Mittwoch, 9. Juni 2021
COVID-19 als eigene Krankheitsentität: Warum der Körper auf SARS-CoV-2 anders reagiert als auf frühere Coronaviren
Forscher haben in den letzten Monaten viel zur Epidemiologie von SARS-CoV-2 herausgefunden, doch das komplexe klinische Bild von COVID-19 wirft etliche Fragen auf. Deshalb hat Dr. Marcin F. Osuchowski vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie zusammen mit Kollegen die wissenschaftliche Literatur gesichtet. Die Übersichtsarbeit in The Lancet legt nahe, dass das Virus ein besonderes Infektionsprofil hat ? und das COVID-19 eine eigenständige medizinische Entität ist [1].

Besondere Eigenschaften von SARS-CoV-2
Mittlerweile gibt es zunehmend Evidenz, dass SARS-CoV-2 sowohl die oberen als auch die unteren Atemwege infiziert. Das überrascht, denn humane Coronaviren als bekannte Auslöser von Erkältungskrankheiten besiedeln typischerweise die oberen Atemwege. Hochpathogene Coronaviren wie SARS und MERS befallen vor allem die unteren Atemwege.

Die Replikation im Hals-Rachen-Raum, auch während der präsymptomatischen Phase, spielt eine wichtige Rolle zur Erklärung der vergleichsweise hohen Übertragbarkeit von SARS-CoV-2. Untersuchungen zeigen, dass bei Patienten mit COVID-19 die Viruslast in respiratorischen Proben höher als bei SARS und MERS ist. Sie erreicht 3-5 Tage vor Symptombeginn ein Maximum: deutlich früher als bei SARS oder MERS. Bei allen 3 Viren kommt es zu einer ähnlichen kurzzeitigen humoralen Immunantwort.

Wie lange die Immunität gegen SARS-CoV-2 anhält, ist derzeit unklar. Es gibt Hinweise, dass das immunologische Gedächtnis über 6 Monate hinweg persistiert. Möglicherweise ist die T-Zell-Immunität wesentlich länger. Bei SARS konnte eine T-Zell-Reaktivität bis zu 17 Jahre nach der Infektion nachgewiesen werden.

COVID-19: Das Immunsystem außer Takt


Neue Krankheitsbilder nach SARS-CoV-2-Infektionen
Im Vergleich zu anderen Coronaviren überraschen sowohl die Multiorgan-Symptomatik als auch die Thrombenbildung und eine ungewöhnliche immunvermittelte inflammatorische Reaktion. SARS-CoV-2 hat evolutionär besondere Eigenschaften entwickelt.


Während in Tier- und Zellmodellen eine aggressive immunvermittelte Entzündungsreaktion für die Symptome verantwortlich ist, scheint dies im Menschen weniger der Fall zu sein. Auch wenn Entzündungsprozesse als wichtiger Faktor gelten, liegt vor allem eine bislang unbekannte Dysregulation der Immunantwort vor. Die systemische, inflammatorische Antwort auf SARS-CoV-2 scheint im Vergleich zu anderen viralen oder bakteriellen Infektionen eher mild auszufallen.

Effekte auf die Balance des Immunsystems könnten auch eine Erklärung dafür sein, warum manche Patienten an Long-COVID leiden und warum nach der Infektion mitunter schwere Lungenschäden auftreten. Als weiterer wichtiger Faktor bei respiratorischen und nicht-respiratorischen Manifestationen der Krankheit gilt die die SARS-CoV-2-induzierte Endotheliitis.

Meist ist die Lunge beteiligt
COVID-19 wurde zuallererst als Lungenkrankheit beschrieben. Charakteristisch für die Pneumonie selbst ist eine Hypoxie. Dies kann zum akuten Lungenversagen (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) führen. Typisch ist ein Horovitz-Quotient unter 300 mmHg; er beschreibt das Ausmaß der Lungenschädigung. Bei Lungengesunden liegt der Wert je nach Alter zwischen 350 mmHg und 450 mmHg. COVID-19 manifestiert sich bei Erwachsenen oft durch Fieber und Husten, aber auch durch eine Atemfrequenz von über 30/Minute.

Die sogenannte stille Hypoxämie gilt als weiteres ungewöhnliches Phänomen. Sie ist charakterisiert durch einen kritisch-niedrigen Sauerstoffpartialdruck, aber nur leichte Beschwerden beim Atmen. Eine Studie zeigte, dass nur 19% der Patienten mit kritischem PaO2 unter Atemnot litten. Dabei kann es zu Atemversagen kommen.

Krankheit mit neuem Profil
Prof. Dr. Ignacio Martin-Loeches vom Trinity College Dublin, einer der Autoren des Reviews, betont, COVID-19 stelle eine neuartige Krankheit mit einem unbekannten Infektionsprofil dar. Das Virus habe seine ganz eigene Charakteristik und eine besondere Pathophysiologie. Dies sollte man sich bei der Behandlung bewusst machen.

Allerdings bedeute dies laut Martin-Loeches nicht, bekannte Therapien, die auf dem Wissen über andere Coronaviren beruhten, zu verwerfen. Zum Lösen des COVID-19-Puzzles wünscht er sich, dass Forscher die Thematik unvoreingenommen und vor allem schrittweise bearbeiten. Auf das Alter, das Geschlecht, auf Ethnien und Vorerkrankungen sei besonders zu achten.


Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

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