Dienstag, 29. Dezember 2020
Steigende Fallzahlen durch COVID-19: Triage könnte notwendig werden – Ärzte fordern klare gesetzliche Regelungen
Ute Eppinger, Medscape



Mehr als 5.000 COVID-19-Patienten sind derzeit auf deutschen Intensivstationen. Dabei werde es nicht bleiben, stellte Prof. Dr. Christian Karagiannidis auf einer virtuellen Pressekonferenz der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) klar [1]: „Sicher ist schon jetzt, dass die Zahl der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen weiter steigen wird – unabhängig davon, wie gut der Lockdown jetzt im Moment funktioniert.“ Denn bei steigenden Infektionszahlen nehme die Zahl der intensivpflichtigen COVID-19-Patienten erst mit zeitlicher Verzögerung zu.

Belastung von Intensivstationen bis in den Januar
Karagiannidis, er leitet an der Lungenklinik Köln-Merheim das ECMO-Zentrum und betreut das DIVI-Intensivregister, rechnet aufgrund eines von der DIVI erstellten Belastungsmodells mit mindestens 1.000 weiteren COVID-19-Patienten. Allerdings wurden in den Prognosen auch noch höhere Zahlen simuliert: „Wir hoffen sehr, dass wir nicht in die oberen Bereiche kommen“, so der Experte.

Eine „fortgesetzte Grenzsituation auf den Intensivstationen bis in den Januar hinein” sieht auch Prof. Dr. Uwe Janssens, Präsident der DIVI, sollten sich die Infektionszahlen weiterhin auf dem sehr hohen Niveau von derzeit deutlich über 25.000 Neuinfektionen pro Tag bewegen.

Ärzte hoffen, dass die Zahlen nach dem jetzigen Anstieg aufgrund des derzeitigen Lockdowns wieder sinken. Fest stehe aber, dass die Intensivmedizin jetzt noch einmal stärker belastet werde, so Janssens.

Sicher ist schon jetzt, dass die Zahl der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen weiter steigen wird – unabhängig davon, wie gut der Lockdown jetzt im Moment funktioniert. Prof. Dr. Christian Karagiannidis
Patienten mit COVID-19 sind aufwändiger zu versorgen als andere Patienten; sie erfordern mehr Personal. liegen aber auch deutlich länger auf den Intensivstationen als Patienten mit anderen beatmungspflichtigen Erkrankungen. Als Durchschnittswert nennt Prof. Dr. Stefan Kluge, Intensivmediziner am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), rund 18 Tage.

In Ausnahmefällen kann die Beatmung aber auch erheblich länger dauern. Kluge berichtet von 2 Patienten mit COVID-19, die in Hamburg mehr als 6 Monate beatmet werden mussten. Über die Hälfte der Intensivpatienten mit COVID-19 ist derzeit beatmungspflichtig. Janssens und Kluge bestätigen, dass sich die lange Beatmungszeit auch direkt auf das Weaning auswirkt: „Aufgrund des sehr langen Beatmungsverlaufs müssen wir auch mit einem gravierenden Anstieg der Langzeit-Entwöhnung rechnen.“

Spitze der COVID-19-Patienten Mitte/Ende Januar zu erwarten
Laut Karagiannidis wird die Spitze der COVID-19-Patienten auf Intensivstationen wohl erst Mitte/Ende Januar erreicht werden. Doch Ärzte müssen sich nicht nur auf mehr Patienten einstellen. „Wir haben auch das Problem, dass wir zunehmend Einschränkungen der Betriebssituation in den Kliniken haben“, sagt Karagiannidis. „Bis zu 700 Intensivstationen geben Einschränkungen beim Personal an.“

Die hohe Zahl von Intensivpatienten muss wahrscheinlich mit noch weniger Personal bewältigt werden, das – bei steigender Inzidenz – auch mehr und mehr selbst in Quarantäne muss oder erkrankt. „Für uns heißt das: Wir müssen schnellstmöglich das Krankenhauspersonal impfen, damit wir nicht zusätzlich noch durch eine SARS-CoV-2-Infektion unser Personal verlieren“, so Karagiannidis weiter.

Patienten verlegen nach dem „Kleeblatt-Prinzip“
Sowohl Janssens als auch Prof. Dr. Steffen Weber-Carstens von der Berliner Charité betonten, dass es momentan keine Triage-Situation gebe. „Aktuell können wir noch jeden einzelnen Patienten behandeln”, bestätigte Weber-Carstens.

Ermöglicht wird das durch umfangreiche Verlegungen von COVID-19-Patienten nach dem „Kleeblatt-Prinzip“. Mehrere Bundesländer bilden jeweils 1 von 5 Kleeblättern als eigene Planungseinheiten. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen sind ein eigenes Blatt.

Aktuell können wir noch jeden einzelnen Patienten behandeln. Prof. Dr. Steffen Weber-Carstens
Das Konzept dient dazu, überlastete Regionen und Krankenhäuser zu unterstützen, indem Patienten in eine andere Region verlegt werden. Es bewahrt Sachsen, wo die Infektionszahlen derzeit besonders hoch sind, vor einer Triage: COVID-19-Patienten werden in andere Bundesländer verlegt.

Die Sterblichkeit beatmeter Patienten lag in der 1. Welle im Frühjahr bei 50%. Konnte sie in der 2. Welle durch den Einsatz von Dexamethason etwas gesenkt werden? Karagiannidis betonte, dass erste verlässlichen Zahlen frühestens Mitte Januar vorlägen. „Meinem Gefühl nach ist es auch im Moment so, dass nicht weniger Intensivpatienten sterben, doch das ist eine sehr subjektive Einschätzung, wir müssen auf die Daten Mitte Januar warten.”


Gesetzliche Grundlage für den Fall der Triage notwendig
Auch wenn eine Triage derzeit nicht notwendig ist, machen Intensivmediziner deutlich, dass seine solche Situation eintreten könne. Alle beatmungsbedürftigen Patienten wiesen eine gleich hohe Dringlichkeit auf, betonte Janssens: „Ohne eine sofortige intensivmedizinische Behandlung würden sie sterben.“ Die Intensivmediziner haben sich vorbereitet und Ende März klinisch-ethische Handlungsempfehlungen für den Fall einer Triage vorgelegt. Das Dokument soll Ärzten und Pflegepersonal dabei helfen, zwischen den Patienten in Lebensgefahr zu priorisieren.

„Eine konsequente Orientierung an der jeweils aktuellen individuell abgeschätzten Erfolgsaussicht soll verhindern, dass Menschen mit hohem Alter, mit einer Behinderung oder mit einer chronischen Erkrankung von vornherein pauschal ausgeschlossen werden”, betonte Janssens.

Solche Entscheidungen müssten aber getroffen werden. Denn keine Entscheidung zu treffen, bedeute, dass alle Patienten sterben würden, betont Janssens. Die derzeit bestehende Rechtsunsicherheit für Ärzte sei gut zu ertragen; Entscheidungen seien „aus Sicht der Strafrechtler strafbewehrt und würde uns den Vorsatz der Tötung einbringen”.

Aus Sicht der DIVI müssen die Voraussetzungen für konsistente und gerechte Zuteilungsentscheidungen im gesamten Bundesgebiet geschaffen werden. Vorgeschlagene Lösungen wie „Wer zuerst kommt erhält die Ressource“ oder Entscheidungen per Losverfahren seien kaum zu ertragen. Janssens: „Wir hoffen, dass es zu einer guten gesetzlichen Regelung kommen wird“, sagt der Experte.

Meine jetzige Prognose wäre, dass der Lockdown nicht zum 10. Januar zu Ende sein wird, das kann den aktuellen Zahlen zufolge eigentlich nicht sein. Prof. Dr. Stefan Kluge
Kluge warnt davor, sich aufgrund von Antigen-Tests in zu großer Sicherheit zu wiegen. Er geht davon aus, dass die Einschränkungen im Januar nicht beendet werden können: „Meine jetzige Prognose wäre, dass der Lockdown nicht zum 10. Januar zu Ende sein wird, das kann den aktuellen Zahlen zufolge eigentlich nicht sein.“

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