Mittwoch, 9. Dezember 2020
Situation auf den Intensivstationen unter COVID-19: Auch Intensivmediziner fordern Nachdenken über Weihnachtsregelungen
Ute Eppinger, Medscape


„Wir hatten gehofft, dass wir dauerhaft unter 20.000 bleiben oder dass die Zahl noch weiter runter geht“, kommentierte Prof. Dr. Uwe Janssens bei einem Gespräch während des Kongresses der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) die anhaltend hohe Zahl der Neuinfektionen mit COVID-19 [1]. Offenbar, so Janssens, zeige der Lockdown light aber nur marginale Effekte.

„Man muss sich die Frage stellen, ob die getroffenen Maßnahmen durchdringend genug sind. Der Teil-Lockdown hat ein exponentielles Wachstum über 50.000 Neu-Infizierte täglich wie in Frankreich verhindert, aber die Zahlen sind unvermindert hoch. Dieses hohe Niveau wird die Intensivmedizin in den nächsten Wochen beschäftigen“, so Janssens.

Man muss sich die Frage stellen, ob die getroffenen Maßnahmen durchdringend genug sind. Prof. Dr. Uwe Janssens
Der Präsident der DIVI zeichnet ein ernüchterndes Bild: „Konservativ geschätzt wird 1% der Neuerkrankten 10 bis 12 Tage nach Meldung ans Gesundheitsamt intensivpflichtig.“ Halte der Trend an, „dann werden wir über Weihnachten eine sehr hohe Anzahl an Intensivpatienten haben“.

Derzeit liegt die Zahl der Intensivpatienten mit COVID-19 bei knapp 4.000. Das klinge zunächst einmal nicht bedrohlich. „Wir haben aber Regionen, da liegt der Anteil der COVID-19-Patienten auf Intensivstationen bei 25% und höher. Man muss sich klar machen, dass diese Patienten quasi ein ‚Add on‘ zu unserem normalen Tagesgeschäft sind – das alles läuft ja weiter“, so Janssens.

Hinzu kommt, dass ein COVID-19-Patient nicht wie ein Infarkt-Patient zu werten sei, sondern in der Betreuung – nicht nur im Hinblick auf die Infektionsschutzmaßnahmen – sehr viel aufwendiger sei. Patienten, die beatmet werden, haben Todesangst: „Da entsteht ein hoher psychologischer Betreuungsbedarf, das bindet eine Pflegekraft 1:1“, erklärte der Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin.

Bei intubierten Patienten muss zudem noch regelmäßig eine spezielle Lagerungstherapie mit 4 bis 5 Personen durchgeführt werden. Und wird ein Patient an eine künstliche Lunge (ECMO) angeschlossen, ist eine noch engere Überwachung erforderlich. Hinzu kommt, dass COVID-19-Patienten häufig sehr viel länger auf der Intensivstation liegen, vor allem dann, wenn sie beatmet werden müssen.

Noch gibt es freie Intensivbetten. Der verbleibende Spielraum ist regional unterschiedlich: Sind es noch 18% freie Betten in Nordrhein-Westfalen, weist Schleswig-Holstein 30% freie Betten auf, in Mecklenburg-Vorpommern sind es 20%, in Brandenburg 20%; Berlin hingegen verfügt nur noch über 11% freie Betten, Bonn über 10%, in Aachen sind nur noch 17 Betten von 300 ITS-Betten frei.

„Das ist für die Intensivmedizin eigentlich zu wenig. Wir könnten da nur noch absolute Notfälle behandeln und müssten uns schon Gedanken über eine Verlegung machen“, berichtete Janssens.

Konzepte zur überregionalen Verteilung sind dringend notwendig
Doch genau da hapert es, kritisiert er. Zwar gibt es das ‚Kleeblatt-Konzept‘ des Bundesinnenministeriums, das bei Klinikengpässen Verlegungen der Patienten vorsieht. Entsprechend eines Kleeblatts bilden dabei 3 bis 5 Bundesländer eine Planungseinheit:

Im Norden sind das Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern,

im Osten Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Im Südwesten schließen sich Hessen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland zu einer wechselseitigen Unterstützungseinheit zusammen.

Nordrhein-Westfalen und Bayern als die beiden bevölkerungsreichsten Bundesländer gelten als jeweils eigene Großregionen.

„Wir haben in Nordrhein-Westfallen aber keine überregionalen Konzepte, wie wir innerhalb des Bundeslandes mit Überlastungen in einzelnen ITS-Bereichen umzugehen haben. Das ist schon eine sehr große Schwachstelle“, sagte Janssens.

Eine überregionale Steuerung müsse dringend einsetzen. Berlin z.B. organisiere das mit dem Ampelsystem gut, auch in Hessen funktioniere die Verlegung. „Aber die anderen Bundesländer und gerade auch NRW sind da leider relativ untätig.“

Kliniken vermissen klare Vorgaben der Politik
Janssens betont, dass auch die finanzielle Kompensation für Kliniken sichergestellt sein muss. Es gebe aber immer noch keine klare Maßgabe der Politik, wie sich Kliniken verhalten sollen – in Bezug auf verschiebbare Eingriffe und stationäre Aufnahmen.

„Man zögert noch und sagt, nein, wir werden die Krankenhäuser jetzt nicht aus dem Regelbetrieb rausnehmen, z.B. in NRW. Die Kliniken müssen aber darauf vertrauen können, dass sie – wenn sie in einer Region sind, in der nur noch weniger als 15% freie Intensiv-Betten vorhanden sind – als Häuser der Versorgungsstufe 1, 2 und 3 entsprechende Kompensationszahlungen erhalten.“


In NRW sei versichert worden, dass die Krankenhäuser die Kompensation erhalten. Aber im Konzept des Bundesinnenministeriums mit dem Pandemierat wurden tatsächlich die Häuser der Versorgungsstufe 1 von den Kompensationszahlungen ausgenommen. „Da sind viele Kliniken darunter, die sich sehr aktiv an der intensivmedizinischen Versorgung von COVID-19-Patienten beteiligen“, so Janssens.

Auch das sei eine enorme Schwachstelle dieses Konzepts, das momentan korrigiert werde und unbedingt korrigiert werden müsse. „Denn das hat zu Auswüchsen geführt, dass z.B. in unserer Region ein Krankenhaus der Versorgungsstufe 1 bekannt gegeben hat, dass es sich nicht um COVID-19-Patienten kümmern könne und deren Aufnahme ablehne. Das kann natürlich nicht sein – das ist das Ergebnis einer politischen Fehlsteuerung.“

Viele Kliniken hätten schon im vorauseilenden Gehorsam den Regelbetrieb eingeschränkt und Operationen abgesetzt. Durch Verschiebungen des Personals wird versucht, den Personalmangel so gut es geht aufzufangen. Teilweise würden Operationssäle geschlossen, die Anästhesie- und Fachpflegekräfte unterstützen dann auf den Intensivstationen.

Auch werden zusätzliche COVID-19-Stationen aufgemacht, auf denen Intensivpflegekräfte und Fachpersonal gemeinsam arbeiten. „Man hat da schon Möglichkeiten – aber wenn das alles ausgereizt ist, dann muss eine Verlegung in andere Kliniken sichergestellt sein“, betonte Janssens.

Noch keine Triage-Situation
Noch sei man nicht in der schwierigen Situation, bei Patienten in Lebensgefahr entscheiden zu müssen, wer noch behandelt werden kann und wer nicht. Gleichwohl hat man sich längst auf die Situation vorbereitet. Bereits Ende März haben 7 Fachgesellschaften klinisch-ethische Handlungsempfehlungen gegeben. Das Dokument soll Ärzten und Pflegepersonal dabei helfen, zwischen den Patienten in Lebensgefahr zu priorisieren.

Als Kriterium gilt dabei die klinische Erfolgsaussicht, also die Wahrscheinlichkeit, ob der Patient die Intensivbehandlung überleben wird. Die Autoren des Papers haben sich klar gegen das Kriterium ‚Alter‘ entschieden. Deshalb spielen der Schweregrad der aktuellen Erkrankung sowie relevante Begleiterkrankungen eine wesentliche Rolle. Der Patientenwille ist ohnehin fester Bestandteil bei allen Entscheidungen.

Es könne allerdings nicht sein, dass Ärzte, die solche schweren Entscheidungen treffen, damit rechnen müssen, deswegen strafrechtlich belangt zu werden. „Das hat Ängste bei vielen Kollegen ausgelöst, offensichtlich scheint da eine Lücke zu bestehen. Also muss das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Richtlinie geben, wie er zu verfahren hat. Hier müssten klare Regelungen her. „Das ist bei der Organtransplantation ja auch so, ähnliches wünschen wir uns auch für eine kritische Situation in einer Pandemie“, erklärte Janssens.

Der Intensivmediziner hofft, dass es nicht zu den geplanten Lockerungen über die Feiertage kommt: „Man sollte sehr ernsthaft über die Weihnachtsregelungen nachdenken.“

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