Donnerstag, 24. Juni 2021
Ein DOAC zur Antikoagulation bei stabilen COVID-19-Patienten? Rivaroxaban versagt kläglich
Sue Hughes

Die therapeutische Antikoagulation mit Rivaroxaban 20 mg einmal täglich konnte das klinische Outcome bei stabilen hospitalisierten COVID-19-Patienten mit erhöhten D-Dimer-Werten nicht verbessern, sondern verstärkte die Blutungsneigung im Vergleich zur prophylaktischen Antikoagulation im Krankenhaus. Das sind die Ergebnisse der ACTION-Studie, die Dr. Renato Lopes vom Duke University Medical Center in Durham, North Carolina, im Mai anlässlich des virtuellen Jahreskongresses 2021 des American College of Cardiology (ACC) präsentierte.

Frühere Ergebnisse dieser Gruppen hatten keinen Nutzen, aber eine erhöhte Blutungsrate bei kritisch kranken COVID-Patienten gezeigt, und diese Patienten waren nicht mehr in die Studien aufgenommen worden.

Auf die Frage, wie denn nun die Daten der jetzt vorliegenden Studien insgesamt zu interpretieren seien, sagte Lopes, die ACTION-Studien und die internationale Studienplattform seien recht unterschiedlich angelegt und könnten wohl nicht direkt miteinander verglichen werden. ?Wir haben Rivaroxaban eingesetzt, und sie haben Heparin als therapeutische Strategie verwendet. Sie haben die Ergebnisse im Krankenhaus betrachtet, während wir den Endpunkt der Untersuchung nach 30 Tagen gesetzt haben?, so Lopes.

Für den Moment können wir auf der Grundlage der ACTION-Studie sagen, dass sich Rivaroxaban in einer Dosis von 20 mg einmal täglich nicht zur Thromboseprophylaxe bei stabilen COVID-Patienten eignet, die keine andere Indikation für eine Antikoagulation wie eine TVT oder LE haben. Dr. Renato Lopes
?Die Studien müssen veröffentlicht werden, damit wir die Daten vollständig interpretieren können, bevor wir klinische Empfehlungen abgeben?, fügte er hinzu. ?Es gibt noch viele weitere Untersuchungen, die derzeit laufen und deren Ergebnisse in den nächsten Monaten verfügbar sein sollten. Dann werden wir wesentlich besser beurteilen können, was zu tun ist. Für den Moment können wir auf der Grundlage der ACTION-Studie sagen, dass sich Rivaroxaban in einer Dosis von 20 mg einmal täglich nicht zur Thromboseprophylaxe bei stabilen COVID-Patienten eignet, die keine andere Indikation für eine Antikoagulation wie eine TVT oder LE haben?, sagte Lopes.

Ergebnisse der ACTION-Studie mit 615 Patienten
Die ACTION-Studie wurde in Brasilien durchgeführt. Man wollte untersuchen, ob eine primäre therapeutische Antikoagulation mit Rivaroxaban zur Verhinderung von Komplikationen bei COVID-19-Patienten mit erhöhten D-Dimer-Werten, die stationär aufgenommen werden mussten, wirksamer ist als eine prophylaktische Antikoagulation.


Dr Renato Lopes

Die Studie sollte eigentlich auch ein therapeutisches Regime von Enoxaparin (1 mg/kg zweimal täglich) bei instabilen Patienten testen, doch konnten für diese Frage nicht genügend Personen rekrutiert werden, um zu einem aussagekräftigen Ergebnis zu kommen.

Lopes beschrieb Rivaroxaban als weitverbreitetes und wirksames orales Antikoagulans für Patienten mit Vorhofflimmern, tiefer Venenthrombose (TVT) und Lungenembolie (LE). In einigen Zentren wird es auch mit dem Ziel eingesetzt, thromboembolische Ereignisse bei COVID-19-Patienten zu verhindern. Allerdings liegen keine Daten über die optimale Dosierung und die Therapiedauer in dieser Situation vor. ?Die Aussicht auf einen oralen Wirkstoff wäre für mäßig kranke Patienten sehr verlockend, da es die Hypothese gibt, nach der die Entzündung und der prothrombotische Zustand nach der Entlassung aus dem Krankenhaus weiterhin Bestand haben?, sagte er.

Die ACTION-Studie war so angelegt, dass sie eine Überlegenheit von Rivaroxaban 20 mg gegenüber einer prophylaktischen Antikoagulation zeigen sollte, aber unsere Ergebnisse wiesen tatsächlich in die andere Richtung. Dr. Renato Lopes
?Die ACTION-Studie war so angelegt, dass sie eine Überlegenheit von Rivaroxaban 20 mg gegenüber einer prophylaktischen Antikoagulation zeigen sollte, aber unsere Ergebnisse wiesen tatsächlich in die andere Richtung. Die Zahl der thromboembolischen Ereignisse unter Rivaroxaban konnte zwar leicht reduziert werden, doch kam es zugleich zu einem nicht signifikanten Anstieg der Sterblichkeit und zu einem sehr deutlichen Anstieg bei den Blutungen. Das ist unterm Strich kein günstiger Tausch?, sagte Lopes gegenüber Medscape.

Rivaroxaban derzeit nicht zur Thromboseprophylaxe bei stabilen COVID-19-Patienten empfohlen
Die Ergebnisse dieser Studie stehen im Gegensatz zu einer Reihe von US-Studien, bei denen kürzlich ein Benefit für die Vollheparinisierung gegenüber der prophylaktischen Antikoagulation bei mäßig kranken COVID-Patienten gezeigt wurde. Die Topline-Ergebnisse aus 3 international verbundenen klinischen Studien REMAP-CAP, ACTIV-4 und ATTACC wurden im Januar bekannt gegeben und sollten zeigen, dass die Vollheparinisierung beim primären Endpunkt ?Beatmungspflicht oder andere organunterstützende Maßnahmen? 21 Tage nach Randomisierung gegenüber einer Prophylaxe mit niedrigen Dosen überlegen war. Diese Studien wurden jedoch noch nicht veröffentlicht und auch die Ergebnisse zur Sicherheit sind noch nicht bekannt. Es hieß nur, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis zugunsten der Vollheparinisierung ausfiel.

In der Studie wurden 615 solcher Patienten zufällig einer therapeutische Antikoagulation oder einer prophylaktischen Antikoagulation mit normalerweise niedrig dosiertem Enoxaparin 40 mg einmal täglich zugewiesen.

Es wurden 2 verschiedene therapeutische Strategien für 2 unterschiedliche Patientengruppen verfolgt: Stabile Patienten erhielten eine therapeutische Antikoagulation mit Rivaroxaban 20 mg täglich, und instabile Patienten erhielten im Krankenhaus Enoxaparin (1 mg/kg) zweimal täglich. Beide Gruppen erhielten nach der Entlassung aus dem Krankenhaus für 30 Tage Rivaroxaban 20 mg.

Der primäre Endpunkt war eine hierarchische Analyse der Mortalität, der Dauer des Krankenhausaufenthalts und der Dauer der Sauerstoffanwendung bis zu 30 Tagen unter Anwendung der ?unmatched Win Ratio?.


Lopes erläuterte, dass dabei jeder Patient in der Behandlungsgruppe mit jedem Patienten in der Kontrollgruppe für die 3 einzelnen Komponenten des zusammengesetzten Endpunkts verglichen wird. Wenn zum Beispiel bei der Mortalität der Behandlungspatient überlebt und der Kontrollpatient stirbt, gewinnt ?Behandlung?. Wenn der Kontrollpatient überlebt und der Behandlungspatient stirbt, gewinnt eben die Kontrollgruppe. Und auch ein Unentschieden ist möglich.

Die Win Ratio ergibt sich aus der Anzahl der Gewinne in der Behandlungsgruppe geteilt durch die Anzahl der Gewinne in der Kontrollgruppe. Bei einem Verhältnis >1 gilt die Behandlung als vorteilhaft.

Nach den Basiswerten wurden über 90% der aufgenommenen Patienten als stabil eingestuft, wobei etwa 75% Sauerstoffunterstützung benötigten. 90% nahmen bereits Antikoagulanzien ein (meist als Standardprophylaxe), 8% nahmen Thrombozytenaggregationshemmer, und 83% erhielten systemische Kortikosteroide.

Bei der Analyse der Ergebnisse kam die therapeutische Strategie auf 34,8% Gewinne gegenüber 41,3% bei der prophylaktischen Strategie. Bei 23,9% der Vergleiche gab es ein Unentschieden. Dies ergab eine Win Ratio von 0,86 (95% Konfidenzintervall, KI: 0,59?1,22) für die therapeutische gegenüber der prophylaktischen Strategie.

Die gleichen Muster zeigten sich für jede einzelne Komponente des zusammengesetzten primären Endpunkts. Die therapeutische Gruppe wies zahlenmäßig weniger thromboembolische Ereignisse auf (relatives Risiko, RR: 0,75; 95% KI: 0,45?1,26) aber auch eine häufigere 30-Tage-Mortalität (RR: 1,49; 95% KI: 0,90?2,46).

Es gab in der therapeutischen Gruppe auch einen signifikanten Anstieg bei den schweren oder klinisch relevanten Blutungen (8,4% vs. 2,3%), was ein RR von 3,64 bedeutete. Die Ergebnisse waren in sämtlichen Untergruppen ähnlich.

Eine der großen Fragen: Die optimale Antikoagulationsdosierung
Dr. Robert Harrington von der kalifornischen Stanford University kommentierte die Studie auf der ACC-Sitzung. Für ihn stellte sich die brasilianische Studie einer der großen Fragen beim Thema COVID-19, nämlich der optimalen Antikoagulationsdosierung. Doch sei das Vorgehen hier ein anderes gewesen als bei den in den USA durchgeführten Untersuchungen, da man versucht habe zu klären, ob stabile und instabile Patienten unterschiedliche Strategien benötigten.

Auf die Frage, was die Studie in dieser Hinsicht ergeben habe, antwortete Lopes, dass das primäre Ziel die Prüfung der therapeutischen Dosis von Rivaroxaban gewesen sei, aber sie wollten auch den Einsatz von Heparin bei instabilen Patienten erlauben. ?Es stellte sich heraus, dass die überwiegende Mehrheit der Patienten stabil war, und um diese Frage zu beantworten, konnten wir nicht genug instabile Patienten einschließen.


Lopes weiter: ?Unsere Untersuchung wollte sich in erster Linie auf stabile Patienten konzentrieren, die ein orales Medikament erhalten, und das ist der Beitrag, den diese Studie leistet.?

Harrington stimmte Lopes Interpretation der unterschiedlichen Ergebnisse in dieser Studie und den Ergebnissen des internationalen Studienverbundes zu. ?Es waren unterschiedliche Settings. Wir sollten uns an die Daten aus den internationalen Studien zur Vollheparinisierung bei mäßig kranken Patienten halten.?

Wir sollten uns an die Daten aus den internationalen Studien zur Vollheparinisierung bei mäßig kranken Patienten halten. Dr. Robert Harrington
Zur Win Ratio meinte er, dass diese Analysemethode einige Beschränkungen der traditionellen ?Time-to-Event?-Analyse, bei der nur das erste eingetretene Ereignis in die primäre Analyse einbezogen wird, beseitigen könne.

?Manchmal ist dies vielleicht nicht das wichtigste Ereignis (z.B. Herzinfarkt statt Tod, Revaskularisation statt Herzinfarkt)?, sagte er, ?die Win Ratio erlaubt es, alle Ereignisse zu untersuchen und zwischen den Behandlungen zu vergleichen.?

Für Harrington gebührt den Leitern der ACTION-Studie ein großes Lob für die Umsetzung der Win-Ratio-Methode in der Praxis. ?Es ist schön zu sehen, dass dieser statistische Ansatz in einer echten klinischen Studie Anwendung findet.?

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com/ übersetzt und adaptiert.

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