Mittwoch, 1. Dezember 2021
Nun kommt sie wohl doch: die allgemeine Impfpflicht ? ein Überblick zu Hürden und Möglichkeiten der Umsetzung
Michael van den Heuvel, Medscape



Nun kommt sie also wohl doch, die allgemeine Impfpflicht! Die Ankündigung des designierten Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) gestern Abend im ZDF-Interview hat für einige Furore gesorgt. ?Hätten wir eine höhere Impfquote, dann hätten wir eine andere Lage?, sagte er: ?Mein Vorschlag ist ja, dass der Zeitpunkt, bis zu dem dann jeder und jede sich hat impfen lassen können, nicht allzu fern liegt. Also mein Vorschlag: Anfang Februar oder Anfang März? nannte er als möglichen Zeitpunkt für eine solche Impfpflicht. Über 30 Millionen Impfungen will er zudem bis Weihnachten ermöglichen.

Die Entscheidung über eine allgemeine Impfpflicht liege allerdings beim Bundestag, so Scholz weiter. Für Abgeordnete handele es sich dabei um eine ?Gewissensfrage? ohne Fraktionszwang, kündigte er im ZDF-Interview an. Am Donnerstag soll es eine weitere, dann formelle Ministerpräsidenten-Konferenz geben, bei der dann über Details zu beraten sei. Mit Zustimmung über die Fraktionsgrenzen hinweg ist jedenfalls zu rechnen.

Dieser Vorstoß kommt zu einer Zeit, in der die die 7-Tage-Inzidenz nach wochenlangem Anstieg leicht auf 442,9 Fälle pro 100.000 Einwohner gesunken ist. Noch am Dienstag lag der Wert bei 452,2. Doch die Wissenschaftler bleiben skeptisch, ob wir damit bereits den Zenit der 4. Welle überschritten haben.

?Wir werden erst im Frühjahr sehen, wie schlimm diese vierte Welle wirklich ausgegangen ist?, so RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar H. Wieler. ?Wenn viele Menschen immer noch keine Grundimmunität haben, könnten wir nächsten Winter wieder eine große Welle haben.? Der RKI-Chef weiter: Das Beste wäre, wenn sich alle impfen ließen, die geimpft werden können. Doch davon ist Deutschland weit entfernt ? bislang sind nur 68,6% vollständig geschützt.?Zwar steigt aktuell die Impfbereitschaft auch unter Ungeimpften minimal an ? jedoch ist über die Hälfte der aktuell Ungeimpften ?auf keinen Fall? zu einer Impfung bereit?, erklärt dazu Prof. Dr. Cornelia Betsch. Die Professorin für Gesundheitskommunikation, Universität Erfurt ist wissenschaftliche Leiterin des ?COSMO ? COVID-19 Snapshot Monitoring? ? einer regelmäßigen Umfrage zur Stimmung in der Corona-Pandemie.

Breite Zustimmung bei der Politik und der Standesvertretung
Insgesamt trifft jedoch die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht derzeit in der Bevölkerung, unter Politikern und Wissenschaftlern auf einen breiten Konsens.

Markus Söder (CSU) erklärte zur allgemeinen Impfpflicht: ?Dies wird tatsächlich eine ganz entscheidende Weichenstellung sein im langfristigen Kampf gegen Corona, der Initiative, die ja von Bayern und Baden-Württemberg ausgegangen ist.? Bayerns Ministerpräsident gilt schon länger als Befürworter solcher Maßnahmen.

Auch die Bundesärztekammer unterstützt die Pläne. In einem Brief an die Regierung heißt es: ?Der Bund muss unverzüglich gesetzliche Regelungen für eine verfassungsrechtlich abgesicherte allgemeine Impfpflicht für alle erwachsenen Bürgerinnen und Bürger schaffen, bei denen keine medizinischen Kontraindikationen gegen eine Impfung vorliegen.? Standesvertreter sehen in hohen Impfquoten die einzige Möglichkeit, ?aus der Lockdown-Endlosschleife mit massiven psychosozialen Kollateraleffekten insbesondere für Kinder und Jugendliche herauszukommen?.

Mehrheit der Deutschen befürwortet Impfpflicht
Auch in der Bevölkerung ist die Zustimmung, alle Menschen verpflichtend zu impfen, erstaunlich hoch. Eine aktuelle, aber nur regional in Niedersachsen durchgeführte Befragung hat ergeben: Rund 2 Drittel (65%) befürworten dies. Und eine auf bestimmte Berufe begrenzte Impfpflicht bewerten sogar 78% als wünschenswert.

Jedoch speziell Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 29 Jahren gehen das Thema mit gemischten Gefühlen an, wie eine weitere Befragung zeigt. 70% von ihnen sprechen sich für eine Impfpflicht bei Erwachsenen etwa in Pflegeberufen sowie bei Erzieherinnen und Erziehern aus. Eine Mehrheit ist zudem für verpflichtende Impfungen für Kinder ab 12 Jahren (61%). 69% kreuzten jedoch an, Politiker sollten Jugendliche, die nicht geimpft seien, obwohl sie es könnten, nicht vom gesellschaftlichen Leben ausschließen.

Kein Widerspruch zum Grundgesetz
Doch wäre eine generelle Impfpflicht überhaupt umsetzbar? Das Science Media Center (SMC) sprach mit Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg.

?Grundsätzlich halte ich eine Impfpflicht verfassungsrechtlich für zulässig ? wenn sie darauf gerichtet ist, den Kollaps der Krankenhäuser zu verhindern?, sagt Lindner. Darin sieht er einen ?legitime verfassungsrechtliche Zweck? und erklärt: ?Allein die Verhinderung von Infektionen würde als Argument nicht ausreichen.? Die eigentliche Rechtfertigung liege darin, dass eine große Zahl der Ungeimpften auf den Intensivstationen lande, dort die Lage prekär werde und Menschen, die kein COVID-19 hätten, kein Intensivbett mehr bekämen.

?Eine Impfpflicht für alle würde bedeuten, dass wir auch Kinder und Jugendliche impfen, von denen keine große Gefahr mit Blick auf die Intensivstationen ausgeht?, gibt der Experte zu bedenken. ?Daher muss man vor allem auf jene abzielen, die ohne Impfung typischerweise auf die Intensivstation kommen. Und das könnten vor allem die über 60-Jährigen sein.?

Auf Überprüfungen von Impfungen angesprochen erklärt Lindner: ?Das Argument von Gesundheitsminister Jens Spahn, dass man eine Impfpflicht nicht kontrollieren könne, ist ein vorgeschobenes.? Auch Regeln im Straßenverkehr würden beispielsweise nicht durchgängig kontrolliert. Seine Argumentation: ?Rechtspsychologisch betrachtet würde eine gesetzliche Impfpflicht mit einer Bußgeld-Androhung als Sanktionsmöglichkeit schon einen erheblichen Sog zugunsten der Impfung bewirken.?

Aufklärungs- und Kommunikationskampagnen gegen ?Trotzreaktionen?
Doch es ist natürlich nicht damit getan, Gesetze oder Verordnungen nur zu erlassen. ?Eine Impfpflicht muss mit wirksamen Aufklärungs- und Kommunikationskampagnen einhergehen?, gibt Dr. Katrin Schmelz zu bedenken. Sie ist Psychologin und Verhaltensökonomin am Exzellenzcluster ?Die Politik von Ungleichheit? der Universität Konstanz und am Thurgauer Wirtschaftsinstitut im schweizerischen Kreuzlingen. Kampagnen seien besonders wichtig, um Trotzreaktionen nach dem Motto ?Jetzt erst recht nicht? zu vermeiden: beispielsweise auch, um nicht die Teilnahme von Menschen mit Bereitschaft für Booster-Impfungen zu gefährden.

?Ansätze, einem solchen Trotz und Widerstand entgegenzuwirken, sind, die Menschen von der Wirksamkeit der Impfung zu überzeugen und über das Thema Langzeitfolgen aufzuklären, sodass dies alle Bevölkerungsgruppen erreicht?, rät die Expertin. ?Zudem muss ein Verständnis für die Notwendigkeit einer Impfpflicht geschaffen werden, ebenso sollte die moralische Verpflichtung der Menschen, andere zu schützen, betont werden.? Wichtig sei, die Impfpflicht als Freiheitsgewinn zu kommunizieren ? und nicht als Verlust der Entscheidungsfreiheit.

?In der Massenkommunikation sollten nicht nur Regierungskanäle und regierungsnahe Sprecher:innen eingesetzt werden?, ergänzt Betsch. ?Empfehlungen, Informationen und Aufrufe zur Impfung müssen in allen Gesellschaftsschichten ankommen und viele Personen ohne Impfschutz haben wenig Vertrauen in die Regierung.? Gefragt seien neue Kanäle.

Journalisten rät Betsch, sich stärker auf Berichte über Patienten mit COVID-19 ? und auf deren Schicksal ? zu fokussieren, aber weniger auf die sogenannte ?Querdenker?-Szene.

Eine Impfpflicht umsetzen ? wie gelingt das?
Betsch hat sich auch Gedanken zur Implementierung gemacht. ?Eine Impfpflicht muss klug designt werden?, so die Expertin. ?Verpflichtende Regelungen können unterschiedlich ausgestaltet werden.? Es sei z.B. möglich, den Erhalt eines Termins, die Beratung oder die Impfung selbst verpflichtend zu machen.

Terminpflicht: Ungeimpfte erhalten automatisch genaue Anfahrtsbeschreibungen und Termine. Sie müssen diese Vereinbarungen gegebenenfalls selbst ändern. Ziel ist, Personen zu erreichen, die sich nicht impfen, weil das Vereinbaren eines Termins für sie technisch oder organisatorisch mit zu großem Aufwand verbunden ist.

Beratungspflicht: Teilweise lehnen Bürger die Impfung ab, weil sie sich anhand unseriöser Quellen informieren. Bestes Beispiel sind Diskussionen um eine vermeintliche Unfruchtbarkeit durch Impfungen. Geschulte Berater informieren nicht nur evidenzbasiert. Sie wissen auch, wie sich komplexe Sachverhalte laiengerecht transportieren lassen.

Impfpflicht: Dies bedeutet nicht, Menschen werden ? etwa durch physische Gewalt ? zu einer Impfung gezwungen.


Mögliche Sanktionen sind auf allen Ebenen Geldstrafen, Berufsverbote beziehungsweise der Ausschluss von Veranstaltungen und vieles mehr. Nicht zuletzt müsse man Ausnahmen wie medizinische, ethische oder religiöse Gründe definieren, sagt Betsch.

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