Sonntag, 15. Dezember 2019
Der Transformationsprozess der Sozialdemokratie und der Neoliberalismus
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https://bersarin.wordpress.com/2019/12/03/philipp-ruch-das-zentrum-fuer-politische-schoenheit-und-unruhige-ruhe-der-toten/#comments


möchte ich einige grundsätzliche Dinge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der BRD ausführen ohne die meines Erachtens Dinge wie die Eskenborjanisierung gar nicht verständlich wären. Und dabei muss man zurück bis in die Siebziger Jahre.

Der keynesianische Wohlfahrtsstaat des sozialdemokratischen Jahrzehnts basierte auf einem Modell das von permanent steigendem Wohlstand ausging. Diese Entwicklung sollte auch in Rezessionsphasen fortsetzbar sein. Nicht die Exportrate einer Volkswirtschaft stand im Mittelpunkt der makroökonomischen Konzeption, sondern Prosperität durch Erhöhung der Binnennachfrage. Hierbei kam regelmäßigen Lohnerhöhungen und einer Erhöhung sozialer Leistungen eine Schlüsselrolle zu. Das ganze Modell war auf fortlaufender Staatsverschuldung zur Finanzierung der staatlichen Wohltaten aufgebaut („defizit spending“) und vollzog sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, starker Gewerkschaften, großer Streiks und starker Neuer Sozialer Bewegungen, d.h. Der Kapitalismus musste sich selber attraktiv machen und durch seine Attraktivität legitimieren da linke Systemalternativen im öffentlichen Bewusstsein als möglich erschienen.

Wie immer ist der Ami schuld

Das ganze System geriet in die Krise durch die Kosten des Vietnamkriegs die sich nicht mehr kontrollieren ließen und im Zusammenhang mit der Tatsache dass die Niederlage der USA abzusehen war was zu einer Talfahrt des Dollars führte. Da im damaligen Weltwährungssystem von Bretton Woods alle Währungen fixe Wechselkurse hatten mit dem Dollar als Leitwährung bedeutete die Dollarkrise eine Krise der westlichen Währungen insgesamt. Hieraus leiteten vor allem Ökonomen der Chikagoer School of Economy um Milton Friedman ihre monetaristische Theorie ab: Wesentliches Ziel einer Volkswirtschaft sollte die Stabilität der Währung sein. Als Voraussetzungen dafür wurden anvisiert

1) Freie Volatilität der Währungen, Aufgabe des Bretton-Woods-Systems.
2) Möglichst hohe Verfügbarkeit von Arbeitskräften für Unternehmen, d.h. Senkung der Leistungen für Arbeitslose, Erhöhung der unmittelbaren Ausbeutung
3) Inwertsetzung bisher unproduktiver Bereiche durch Privatisierung staatlicher Versorgungsgesellschaften wie Post, Bahn, Energieversorger

Dieses neoliberale ökonomische Konzept bezeichnete man als Angebotsökonomie im Gegensatz zum nachfrageorientierten sozialdemokratischen Modell. Auf seiner Grundlage fanden die Klassenkämpfe von oben unter Tchatcher, Reagan, südamerikanischen Militärdiktaturen, besonders Pinochet-Chile sowie der Türkei unter den Generälen statt.

Verschärft wurde die Krise durch die Ölkrise von 1973 nach dem Yom-Kippur-Krieg mit den seither fortlaufendren Ölpreiserhöhungen und, was Deutschland angeht, die zeitgleiche VW-Werkskrise. In der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre sprach man von Stagflation, der Gleichzeitigkeit von Stagnation und Inflation. Der keynesianische Wohlfahrtsstaat erschien durch defizit spending nicht mehr finanzierbar. Die Bonner Wende vollzog sich 1982 und 1983 vordergründig vor dem Hintergrund der Flick-Parteispendenaffäre, letztlich aber mit dem Ziel eine Thatcherisch-Reaganistische Austeritätspolitik auch in der BRD durchzusetzen.

Die Mentalität des Sozialstaats


Das ging allerdings nicht so ohne weiteres. Trotz der etatistischen, politisch braven Mentalität der Deutschen und der ausgeprägten Pflege von Sekundärtugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Disziplin hatte sich doch unter dem Wohlfahrtsstaat auch ein ausgeprägtes Anspruchsdenken entwickelt. Als Jugendlicher war ich noch damit aufgewachsen dass man sich alle Vorteile nehmen sollte die der Staat oder die Kassen einem zu bieten hatten, etwa alle drei Jahre eine dreiwöchige Kur unabhängig davon ob diese medizinisch nötig sei oder nicht, ein Techtel beim Sanatoriumsaufenthalt, „Kurschatten“ genannt inklusive.

Der Widerstand

Die Bonner Wende fand zu einem Zeitpunkt statt zu dem linke und Neue Soziale Bewegungen in Westdeutschland und Westberlin sich auf ihren absoluten Höhepunkt zubewegten – Häuserkämpfe mit bis über 300 besetzten Häusern in einer Stadt, Anti-AKW-Bewegung, Friedens- und Antikriegsbewegung – gleichzeitig begannen die Gewerkschaften einen Streik zur Erreichung der 35-Stunden-Woche. In der Opposition stand die SPD an deren Seite, die damals noch systemoppositionellen Grünen zogen in den Bundestag ein.

Unter diesen Voraussetzungen war für die schwarzgelbe Regierung an die Umsetzung einer neoliberalen Agenda nicht zu denken. Stattdessen wurde ein Kampf um die Köpfe und Herzen geführt, der Versuch, die Mentalität der Menschen zu ändern („Geistig-moralische-Wende“), ihnen das Anspruchsdenken auszutreiben und stattdessen zu mehr Fleiß und Leistungsbereitschaft zu motivieren („Leistung muss sich wieder lohnen“). In dieser Zeit entstanden solche Lieder

https://www.youtube.com/watch?v=RUdyqJuJOAs


Nachdem also die durchschlagende neoliberale Deregulierungsoffensive ausblieb beschränkte sich die Regierung Kohl zunächst auf die Privatisierung bisher staatlicher Dienstleister: Post, die von dieser abgetrennte Telekom, Bahn und die heute kaum noch bekannte Energieversorgungsgesellschaft VEBA.


Aufbruch im Osten


Nach der deutschen Vereinigung wurden durch die Treuhand, die eigentlich wie der Name sagt die volkseigenen Betriebe treuhänderisch sanieren sollte diese mehrheitlich zerschlagen und oftmals auf ganz brutale neoliberale Art Unternehmen kalhschlagsaniert. Der Westen blieb von so etwas zunächst verschont. Dies änderte sich als im Zusammenhang mit den Hartz-Gesetzen ein Billiglohnsektor etabliert wurde, der dazu betrug dass die BRD-Ökonomie nach Prinzipien der Angebotsökonomie funktioniert ohne dass die hohen Löhne der Zentraltarifgruppen angetastet wurden- Spaltungen in der Welt der Arbeit, die nur unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung möglich waren. Es stellt sich die Frage, ob der Führungswechsel an der Spitze der Partei eine Rückbesinnung zu früheren Werten darstellt oder dies gerade nicht beinhaltet.

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Samstag, 14. Dezember 2019
Kennt jemand noch Windows 3.5 ?
Als ich diese Versionsgeschichte in der Wikipedia las war ich doch etwas erstaunt:

https://de.wikipedia.org/wiki/Microsoft_Windows_95

Bevor Windows 95 herauskam hatte Microsoft Windows 3. 5 als Nachfolgeversion für Windows 3. 11 gelauncht. Dieses Windows war dadurch problematisch weil der Internet Explorer als einzig verwendbarer Browser ein Teil der Benutzeroberfläche war, künftige Windows-User also Netscape Navigator, Aol oder T-online nicht benutzen konnten. Klagen mit Milliardenstreitwert führten dazu, dass Windows das Betriebssystem vom Markt nehmen und jeglichen Support stoppen musste, um dann stattdessen Windows 95 herauszubringen. Hiervon ist in der Wikipedia nichts zu lesen. Fast hat man den Eindruck, bei dem Wikipedia-Artikel hätten Microsoft-Influenzer mitgeschrieben.

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Dienstag, 10. Dezember 2019
Zum Tag der Menschenrechte
Das ist der Tag zu dem Pol Pot sagte zu diesem Datum fiele ihm nichts ein. Der Präsident Kolumbiens, Ivan Duque, ließ mitteilen, das Produkt Menschenrechte sei zwischenzeitig ausgegangen, man könne aber erstklassiges Kokain zum besonders günstigen Diplomatenrabatt anbieten.

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Samstag, 7. Dezember 2019
Generalstreik in Frankreich
Was kommt von der deutschen Linken?
Nullkommanix.

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Montag, 2. Dezember 2019
Wohnungsnot: USA sind "Höllenvorbild"
https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-11/jutta-allmendinger-soziologin-wohnungsnot-verunsicherung-sozialpolitik?utm_source=pocket-newtab

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Mittwoch, 27. November 2019
Menschenrechte im Iran: Verfolgung jenseits der Gesetze
http://alischirasi.blogsport.de/2019/06/17/iran-verfolgung-jenseits-der-gesetze/

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Montag, 25. November 2019
Wider die Behinderung antifaschistischen Engagements: Das bundesweite Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ protestiert gegen den Entzug der Gemeinnützigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten
Am 4. November 2019 hat das Finanzamt für Körperschaften I des Landes Berlin dem Bundesverband der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) den Status der Gemeinnützigkeit entzogen. Das bundesweite Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ ist erschüttert über diese Entscheidung. Die VVN-BdA ist Trägerverein und eine tragende Säule von „Aufstehen gegen Rassismus“. Der Entzug der Gemeinnützigkeit bedroht die VVN-BdA in ihrer Existenz und damit auch die finanzielle und organisatorische Grundlage von „Aufstehen gegen Rassismus“. Denn verbunden damit sind Steuernachforderungen in fünfstelliger Höhe, die noch in diesem Jahr fällig werden. Weitere Nachforderungen sind zu erwarten und auch zukünftig drohen wesentlich höhere steuerliche Belastungen sowie die in Zukunft fehlende Absetzbarkeit finanzieller Zuwendungen und Spenden an „Aufstehen gegen Rassismus“. „Aufstehen gegen Rassismus“ organisiert und mobilisiert seit seiner Gründung im Frühjahr 2016 politische und gesellschaftliche Spektren übergreifende Proteste gegen Rassismus und profaschistische Kräfte, insbesondere gegen die AfD. Das Bündnis erstellt und verschickt bundesweit Material an Aktive und Interessierte in ganz Deutschland. Das Bündnis leistet zudem antirassistische Bildungsarbeit: Bundesweit wurden über 13.000 „Stammtischkämpfer*innen“ dazu befähigt, rechten Parolen im Alltag entgegenzutreten. „All diese Arbeit wird zu 99 % Prozent ehrenamtlich und von Menschen getragen, die angesichts der Ausbreitung rassistischer Hetze und rechten Terrors aktiv werden und die roten Linien im demokratischen Diskurs neu ziehen wollen: Es gilt, Nazis als solche zu benennen und sich für die Würde aller Menschen wie für die Demokratie einzusetzen“, sagt Uwe Hiksch, Mitglied im Bundesvorstand der NaturFreunde Deutschlands. Hiksch weiter: „Antifaschismus muss organisiert werden. Dazu bedarf es auch finanzieller Mittel, zum Beispiel zur Erstellung und Verschickung von Informationsmaterialien sowie zur Koordinierung durch einige wenige hauptamtliche Kräfte. Es ist angesichts eines gesellschaftlichen Klimas, das auch in diesem Jahr extrem rechte Täterinnen und Täter zu Gewalttaten bis hin zu Morden ermutigt hat, absolut unverständlich, dass das Berliner Finanzamt antifaschistischem Engagement die finanzielle Basis zu entziehen versucht und die Existenz der VVN-BdA und damit auch von ‚Aufstehen gegen Rassismus’ bedroht.“ Neben bundesweiten Organisationen wie Attac, den NaturFreunden Deutschlands und dem Zentralrat der Muslime haben seit 2016 über 30.000 Menschen den Aufruf des Bündnisses unterzeichnet, darunter zahlreiche prominente Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Bewegung, aus den Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE sowie aus Gewerkschaften wie dem DGB, der IG Metall und ver.di. Der permanente Arbeitsausschuss des Bündnisses, in dem neben der VVN/BdA Attac, die NaturFreunde Deutschlands, Jusos und Die LINKE vertreten sind, protestiert aufs Schärfste gegen die Entscheidung des Finanzamts für Körperschaften I des Landes Berlin – Antifaschismus und Antirassismus sind gemeinnützig und benötigen jede Unterstützung.

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Freitag, 22. November 2019
Griechenland plant Haftlager für Flüchtlinge
"Griechenland will die Elendslager auf den griechischen Inseln in Haftlager umwandeln. Von dort aus soll abgeschoben werden. Wenige Tage zuvor berichten deutsche Medien über Seehofers Eckpunktepapier zu einer Reform genannten Änderung des Europäischen Asylsystems."

https://www.proasyl.de/news/haftlager-bmi-plant-griechenland-handelt/

PRO ASYL-News zur Balkanroute: https://www.proasyl.de/news/elend-tote-misshandlungen-ein-dauerzustand-mitten-in-europa/

"Die Balkanroute hat sich verlagert. Menschen campieren an der serbisch-ungarischen Grenze oder im bosnischen Bihac. Und die Lager in Griechenland sind auch nach vier Jahren noch elende Provisorien. Wieder droht ein Winter, in dem Menschen deshalb sterben werden. Man muss davon ausgehen, dass diese Zustände gewollt sind und Methode haben."

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Donnerstag, 21. November 2019
Auf die harte Tour: »Freiwillig« ist nicht gleich »Freiwillig«
Nach seiner »freiwilligen Rückkehr« wird ein Iraker erschossen. Die Todesgefahr hatte Finnland im Asylverfahren nicht erkannt. Damit stand der Mann vor der Wahl: Entweder er geht, oder er wird abgeschoben. Deswegen sei die Rückkehr nicht freiwillig und Finnland verantwortlich, urteilte der EGMR. Auf diese Art der Rückkehr setzt auch Deutschland.

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geklagt hatte die Tochter. Der Asylantrag ihres Vaters, ein sunnitischer Iraker, war trotz Berichten von religiösem Konflikt am Arbeitsplatz, zwei Anschlägen auf sein Leben und der versuchten Entführung der Tochter selbst abgelehnt worden. Die Ereignisse wurden zwar nicht bestritten, jedoch wurde der Konflikt als privater Streit und der Rest als Resultat der Sicherheitslage im Irak bewertet. Auch die finnische Berufungsinstanz bestätigte die Ablehnung. Ein folgenschwerer Fehler.

Statt auf seine Abschiebung zu warten, unterschrieb der Vater eine »Freiwilligkeitserklärung« und verließ mit Unterstützung der IOM Finnland Ende November 2017. Einen Monat später war er tot. Erschossen, drei Schüssen auf offener Straße.

Die finnische Regierung bestritt überhaupt zur Verantwortung gezogen werden zu können – schließlich hätte er einen Haftungsausschluss im Rahmen der »freiwilligen Rückkehr« unterschrieben. Ein Staat kann nur für Menschenrechtsverletzung verantwortlich sein, so Finnland, wenn die Abschiebung von ihm vollzogen worden wäre.
Wer trägt die Verantwortung?

Der EGMR ließ dieses Argument nicht gelten. In dem Fall sei klar, dass der Vater Finnland nicht verlassen hätte, wäre er nicht ausreisepflichtig gewesen. Damit war seine Entscheidung nicht »freiwillig«, nicht seinem freien Willen entsprungen. Es war lediglich eine Wahl zwischen einer Abschiebung und einer von IOM organisierten Rückkehr. Angesichts dieser Tatsache, spielt auch der unterschriebene Haftungsausschluss keine Rolle.

In einer Gesamtschau hätten die finnischen Behörden die Lebensgefahr des Vaters bei Rückkehr erkennen müssen

Auf die Frage, ob Finnland Verantwortung für den Tod des Vaters hat, antwortete Straßburg mit einem klaren »Ja«. Zusammengefasst stellten die Richter*innen fest, dass die finnischen Behörden die vorgebrachten Ereignisse nicht angemessen beurteilt und die verschiedenen Risikofaktoren nicht gemeinsam betrachtet hätten. In einer Gesamtschau hätten die finnischen Behörden die Lebensgefahr des Vaters bei Rückkehr erkennen müssen. Dass sie dies nicht getan haben, verletzte ihre Pflichten nach Art. 2 »Recht auf Leben« und Art. 3 »Verbot der Folter und unmenschlichen Behandlung« der Europäischen Menschenrechtskonvention.
»Freiwillig« ist höchstens die Wahl des Mittels

Damit wird einmal mehr deutlich, dass der Staat die Qualität der Asylverfahren sicherstellen muss. Die Bewertung wird auch nicht dadurch geändert, wenn der/die Betroffene »freiwillig« ausreist. Eine Teilnahme an einem solchen Programm ist eben nicht mehr freiwillig, wenn gleichzeitig schon eine Abschiebung im Raum steht. Dafür ist es auch egal, wenn die Person im Rahmen des Programms unterschrieben hat, dass keine an seiner »Rückkehr beteiligten Agenturen oder Regierung« zur Verantwortung gezogen werden könnte.
Freiwillige Rückkehr: Instrument der Abschottung?

Sei es aus libyschen Gefangenenlagern, aus dem Elend in Moria oder auf der Balkanroute – überall wo das Elend groß genug und die Perspektiven möglichst offensichtlich versperrt sind, sind die Zahlen der »freiwilligen« Rückkehr hoch.

Auch Deutschland setzt auf Zuckerbrot und Peitsche. Teil der »nationale(n) Kraftanstrengung zur Rückführung« die Merkel im Oktober 2016 ausgerufen hat, ist der Fokus auf höhere Abschiebezahlen. Wie bereits aus der berüchtigten 2015 McKinsey Studie »Rückkehr-Prozesse und Optimierungspotenziale« hervorgeht, soll insbesondere die »freiwillige« Rückkehr ausgebaut werden – aus Kostengründen (S.37). Auch die McKinsey-Berater*innen halten zudem fest, dass freiwillige Rückkehr erst dann eine Option sei, wenn bei Verweigerung mit konsequenten Rückführungen zu rechnen ist (S.48).

Die Förderung der »freiwilligen« Rückkehr baut die Bundesregierung konsequent aus. Ein Beispiel ist etwa das Programm »Starthilfe Plus« und die zusätzliche Aktion »Dein Land. Deine Zukunft. Jetzt«. Letzteres ist kein Aufruf zur Integration in Deutschland, sondern ein zusätzlicher finanzieller Anreizmoment für die baldige Ausreise ins Herkunftsland.
Deutschland wirbt mit finanziellem Anreizsystem für Ausreise

Möglichst früh sollen Anreize zur Rückkehr gesetzt werden, dafür sieht »Starthilfe Plus« ein Stufensystem vor. 1.200€ Höchstförderung erhält, wer noch vor Abschluss des Asylverfahrens ausreist. Wer innerhalb der Ausreisefrist ausreist oder auf ein Rechtsmittel verzichtet, erhält lediglich 800€. Bonus gibt es, wenn mehr als 4‑Familienmitglieder gemeinsam ausreisen. Bis zum 28. Dezember 2018 wurden 5.115 Anträge auf Förderung mit »Starthilfe Plus« bewilligt. Dabei wurde in 701 Fällen die Förderung während eines laufenden Asylverfahrens oder vor der Stellung eines Asylantrags gewährt.

Es ist fragwürdig, ob eine suggerierte Freiwilligkeit unter starker psychologischer Belastung überhaupt gegeben sein kann.

Hinzu kommt die nun konsolidierte Praxis, Asylsuchende bei Asylantragsstellung mit der Möglichkeit der Rückkehr zu konfrontieren und sie über das Anreizsystem aufzuklären. Unmittelbar nach der Flucht und beim ersten Behördenkontakt durch die Behörde, die das Asylverfahren führt, auf die Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr hingewiesen zu werden, grenzt an Zynismus. Es lässt die besondere Situation Schutzsuchender vollkommen außer Acht, erhöht den psychologischen Druck und steht dem »Ankommen« im Wege. Es ist fragwürdig, ob eine suggerierte Freiwilligkeit unter starker psychologischer Belastung – wie sie nach Flucht und bei Antragsstellung meist der Fall ist – überhaupt gegeben sein kann.

Mit dem Programm wird auch die Ausreise in Konfliktländer wie Syrien finanziert. IOM hält dagegen die Sicherheitslage für zu gefährlich, um Ausreisen nach Syrien zu unterstützen. Besonders hier ist eine sensible Beratung elementar. Kritisch zu betrachten ist dabei, dass häufig staatliche Stellen über Rückkehrmöglichkeiten aufklären. Fragwürdig ist, ob die notwendige Neutralität an den Tag gelegt wird und eine individuelle, einzelfallbezogene Perspektivberatung stattfindet. Zudem herrscht die Tendenz, Rückkehrberatung auszukoppeln, wodurch eine Abklärung möglicher Bleibeperspektiven – die häufig die Entscheidung beeinträchtigt – ausbleibt.

Wie es Rückgekehrten im Herkunftsland ergeht ist oft unklar, ein Monitoring gibt es nicht. Besonders bei der finanzierten Rückkehr in kriegerische Kontexte nach Afghanistan oder Syrien schlagen unabhängige Länderexpert*innen jedoch immer wieder Alarm.

90% der befragten Rückkehrer leben in Verstecken. Rückkehrhilfe oder das Label »freiwillig zurückgekehrt« schützt davor nicht.

Friederike Stahlmann hat jüngst eine Studie zu abgeschobenen Afghanen veröffentlicht. 90% der Befragten haben in kürzester Zeit nach der Ankunft Gewalterfahrung gemacht. 50% berichten über Gewalterfahrung, die auch sonst den afghanischen Alltag prägen: manche wurden Opfer von Anschlägen, andere berichteten über Festnahmen, Bedrohungen, Versuchen der Zwangsrekrutierung und Misshandlungen durch die Taliban, wieder andere wurden Opfer bewaffneter Raubüberfälle. Ebenfalls die Hälfte der Befragten berichten über Gewalterfahrung aufgrund ihres Aufenthalts in Europa. 90% der befragten Betroffenen leben in Verstecken. Rückkehrhilfe oder das Label »freiwillig zurückgekehrt« schützt davor nicht. Im Gegenteil, das Wissen über Unterstützungsgelder kann Neider oder ehemalige Schuldner auf den Plan rufen.
»Freiwilligkeit« darf nicht durch Druck und Perspektivlosigkeit erzeugt werden!

Bei dem Angebot der »freiwilligen Rückkehr« schon früh im Verfahren besteht immer die Gefahr, Menschen, die ein begründetes Fluchtanliegen haben und vor Verfolgung im Heimatland geflohen sind, voreilig in dieses zurück zu drängen. Das »Straßburger« Urteil macht klar, dass Staaten auch bei diesem Instrument ihre Schutzverantwortung nicht vernachlässigen dürfen.

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Mittwoch, 20. November 2019
Gedanken zur Zukunft des Journalismus
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