Prügelstrafe. Einer der Gründe, aus denen der Typ später solche psychische Symptomatik entwickelte, dass ich ihm nie solche elaboriert-brillanten Tiraden nie zugetraut hätte.

Hier also chancenloser Typ, hochgearbeitet zum höchsten Dienstgrad in der militärischen Schifffahrt, Alkohol, der seinen Sohn Prügelte. Aus letzterem schallte es dann heraus - aber wie !

PS
klar, bei meinem Vater ebenfalls die Folgen der (teilw. ritualisierten!) Prügelstrafe manchmal deutlich spürbar. Nur irgendwie hatte er sich klargemacht, dass das gaaa nicht ging. Er verhärtete sich dann gut sichtbar lieber selber. Etwas tragisch, ich habe soetwas aber nie erlebt.

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