Dienstag, 20. Juli 2010
Der linke Kollektivcharakter
Dankenswerter Weise hatte Momorulez ja schon ganz explizit darauf hingewiesen: In liberalen Blogs werden des Öfteren Linke charakterisiert in der Weise, dass Linken an und für sich, pauschalisierend, eine bestimmte Mentalität unterstellt wird. Umgekehrt machen Linke das mit (Neo)Liberalen auch öfter, letztere sind dann egoistisch, gefühlsunterkühlt, primär in Zahlen denkend usw, während Linken angehängt wird, sie seien autoritätsfixiert, überdurchschnittlich stark auf materielle Sicherheit orientiert, hätten eine Abneigung gegen allzuviel individuelle Freiheit oder stark ausgeprägten Individualismus an sich usw. Abgesehen davon, dass es totaler Quatsch ist, politische Ansichten, Überzeugungen und Grundeinstellungen mit persönlichen Charaktereigenschaften gleichzusetzen verdutzen da auch die Inhalte, die auf ein Klischee hinauslaufen, das etwa mit dem, was ich selbst so in der Linken an verbreiteten Einstellungen erlebt, kennengelernt und getroffen habe freilich nichts zu tun hat. So habe ich viele Autonome oder sonstige identitär Radikallinke kennengelernt, die früher oder später anfingen, in der Computerbranche, in Werbeagenturen, bei Messebauern und Eventausrichtern oder in der Grauzone zwischen Journalismus und PR zu arbeiten. Für ein solches Leben eignen sich Leute mit Szenehintergrund offenbar sehr gut. Nicht nur aufgrund der Gewohnheit, quer zu denken und ungewöhnliche Lösungen zu bevorzugen, sondern noch aus einem ganz anderen Grund, der zu den offenkundigen politischen Standpunkten in einem großen Gegensatz steht: Bewegungslinke sind im Allgemeinen ein hohes Maß an Selbstausbeutung gewohnt. Wer aus reinem Idealismus, ohne materiellen Anreiz und sogar auf die Gefahr hin, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten gewohnheits- und regelmäßig sich stark in allen möglichen Projekten engagiert, der eignet sich relativ gut für den Arbeitsalltag in der IT- und "Kreativbranche", wo nicht nach bezahlten Überstunden gefragt wird, ja, Arbeitszeiten oft gar nicht erst erfasst werden und es vor einem Launchday selbstverständlich ist, auch mal eine Nacht durchzuarbeiten oder sich ein Wochenende in der Firma einzuschließen, um ein Projekt jetzt durchzuziehen. Ich kenne eine ganze Reihe Kreative mit Linke-Szene-Biografie, die im beruflichen Alltag eine solche Projektmentalität an den Tag legen und Selbstausbeutung betreiben; die Um-5-Uhr-fällt-der-Hammer-und-ich-bin-weg-Einstellung, die BASF-VW-IGM-ver.di-Mentalität hingegen ist ganz sicher typisch für viele normale Malocher, ob klassenbewusst oder nicht, die gerade auch in der Großindustrie in letzter Zeit allerdings mehr und mehr durch arbeitswütige pausendurchmachende Selbstoptimierer verdrängt werden, aber im Sinne einer verbreiteten Mentalität sicher nicht "typisch links" - wobei sich umgekehrt die Frage stellt, wie sich dann antikapitalistische Gesinnung und Selbstausbeutung für ein Unternehmen unter einen Hut bringen lassen. Risikobereitschaft schließlich ist bei solchen Leuten häufig überdurchschnittlich stark ausgeprägt.

Nun ja, das Projizieren eines bestimmten Menschenbildes auf politische Großgruppen war früher noch weit verheerender ausgeprägt, Parolen wie "Wir sind die Terrorungeheuer, für Terror ist uns nichts zu teuer" oder "Wir sind die wilden Horden, wir plündern und wir morden, wir essen sowieso kleine Kinder roh, wir waschen uns nie, hoch die Anarchie" waren ja in ihrem Ursprung nicht einfach lustig und albern, sondern spielten mit Klischees, die Bürgers tatsächlich über unsereins im Kopf hatten. Als 1968 Rudi Dutschke angeschossen wurde und blutend auf der Straße liegend "Mama! Papa!" brüllte, kommentierte das ein Passant mit "Schau an, wenn´s ans Sterben geht denkt selbst der an die Eltern!". In den mir bekannten Blogwelten - so was wie PI lese ich nicht - werden immerhin nur Klischees gedroschen. Die nicht zuletzt dank Springer früher einmal verbreitete antilinke Hetze diente hingegen der völligen Entmenschlichung des politischen Gegners.


Ergänzung 01.08.


Was ich aus der links-alternativen Szene der 80er und 90er sehr stark kannte war auch so eine Workshopmentalität, die Do-it-yourself geradezu zur moralischen Forderung erhob. Ich wurde öfter für meine handwerkliche Ungeschicklichkeit kritisiert und mir gesagt, dass in der befreiten Gesellschaft jeder Universalist sein müsse und dass das keine Dienstleistungsgesellschaft, sondern eine nur wenig arbeitsteilige Gesellschaft sein würde. In der Fabrik arbeiteten diejenigen von uns, die studierten nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern auch, um die Lebenswirklichkeit der Malocher kennenzulernen. Ich kann mich auch noch an Frauendebatten erinnern, aber dazu kann Netbitch mehr sagen, bei denen den akademischeren Ladies gesagt wurde, einen Autoreifen oder eine Lichtmaschine wechseln und das Fahrrad jedenfalls komplett reparieren zu können gehöre auch zum feministischen Anspruch. Als Mann nicht kochen zu können galt ebenfalls als unmöglich.

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Zum Thema Linkenbild der Liberalen
Ich habe mir darüber auch schon Gedanken gemacht, weil ich mit solchen Klischees ebenfalls schon konfrontiert wurde und sie meinen Erfahrungen mit Linken auch diametral widersprechen.
Ich erkläre mir das in erster Linie damit, dass Menschen natürlich generell dazu neigen, die Welt durch die Linse seiner eigenen Überzeugungen zu sehen. Die Damen und Herren Liberale machen sich dann aus den Linken einfach den Gegner, den sie am besten gebrauchen können und schreiben ihnen daher Eigenschaften zu, die im Gegensatz zu denen stehen, die sie sich selbst zuschreiben. Die anfallenden Konflikte mit der Realität werden dann eben durch selektive Wahrnehmung bereinigt oder die Abweichler zu Ausnahmen erklärt. Machen "wir" sicher auch nicht viel anders.
In Folge dessen, denke ich, differenziert man grundsätzlich weniger bei seinen Gegnern. Für einen Liberalen sind die Unterschiede zwischen einen Staatssozialisten und Anarchisten weitgehend egal (wie auch die wenigsten Linken zwischen einen Rechtsliberalen und einen klassischen Konservativen unterscheiden würden), denn beide haben eine ähnliche (ablehnende) Beziehung zu den von ihnen selbst vertretenen Idealen. Darum neigen sie eben dazu, Stereotypen und tatsächliche Eigenschaften absichtlich und unabsichtlich durcheinanderzubringen . Da groß zu unterscheiden würde das ganze auch unnötig erschweren.

Natürlich hängt da teilweise auch bewusstes politisches Kalkül mit drin, aber ich denke, nicht ausschließlich und nicht in erster Linie.

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erinnert mich daran, dass mensch zuweilen an der Uni von RCDSlerInnen oder LHGlerInnen Bemerkungen hörte, wie "Ihr seid ja gar nicht so (schlimm), wie wir immer dachten" ... bezog sich in aller Regel auf Umgangsformen

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Ich erinnere mich daran, dass die Konservativen uns in der Regel kein tiefes und differenziertes Gefühlsleben in Liebesdingen zutrauten und uns eher für rammelnde Viecher hielten - ausgerechnet die Linken mit ihrer hochkomplizierten Sexualmoral.

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"erinnert mich daran, dass mensch zuweilen an der Uni von RCDSlerInnen oder LHGlerInnen Bemerkungen hörte, wie "Ihr seid ja gar nicht so (schlimm), wie wir immer dachten" ... bezog sich in aller Regel auf Umgangsformen"

Wenn man sich erst mal kennt, mag man sich vielleicht auf einmal. Und das könnte das eigene Weltbild durcheinanderbringen. Und das ist schliesslich zu vermeiden.
Das zählt wahrscheinlich für alle Seiten.

Was das Rumrammeln angeht: die Perlhühner von Parnassia sind mit so ziemlich allem ausser der Titanic runtergegangen.
Was die Umgangsformen angeht: eine Genossin sagte stets "Gute Manieren stehen der Revolution nicht im Wege".

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Who the fuck are the Perlhühner von Parnassia?

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Perlhühner sind Studentinnen mit Barbour-Jacke und Perlenkette bzw. -Ohrringen (der Ausdruck stammt leider nicht von mir).

Und die versammelten sich in grosser Anzahl in der ADV Parnassia (http://www.parnassia.de/)
Boshaft hiessen die auch "Verbindungsmatraze", gepflegter boshaft "akademischer Heiratsmarkt".

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Es war mal wieder vor Deiner Zeit
aber in der autonomen Szene waren mal eine Weile rüpelige und möglichst prollige Umgangsformen schwer angesagt, so nach dem role model "Rockergang". Das war beileibe früher nicht die hochmoralische Veranstaltung, die Du so kennenlerntest. Die Barbour-Jacke hat auch eine interessante Karriere hinter sich - vom Demo- und Biker-Bekleidungsstück zum In-Ausweis von zumeist Jura studierenden VerbinderInnen.

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"Nicht nur aufgrund der Gewohnheit, quer zu denken und ungewöhnliche Lösungen zu bevorzugen, sondern noch aus einem ganz anderen Grund, der zu den offenkundigen politischen Standpunkten in einem großen Gegensatz steht: Bewegungslinke sind im Allgemeinen ein hohes Maß an Selbstausbeutung gewohnt. Wer aus reinem Idealismus, ohne materiellen Anreiz und sogar auf die Gefahr hin, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten gewohnheits- und regelmäßig sich stark in allen möglichen Projekten engagiert, der eignet sich relativ gut für den Arbeitsalltag in der IT- und "Kreativbranche", wo nicht nach bezahlten Überstunden gefragt wird, ja, Arbeitszeiten oft gar nicht erst erfasst werden und es vor einem Launchday selbstverständlich ist, auch mal eine Nacht durchzuarbeiten oder sich ein Wochenende in der Firma einzuschließen, um ein Projekt jetzt durchzuziehen."

Das möchte ich mal kurz bestätigen.

Man muss schon über einen etwas eigenartigen (nicht im negativen Sinne unbedingt) Mindset verfügen, um ein paar Jahre im oberen Drehzahlbereich zu laufen. Denn neben dem Polit-Alltag verlangt ja auch die WG oder der sonstige Zusammenhang Zeit (und gelegentlich Nerven), auch das liebe Geld will verdient werden.
Menschen mit diesen Fähigkeiten im Bereich Selbst- und Zeitmanagement sind eine ernsthaft gefragte Ressource im IT-, Kreativ-, PR- usw.-Bereich.
Wenn man dazu noch mit Texten umgehen kann steht der Anstellung mit 18-Stunden-Arbeitstag nix mehr im Weg.

Die Grenzen zwischen Arbeit und Hobby werden nicht mehr scharf definiert. Marx wäre einerseits am Jubeln, da das mit der Entfremdung weitgehend überwunden ist, auf der anderen Seite schmeisst er seine gesammelten Werke, da Arbeitstage von 18 Stunden Ausbeutung pur sind.

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Der Salonmarxologe erklärt
Der in der Theorie fortgeschrittene Marx konnte aus guten Gründen den Begriff der "Entfremdung" nicht leiden. Er verwendet ihn seltenst, und dann in ironisierenden Anführungszeichen.
Dass es bei Marx eine "Entfremdungstheorie" gäbe, haben ihm bloß die Ev. Akademien angehängt.

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Ich versteh den Nörgler mal wieder nicht, was nichts macht, da das Wetter eh zu schön ist, um sich annörgeln zu lassen.

Denn, da mag er maulen oder nicht, das Maloche dem Lebensunterhalt dient und ein notwendiges Übel ist, weiss jeder, der schon mal irgendeinen Mist gemacht hat, weil's Geld bringt. Ich habe haufenweise Papier nach Postleitzahlen sortiert, und das stundenlang. Das habe ich nicht gemacht, weil Graf Zahl mein Lieblingssesamstrassenmonster ist, sondern weil es 12,50 DM pro Stunde brachte.

Jede andere Motivation ist das Ergebnis einer puritanisch-protestantischen Ethik, die mich als Katholikin immer dazu bringt, mich nach dem Messwein umzuschauen, wohl wissend, dass ich das Zeug nicht vertrage, aber besser später Kopfweh als jetzt.
Und selbst bei Calvin ist die Arbeit nicht Selbstzweck.

Aber Arbeitgeber in bestimmten Bereichen (akademisch, IT, Werbung etc) freuen sich natürlich üner Mitarbeiter, die den feierabend vergessen, weil sie so viel Spass an der Arbeit haben.
Und während ich mir das in besagten Bereichen alles noch vorstellen kann, versagt meine Phantasie, wenn jemand rumschwafelt, dass der Papiersortierer mit der gleichen Haltung an seinen Job drangehen sollte und msste, denn sonst mangelt es ihm einfach an Arbeitswillen, Motoivation etc und er sei einfach faul, ein Urteil, was ihn schon fast zum Freiwild für alle möglichen "Eingliederungsmassnahmen" macht.

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Nein, du verstehst den Nörgler nicht
wenn er hier gar nicht mault, sondern auf ein vielgemachtes Marxunverständnis hinweist, das ganz unabhängig von Deiner Person und dem, was diese sagt in den 70er Jahren weiteste Verbreitung erlangte und eine ganze Generation von Geschichtslehrern prägte. Der Hinweis, auch wenn er in punkto Cassandra nicht zielführend ist entspricht aber somit dem Bildungsauftrag dieses Blogs.

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Genau so hatte ich es gemeint.
Danke, Che, für die Erläuterung.

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