Sonntag, 19. Dezember 2021
Das Gegenteil von Qualitätsjournalismus
Beim regionalen Tageszeitungsjournalismus am Ausgeprägtesten, aber auch sonst erlebe ich zu Wirtschaftsthemen ja eine spezifische Ambivalenz, die zwischen Korruption, Klientelismus und Populismus fluktuiert. Die Automobilbranche etwa wird, wenn es nicht gerade um den Abgasskandal geht, weitaus positiver behandelt als andere Branchen, wie etwa Bau oder Finanzen. Die Braunschweiger Zeitung zum Beispiel brachte wochenlang seitenfüllende Beiträge, die nichts Anderes waren als kostenlose PR für VW. Das Thema "Mobbing in der Autostadt", wo es um den Vorwurf ging, dass die Beschäftigungsgesellschaft der Volkswagengruppe gezielt eingestellte bisherige Langzeitarbeitslose wieder hinausmobbt, um neue Leute einzustellen und für diese von der Bundesagentur Vermittlungsprovisionen zu kassieren konnte überhaupt nicht thematisiert werden, auch nicht, als ein Vertrauensmann sich deswegen erschossen hat.

Korruptionsaffären und Wirtschaftsskandale werden vom SPIEGEL oder dem Netzwerk Recherche ans Licht gebracht, aber nicht von der Regionalpresse.

Die Beschwerde von Häuslebauern über Pfusch am Bau eines Baukonzerns wurde von der B.Z. groß herausgebracht, dabei hatte das Unternehmen nicht gepfuscht. Die Bauherren hatten "mit Eigenleistungen" gebaut, d.h. das Unternehmen hatte nur den Rohbau ausgeführt, den Rest hatten Schwarzarbeiter gemacht, und diese hatten Scheiße gebaut. Nun wollten die Bauherren über Anprangerung der Firma in der Presse diese zu Schadenersatz oder Preisnachlass wegen Minderleistungen nötigen. Stellungnahmen der Firma wurden nicht veröffentlicht. Als ich den verantwortlichen Redakteur darauf ansprach sagte dieser, die Zeitung stünde immer auf der Seite der kleinen Bauherren, niemals auf der des Baukonzerns, und nebenbei fragte er mich, ob ich denn Schwarzarbeiter kennen würde, die für ihn etwas machen könnten. Hier konnte also nicht mehr von Bürgernähe gesprochen werden sondern eher von Bürgerkumpanei bis zur Deckung von Straftaten und der Bereitschaft, die selber zu begehen.

Der Baukonzern reagierte dann dergestalt darauf, dass man eine Podiumsdiskussion mit großer Pressepräsenz veranstaltete mit der Bundesagentur für Arbeit, dem Finanzamt, der Steuerfahndung, dem Zoll, der Architektenkammer und der Staatsanwaltschaft zum Thema Schwarzarbeit am Bau und Bauherrenbetrug..

Noch inkompetenter ist die Berichterstattung zu Themen, die etwas mit Versicherungen und Anlagegesellschaften zu tun haben, die generell als undurchsichtig und verbraucherfeindlich, ja tendenziell kriminell dargestellt werden (ich will nicht bestreiten, dass es in diesem Bereich sehr viel kriminelles Handeln gibt, von Cum-Ex-Geschäften bis zu betrügerischem Handeln einzelner Anlageberater, deswegen stimmt der generalisierende Blick auf eine ganze Branche aber nicht).

Zwei Beispiele hierzu: In ZDF Wiso gab es mal ein Feature "Die Tricks der Versicherungen", in dem mit sehr viel dramatisch-moralischem Tremolo behauptet wurde, dass man Investigativrecherchen betrieben und sich mit Brancheninsidern getroffen habe, um die Tricks der Versicherungen offenzulegen, und dann ging es nur darum, dass Versicherungen nicht für Schäden leisten, die nicht im Kleingedruckten aufgelistet sind und dass bei Betriebsunterbrechungsversicherungen im Seuchenfall nur geleistet wird, wenn ein Betrieb wegen enes im Unternehmen festgestellten Ausbruchs geschlossen werden muss, nicht bei einem vom Staat verfügten flächendeckenden Lockdown. Der Beitrag hätte besser ?Die geistige Trägheit der Versicherten? betitelt werden müssen.

Vor geraumer Zeit erschien in der Welt am Sonntag ein mit "Kann das weg?" betitelter Beitrag über benötigte und unnötige Versicherungen und Geldanlagen, der vor Unwissenheit nur so strotzte. Da war dann davon die Rede, dass Unfallversicherungen sich nur für Extremsportler lohnten, da das Risiko sonst durch eine Berufsunfähigkeitsversicherung schon abgedeckt sei.

Kein Wort davon, dass die Berufsgenossenschaften sich so erfolgreich vor dem Leisten drücken, dass ganze Handwerksinnungen schon Verträge mit privaten Unfallversicherungen abschließen, um ihre Klientel absichern zu können.

Kein Wort davon, dass es spezielle Unfallversicherungen für Senioren gibt, die für altersspezifische Verletzungen wie Oberschenkelhalsbruch leiten und Pflegerisiken für Menschen absichern, die keine private Pflegeversicherung bezahlen können oder dass ausschließlich solche Versicherungen den behindertengerechten Umbau von Fahrzeug und Wohnung oder das Rückholen aus dem Ausland in der fliegenden Intensivstation bezahlen.

Vom Unterschied zwischen ETFs und abgesicherten Fondsanlagen war der Autorin auch nichts bekannt, und sie wollte darauf angesprochen davon auch nichts wissen. Wenn eine Reportage einmal veröffentlicht ist interessiert das Thema die verantwortliche Person nicht mehr, Job is done. Die Reportage als abgeliefertes Werkstück, nicht als Teil eines fortlaufenden Diskurses.

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