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Dienstag, 4. Oktober 2022
New Level
che2001, 01:21h
Wieder einmal hart trainiert, diesmal etwas schneller als sonst. Es war eine liebe Gefährtin aus alten Zeiten dabei, die ziemlich begeistert war.
Und es will sich partout kein Muskelkater einstellen; entweder bin ich dafür zu trainiert, oder das anschließende Yoga entspannt zu gut.
Und es will sich partout kein Muskelkater einstellen; entweder bin ich dafür zu trainiert, oder das anschließende Yoga entspannt zu gut.
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Zur heutigen Einheitsfeier, woken Phrasen und überhaupt
che2001, 01:15h
Die weihevolle Rede von Frau Bas erinnerte mich irgendwie an einen Artikel, den ich kürzlich in Bild der Wissenschaft gelesen hatte. In beiden Fällen werden diskutierbare Desiderate als feststehende Größen vorausgesetzt.
Bas sprach davon, dass wir eine Gesellschaft der Teilhabe, der Inklusion und der Digitalisierung voranbringen müssten. Die Digitalisierung halte ich für eine historische Notwendigkeit, die sich zwischen hinzunehmendem Übel mit punktuellen Vorteilen in bestimmten Bereichen und drohender Brave New World bewegt. Nichts, was sui generis positiv zu beurteilen wäre. Sie hätte auch sagen können, wir müssten die Taylorisierung der Arbeit vorantreiben ;-)
In dem woken, um nicht zu sagen politisch korrekten BdW-Beitrag wurde die Entwicklung der Menschen von der Kindheit bis ins hohe Alter anhand realisierbarer Ideale als eine Art Zwangsläufigkeit behandelt. Es hieß dort etwa, im Alter von 14 bis 18 lerne man, Meinungsverschiedenheiten im rationalen Diskurs auszudiskutieren. Ich würde mal behaupten, dass nur eine Minderheit der Menschen dies je hinbekommt. Und ich vermisste die vorausgehende Passage, dass man im Alter von 6 bis 8 zunächst mal lerne, Differenzen mit den Fäusten auszutragen ;-)
Bas sprach davon, dass wir eine Gesellschaft der Teilhabe, der Inklusion und der Digitalisierung voranbringen müssten. Die Digitalisierung halte ich für eine historische Notwendigkeit, die sich zwischen hinzunehmendem Übel mit punktuellen Vorteilen in bestimmten Bereichen und drohender Brave New World bewegt. Nichts, was sui generis positiv zu beurteilen wäre. Sie hätte auch sagen können, wir müssten die Taylorisierung der Arbeit vorantreiben ;-)
In dem woken, um nicht zu sagen politisch korrekten BdW-Beitrag wurde die Entwicklung der Menschen von der Kindheit bis ins hohe Alter anhand realisierbarer Ideale als eine Art Zwangsläufigkeit behandelt. Es hieß dort etwa, im Alter von 14 bis 18 lerne man, Meinungsverschiedenheiten im rationalen Diskurs auszudiskutieren. Ich würde mal behaupten, dass nur eine Minderheit der Menschen dies je hinbekommt. Und ich vermisste die vorausgehende Passage, dass man im Alter von 6 bis 8 zunächst mal lerne, Differenzen mit den Fäusten auszutragen ;-)
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Matthias Lange Fluchthilfepreis an Markus Grotian verliehen
che2001, 20:41h
Matthias Lange war Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Flüchtlingsrats Niedersachsen, mein Freund, langjähriger Genosse und kurzzeitiger Chef, der leider viel zu früh starb. Er organisierte und gestaltete nicht nur zahlreiche Aktionen und Kampagnen der Solidaritätsarbeit mit Geflüchteten, er fundierte diese auch theoretisch, insbesondere mit seiner Postulierung des "Rechtes, Rechte zu haben", was im behördlichen Umgang mit den Flüchtlingen, in dem diese als Objekte behandelt werden nicht vorkommt. Für die Gruppe Materialien für einen neuen Antiimperialismus und deren Umfeld, deren Thema ja immer wieder der Diskurs um Kämpfe um das unmittelbare Existenzrecht ist war dieser Ansatz hochinteressant und den eigenen Positionen sehr nahestehend, obwohl Matthias aus einer ganz anderen Ecke kam.
Nach ihm ist ein Preis benannt, der jährlich vergeben wird, der Matthias Lange Fluchthilfepreis.
Am 17.09. 2022 hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. im Rahmen einer Feierstunde in Hannover den Vorsitzenden des Patenschaftsnetzwerk, Marcus Grotian, mit dem Dr. Matthias Lange-Fluchthilfepreis geehrt. Der Hauptmann der Bundeswehr hat dafür gesorgt, dass mehr als 300 Ortskräfte nach dem Rückzug der alliierten Truppen aus Afghanistan vor den Taliban geschützt wurden und nach Deutschland fliehen konnten.
Laudatio von Dr. Alema Alema, ehemalige Friedensminsterin von Afghanistan
Sehr geehrte Damen und Herren liebe Freunde,
es ist mir eine Ehre, dass ich die Laudatio über einen Menschen vortragen kann, der bei
seinem Einsatz keine Grenzen kennt und für den nur eines zählt, und das ist die
?Menschlichkeit?.
Ich möchte am Anfang kurz sagen, dass ich den militärischen Einsatz in Afghanistan von
Anfang an kritisch gesehen habe und mit seinem Verlauf bis zu dem Abzug der westlichen
Truppen im letzten Jahr, unglücklich bin.
Heute aber soll es um die durch den Einsatz gefährdeten afghanischen Ortskräfte gehen, und
das besondere Engagement von Herrn Grotian für ihre Rettung. Seine Aktivitäten in diesem
Feld sind beispiellos.
Markus Grotian ist Hauptmann der Bundeswehr. Er war 2011 in Kunduz stationiert und hat
dort als Panzergrenadier gedient. Dabei hat er die Arbeit der Ortskräfte zu schätzen gelernt
und gemerkt, wie die Mission auf sie angewiesen war. 2015 gründete er die Organisation
Patenschaftsnetzwerk afghanischer Ortskräfte.
Schon vor Truppenabzug schrieb Herr Grotian der damaligen Bundesregierung Mails und
Briefe, wies auf die Gefahr der schnellen Machtergreifung durch die Taliban hin und bot
sogar seine Hilfe an. Er kritisierte den Umgang mit den Ortskräften und die Umständlichkeit der Aufnahmeverfahren. Er forderte eindringlich, dass Menschen nun schnell rausgeholt
werden müssen, wenn sie aufgrund ihrer Tätigkeit gefährdet sind. Seine Mails wurden
ignoriert.
Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan, die islamische
Republik Afghanistan zerbrach. Für den Kollaps der ehemaligen Regierung spielen nicht nur
innere, sondern auch äußere Faktoren eine Rolle: Infolge des Doha-Abkommen zwischen
den Taliban und den USA, mussten wir einen fluchtartigen und bedingungslosen Abzug der
westlichen Truppen erleben und zuschauen, wie sich die Taliban in kürzester Zeit militärisch
an die Macht kämpften. Dadurch wurden alle verraten, die sich in den letzten 20 Jahren für Demokratie und
Menschenrechte eingesetzt haben.
Zudem wurde Afghanistan wieder Zentrum von terroristischen Netzwerken.
Es existiert faktisch keine legitime Regierung. Die De-facto-Regierung der Taliban
entbehrt Anerkennung und Legitimität nach außen und innen.
Es existiert weder eine Verfassung, noch ein Justizwesen.
Jetzt erfahren Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Juristinnen und Juristen,
Sportlerinnen, Künstlerinnen und Künstler, ehemalige Regierungsmitarbeitende und
Sicherheitskräfte eine massive Beschneidung ihrer Grundrechte und Freiheiten und
müssen Vergeltung fürchten.
Durch die drakonische Politik der Taliban werden Millionen Frauen und Mädchen
ihres Rechts auf ein sicheres, freies und würdiges Leben beraubt. Die Frauen werden
systematisch unterdrückt und diskriminiert, und auch im Haus haben sie keinen
Schutz vor häuslicher Gewalt. Afghanistan ist das einzige Land auf unserem Planeten,
in dem die Mädchen ab der 7. Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen.
Inhaftierungen, Folter und Zwangsehen bestimmen das Leben der Frauen.
Der Westen hat sich aus der Verantwortung gezogen. Das mindeste, was er nun tun kann,
ist, viele Menschen zu retten, die akut bedroht sind. Es ist es enorm wichtig, dass
Demokratie und Menschenrechte die Leitlinien des Handelns sind. Wer in Afghanistan für
Menschenrechte, Demokratie und westliche Organisationen eingetreten ist, muss gerettet
werden.
Herr Grotian wollte trotz aller Schwierigkeiten nicht aufgeben. "Der Pragmatiker", wie die
Süddeutsche Zeitung titelte, stellte schnell dort Hilfe zur Verfügung, wo sie gebraucht
wurde. Er ließ sich beurlauben und sammelte Spenden, um die Ausreisen gefährdeter
Ortskräfte zu unterstützen.
Das Patenschaftsnetzwerk mietete 2021 fünf Schutzhäuser in Afghanistan an, in dem 400
gefährdete Ortskräfte mit ihren Familienmitgliedern Schutz finden konnten. Außerdem
evakuierte das Patenschaftsnetzwerk mehr als 300 Personen aus Afghanistan, die eine
Aufnahmezusage erhalten hatten.
Das Patenschaftsnetzwerk afghanischer Ortskräfte wurde darüber hinaus zu einem
wichtigen Akteur auf politischer Ebene. Marcus Grotian war und ist medial präsent:
geradezu unermüdlich fordert er, dass nicht weggesehen werden darf, dass es
unbürokratische Hilfe braucht. Er kritisiert, dass die Ortskräfte nicht rechtzeitig in Sicherheit
gebracht wurden und bemängelt die "unterlassene Hilfeleistung" durch die alte Regierung.
Die Evakuierung beschreibt er als "moralisches Versagen". Immer wieder stellt er dar, dass
der politische Wille der Bundesregierung bei der Evakuierung fehlte und Menschen im Stich
gelassen wurden.
Herr Grotian war wichtiger Akteur in den Verhandlungen zum Aufnahmeverfahren und
eine wichtige Stimme für die Betroffenen in Afghanistan ? auch wenn heute klar ist, dass
seine und unsere gemeinsamen Vorstellungen für das Aufnahmeprogramm von der Politik
nicht zufriedenstellend umgesetzt werden.
Zum Jahrestag der Machtübernahme der Taliban organisierte das Patenschaftsnetzwerk
gemeinsam mit PRO ASYL einen Ortskräftekongress in Berlin mit verantwortlichen
Politiker*innen. Die Forderung nach der Reform des Ortskräfteverfahrens besteht
weiterhin. Herr Marcus Grotian setzt sich aktiv und engagiert dafür ein. Er hat meinen und
unser aller Respekt dafür.
Lieber Marcus, bleib stark. Möge dein Weg grün sein.
Rede von Marcus Grotian, Preisträger
Liebe Anwesende,
ich danke für Ihr Wohlwollen und Ihre Unterstützung in den letzten 16 Monaten, die auch
heute hier deutlich wird. Als Niedersachse, aus Hildesheim stammend, freue ich mich darüber noch einmal beson ders. Ich danke an dieser Stelle besonders meiner Frau Nadine, die
auf mich in den letzten 16 Monaten an mehr Tagen hat verzichten müssen, als sie sich das je
erträumt hätte. Deployment on a sofa, Einsatz von der Couch aus nannte es mein amerikanischer Counterpart Matt Zeller treffend.
An meinem 44. Geburtstag, am 11.07. letzten Jahres, saß ich mit ihr beim Essen, wenigstens
mal 3 Stunden nicht an Afghanistan denken, kurz feiern. Das Essen kommt, das Telefon klingelt wieder und wieder. Es war der Tag, an dem in Kabul das erste von uns angemietete
Safehouse bezogen wurde. 90 Menschen brauchen natürlich Essen, Trinken und Toilettenpapier. Das war drei Tage bevor der Katastrophenschutz in Deutschland, ein etabliertes Verfahren übrigens wie das für die Ortskräfte, seine Schwächen in aller Deutlichkeit aufzeigte und
Menschen in Deutschland ertranken.
Zurück zu den Safehouses: Es waren zuletzt über 400 Seelen, die dort unterkamen. Es ist für
mich immer etwas ganz Besonderes, wenn ich heute Menschen in Deutschland treffe, die
wir damals in den Safehouses schon unterstützten.
Die Ortskräfte mussten ihre Existenzen zurücklassen, wir sind im August privat ?nur umgezogen?. Das jedenfalls entgegnete man mir damals auf meine Beschwerde, dass ich meine Unterwäsche nicht mehr finden konnte und nicht wusste, wo die Küche ist.
Ich erinnere mich auch noch an eine Szene, in der ich zum wiederholten Male der Aufforderung, die Katzentoiletten zu machen, nicht im engeren zeitlichen Zusammenhang nachkam.
Wütend und traurig standst du vor mir, zu recht. Kleinlaut versuchte ich zu erklären. dass der
Staatssekretär aus dem Verteidigungsministerium am Telefon sei, was an der Katzentoilettenproblematik aber natürlich nichts änderte. Surreal.
Hase, Ich danke dir von Herzen für deine Rückendeckung und alles was du auf dich genommen hast, um mich zu entlasten.
Aber leider sind solche Veranstaltungen naturgemäß in sich zwiegespalten. Damit jemand
ausgezeichnet werden kann, müssen vorher Dinge schiefgelaufen sein, müssen außergewöhnliche Maßnahmen von einzelnen oder Gruppen ergriffen worden sein. Das Besondere
ist, dass in solchen Momenten Menschen sich offenbaren, die die eigene Unversehrtheit
hintanstellen, sei es körperlich, seelisch, aber auch gesellschaftlich.
Ich fuhr in Kunduz einmal mit zwei Trägern der Tapferkeitsmedaille der Bundeswehr durch
den Unruhedistrikt, in dem wir operierten. Ich sprach sie an, wie es sich anfühlte, die höchste Auszeichnung für Tapferkeit bekommen zu haben, weil sie Leben gerettet hatten unter
Einsatz ihres eigenen. Für mich war es eine Ehre, mit beiden zusammen auf Patrouille zu fahren. Beide schauten mich verbittert an, und einer antwortete: Ich würde sie jeden Tag eintauschen für die beiden, die ich an dem Tag nicht retten konnte.
Es traf mich unvorbereitet.
Wir leben in einer postheroischen Zeit, lese und höre ich. Und dennoch brauchen Menschen,
braucht eine Gesellschaft Vorbilder. Für die Tage, wo Dinge nicht so laufen wie geplant.
Unsere Demokratie läuft Gefahr, unbemerkt ausgehöhlt zu werden.
Entscheider, sei es in Politik oder Institutionen, sehen sich immer auch Kritik ausgesetzt, das
bedingen die verschiedenen Positionen einer pluralistischen Gesellschaft. Und doch hat sich
in Deutschland in meiner Wahrnehmung etwas geändert in den letzten 16 Monaten. Lassen
Sie mich dies an meinem Beispiel deutlich machen:
Ich habe letztes Jahr mein 25-jähriges Dienstjubiläum als Berufssoldat gefeiert. Lese ich meine Beurteilungen, war ich ein ausgezeichneter Soldat. Und doch saß ich im letzten August in
der Bundespressekonferenz und in vielen Interviews und warf der eigenen Regierung unterlassene Hilfeleistung vor. Ich werde nicht müde, dies zu betonen, denn was mich über allen
Maßen beunruhigt, auch heute noch, ist die Unfähigkeit oder Unwilligkeit (beides ist letztlich
gleich schlimm), die politischen und bürokratischen Fehler einzugestehen und daraus
Schlussfolgerungen abzuleiten. Verantwortung zu übernehmen, die man im Kleinen so
selbstverständlich von allen Bürgern erwartet, wurde durch eine Verantwortungsdiffusion
unmöglich gemacht. Wer sagt oder denkt, er habe nichts falsch gemacht, der braucht ja auch
nichts zu ändern. Ich schaudere noch heute, wie alle beteiligten Ministerien, Minister und
Sprecher stets betonten, dass im eigenen Bereich alles super gelaufen sei. Immer war man
sich der großen Verantwortung bewusst, immer war alles geregelt, bewährte Verfahren sollten eingespielt sein, die 2400 Menschen aus Afghanistan hätten retten sollen. 2400. Ende
letzten Jahres gab es, ohne dass sich die Verfahren geändert hätten, plötzlich 24.000 Aufnahmezusagen für Menschen, die für uns gearbeitet hatten. Irgendwas muss nicht gewollt gewesen sein oder nicht funktioniert haben, im Sommer 2021, so scheint es jedenfalls.
Wir werden aber in Deutschland wohl weiter warten müssen, bis der eingesetzte Untersuchungsausschuss und die Enquetekommission zu Ergebnissen kommt, was noch viele Monate bis zu Jahren dauern kann. Ob der Wille zu schonungsloser Aufarbeitung da ist, wird sich
erst zeigen müssen. Zweifel bestehen.
Andere Länder haben schon Berichte geschrieben, ausgewertet und gelernt, Verantwortung
zu tragen, wie in den Niederlanden, wo drei Minister zurücktraten. In Deutschland höre ich
auf die Frage nach den Lehren aus Afghanistan nur wieder und wieder, dass Mali nicht so
wie Afghanistan sei. Das stimmt natürlich, denn dort gibt es gar kein Ortskräfteverfahren,
also werden wir niemanden vorher schon retten, sollten die Terroristen dort gewinnen.
Ohne ein Ortskräftekonzept, das man JETZT erstellen müsste, bleibt bei einem Rückzug
nichts als zu hoffen, dass die Terroristen nicht gewinnen, und das klingt dann doch wieder
bedrohlich wie in Afghanistan.
Ich habe mit unzähligen Menschen gesprochen in den letzten Monaten, die ich allesamt mit
mir fest auf dem Boden der Demokratie weiß. Viele davon, und das macht es besonders bitter, überzeugte Staatsdiener, wie Beamte und Soldaten, aber auch Vertreter der Medien und
unzählige Bürger, die innerlich erschüttert waren und sind über die Unzulänglichkeiten staatlichen Handelns, und in der Folge über die Unfähigkeit, diese überhaupt zu erkennen und abzustellen. ?Ich habe mich noch nie so geschämt für unser Land wie im August letzten Jahres?.
Ein aktuelles Zitat eines Ministerialbeamten. Dass die Aussen-, Sicherheits- und
Energiepolitik der letzten 15 Jahre im Rückblick betrachtet unser Land nicht gut aufgestellt
hat, macht die Lage nicht besser.
Eine Gesellschaft braucht Werte, und Menschen, die sie nicht nur im Reden vor sich her tragen, sondern die danach handeln. Daran, was jemand sagt, siehst du, wie er sein möchte,
daran, wie er handelt, siehst du, wie jemand wirklich ist.
Wenn Firmen guten Umgang mit den Angestellten predigen und diese dann nicht mal den
Mindestlohn gezahlt bekommen, machen sie sich unglaubwürdig. Wer in Afghanistan Menschen- und Arbeitsrechte implementiert und dann diese im Umgang mit seinen eigenen Mitarbeitern selbst nicht einhält, muss sich nicht wundern, wenn die eigene Glaubwürdigkeit
verloren geht.
Verlorene Glaubwürdigkeit ist ein Gift, das die Demokratie schwächt. Parteien, deren eigenes Profil bis zur Unkenntlichkeit verwaschen, und deren auch mal schnell wechselnde
Standpunkte sich scheinbar ausschließlich dem Ziel, Macht zu bekommen, unterordnen, beschleunigen den Vertrauensverlust. ?Wir müssen die Partei wieder so aufstellen, dass sie von
jedem gewählt werden kann? mag machttechnisch sinnvoll klingen. Demokratisch ist es eine
Katastrophe, wenn Parteien sich dem gefühlten Wählerwillen anbiedern und ihre Positionen
nach Umfragen festlegen.
Dies ist etwas, was im Übrigen auch die vierte Macht im Staat zu spüren bekommt. Wer in
seiner Berichterstattung einseitig ist und unliebsame Fakten ausblendet, der verliert ebenfalls die Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung. Wenn man aber der Politik, den staatlichen Instanzen, und den Medien nicht mehr traut, wohin wenden sich diese Menschen? Wie weit
sind wir selbst bei den unterschiedlichen Säulen davon entfernt, das Vertrauen zu verlieren,
oder haben es bereits?
?Was interessiert mich die afghanische Ortskraft, mir geht es doch schlecht? mag subjektiv
verständlich sein, aber das ist vielleicht doch etwas kurzsichtig.
Wie der deutsche Staat mit seinen Angestellten in Afghanistan oder Mali umgeht, ist vielleicht aber auch ein Symptom für ein grundsätzlicheres Problem. Veteranenverbände beklagen den mangelhaften Umgang mit verwundeten Veteranen: Wie viele Veteranen sich selbst
umbringen, wird nicht erhoben, dann muss man sich auch nicht darum kümmern. Die Polizei
schiebt millionenfache Überstunden vor sich her, Pädagogen fühlen sich noch im dritten Coronajahr allein gelassen und haben ungefähr dieselbe alarmierende Ausfallrate aufgrund
Überlastung wie Pflegekräfte.
Für das sytemrelevante Bankensystem wurde einst in einer Woche ein 400-Milliarden-Rettungspaket geschnürt. Für die systemrelevanten Pflegekräfte wurde nach langen Überlegungen geklatscht. Seit mehr als 1,5 Jahren demonstrieren Pfegekräfte gegen die Missstände im
Pflegebereich. Wie lange wird es wohl dauern, bis aus systemrelevanten Pflegekräften Pflegekräfte werden, die systemkritisch sind?
Vielleicht haben einige Personengruppen einfach keine so starke Lobby. Lassen Sie uns alle
stets daran denken, dass die Schwachen eine Stimme brauchen. Eine Stimme von Menschen
mit festem moralischem Kompass.
Auszug aus der Rede der Vorsitzenden des Flüchtlingsrats, Claire Deery
Dr. Matthias Lange starb 2006 im Alter von 56 Jahren, er war Mitbegründer des
Göttinger AK Asyl und hat sich beim Flüchtlingsrat Niedersachsen und bei ProAsyl
massiv engagiert.
Er hat es verstanden von seinen Kenntnissen aus der Praxis einen großen Bogen zum
Nachdenken über die Flüchtlingspolitik zu schlagen.
Viele Entwicklungen hat er vorhergesehen, manche hat er als Erstes formuliert.
Es ist so, dass ich jedes Mal zur Vorbereitung auf diesen Preis mich nochmals in die
Texte von Matthias Lange verliere und auch sehr beeindruckt bin, was er damals
geschrieben hat, auch unter anderem mit vielen Koautoren, die auch heute noch
publizieren. Und wie jedes Jahr oder mit jedem Mal entdecke ich Parallelen zu den
heutigen weltpolitischen Themen und Flüchtlingsbewegungen.
Themen, die mit der Fluchthilfe im Zusammenhang stehen, heute ganz im Zeichen der
Afghanen und Afghanninnen, daher will ich in meiner Rede möglichst zuerst auf
andere Bereiche der Flüchtlingspolitik eingehen, die uns beschäftigen.
Mir fällt es schwer eine Gewichtung der Themen und Bewegungen vorzunehmen, da
aus migrationspolitischer Sicht alle Gruppen das Recht haben anerkannt zu werden
und Schutz zu genießen.
Natürlich müssen wir uns mit dem Ukraine-Russland-Krieg befassen?.
und auch mit der unglaublich hohen Zahl der neu ankommenden Geflüchteten nach
Deutschland.
Umso wichtiger ist es, dass wir auch ein Auge darauf haben, dass bald in
Niedersachsen eine Wahl des Landtages stattfinden wird.
Indem wir die Hoffnung haben, dass wir maßgeblich dazu beitragen können, dass sich
Stellschrauben bewegen lassen für die weitere niedersächsische Flüchtlingspolitik, die
wir unterstützen können.
Wir haben weiterhin eine Situation an den Außengrenzen, die massiv gegen
Menschenrechte verstößt, auf dem Balkan, in Griechenland, in Italien mittlerweile auch
an den Grenzen zwischen Polen und andere östlichen Grenzen. Aber auch die
Situation am Ärmelkanal, die unsägliche Idee Abschiebungen und Asylverfahren nach
Ruanda vorzunehmen von Großbritannien und Dänemark, die uns beschäftigen und
umtreiben.
Das Ausmaß an Polizeigewalt, welches nicht aufzuhören scheint und deren Aufklärung
uns zu lange dauert.
Matthias Lange hat beschrieben, dass das Grundrecht auf Asyl weiterhin Gefahr läuft
untergraben zu werden und dass es unserer täglichen wichtigen Arbeit bedarf. Nur ein
Blick in die aktuelle Tageszeitung oder auch ein Blick auf unsere Homepage zeigen,
dass die Arbeit des Flüchtlingsrates Niedersachsen, die Arbeit aller hauptamtlichen
sowie ehrenamtlichen Mitarbeitende in den letzten Jahren nicht weniger wichtiger
geworden ist. Was Dr. Matthias Lange bereits vor über 20 Jahren festgehalten hat, hat
leider noch heute eine volle Gültigkeit.
Landespolitisch beschäftigt uns das ständige Gerangel um Gelder und Fördermittel,
um die Existenzängste des Vereins, um seine Mitarbeiterinnen im Flüchtlingsrat, die
nicht sicher wissen, ob der Arbeitsvertrag verlängert werden kann, weil wieder darum
gestritten wird, ob ein gewisses hervorragendes Projekt oder eine gewisse
Förderrichtlinien in Anspruch genommen werden kann oder ausläuft oder weitergeführt
wird. Ob diese nahtlos weiterläuft oder ob man damit rechnen muss den Arbeitsplatz
für einige Monate zu verlieren. Diese Arbeitsplätze in unserem Flüchtlingsrat sind aber
die wichtigsten Bausteine unseres Vereins und sind es auch aus Sicht von Dr. Matthias
Lange.
In einem Text heißt es von ihm, dass das Geschlecht weiterhin kein Asylgrund ist.
Leider kann das heute immer noch unterschrieben werden. Zudem steht in einem
Artikel, dass weiterhin auch das Asylbewerberleistungsgesetz von der
Bundesregierung nicht infrage gestellt wird. Auch das Arbeitsverbot für neu in
Deutschland zugewanderte Flüchtlinge wurde bislang nicht aufgehoben - auch das gilt
Jahrzehnte später noch.
Dann geht es weiter in einem Artikel um das Flughafenverfahren, das wir leider immer
noch haben und die geplante Überprüfung der Abschiebungshaft im Lichte der Verhältnismäßigkeit bleibt ebenso ergebnislos wie die vage Willensbekundung das Ausländergesetz zu prüfen. Ich würde das leider auch heute immer noch
unterschreiben
Nach ihm ist ein Preis benannt, der jährlich vergeben wird, der Matthias Lange Fluchthilfepreis.
Am 17.09. 2022 hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. im Rahmen einer Feierstunde in Hannover den Vorsitzenden des Patenschaftsnetzwerk, Marcus Grotian, mit dem Dr. Matthias Lange-Fluchthilfepreis geehrt. Der Hauptmann der Bundeswehr hat dafür gesorgt, dass mehr als 300 Ortskräfte nach dem Rückzug der alliierten Truppen aus Afghanistan vor den Taliban geschützt wurden und nach Deutschland fliehen konnten.
Laudatio von Dr. Alema Alema, ehemalige Friedensminsterin von Afghanistan
Sehr geehrte Damen und Herren liebe Freunde,
es ist mir eine Ehre, dass ich die Laudatio über einen Menschen vortragen kann, der bei
seinem Einsatz keine Grenzen kennt und für den nur eines zählt, und das ist die
?Menschlichkeit?.
Ich möchte am Anfang kurz sagen, dass ich den militärischen Einsatz in Afghanistan von
Anfang an kritisch gesehen habe und mit seinem Verlauf bis zu dem Abzug der westlichen
Truppen im letzten Jahr, unglücklich bin.
Heute aber soll es um die durch den Einsatz gefährdeten afghanischen Ortskräfte gehen, und
das besondere Engagement von Herrn Grotian für ihre Rettung. Seine Aktivitäten in diesem
Feld sind beispiellos.
Markus Grotian ist Hauptmann der Bundeswehr. Er war 2011 in Kunduz stationiert und hat
dort als Panzergrenadier gedient. Dabei hat er die Arbeit der Ortskräfte zu schätzen gelernt
und gemerkt, wie die Mission auf sie angewiesen war. 2015 gründete er die Organisation
Patenschaftsnetzwerk afghanischer Ortskräfte.
Schon vor Truppenabzug schrieb Herr Grotian der damaligen Bundesregierung Mails und
Briefe, wies auf die Gefahr der schnellen Machtergreifung durch die Taliban hin und bot
sogar seine Hilfe an. Er kritisierte den Umgang mit den Ortskräften und die Umständlichkeit der Aufnahmeverfahren. Er forderte eindringlich, dass Menschen nun schnell rausgeholt
werden müssen, wenn sie aufgrund ihrer Tätigkeit gefährdet sind. Seine Mails wurden
ignoriert.
Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan, die islamische
Republik Afghanistan zerbrach. Für den Kollaps der ehemaligen Regierung spielen nicht nur
innere, sondern auch äußere Faktoren eine Rolle: Infolge des Doha-Abkommen zwischen
den Taliban und den USA, mussten wir einen fluchtartigen und bedingungslosen Abzug der
westlichen Truppen erleben und zuschauen, wie sich die Taliban in kürzester Zeit militärisch
an die Macht kämpften. Dadurch wurden alle verraten, die sich in den letzten 20 Jahren für Demokratie und
Menschenrechte eingesetzt haben.
Zudem wurde Afghanistan wieder Zentrum von terroristischen Netzwerken.
Es existiert faktisch keine legitime Regierung. Die De-facto-Regierung der Taliban
entbehrt Anerkennung und Legitimität nach außen und innen.
Es existiert weder eine Verfassung, noch ein Justizwesen.
Jetzt erfahren Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Juristinnen und Juristen,
Sportlerinnen, Künstlerinnen und Künstler, ehemalige Regierungsmitarbeitende und
Sicherheitskräfte eine massive Beschneidung ihrer Grundrechte und Freiheiten und
müssen Vergeltung fürchten.
Durch die drakonische Politik der Taliban werden Millionen Frauen und Mädchen
ihres Rechts auf ein sicheres, freies und würdiges Leben beraubt. Die Frauen werden
systematisch unterdrückt und diskriminiert, und auch im Haus haben sie keinen
Schutz vor häuslicher Gewalt. Afghanistan ist das einzige Land auf unserem Planeten,
in dem die Mädchen ab der 7. Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen.
Inhaftierungen, Folter und Zwangsehen bestimmen das Leben der Frauen.
Der Westen hat sich aus der Verantwortung gezogen. Das mindeste, was er nun tun kann,
ist, viele Menschen zu retten, die akut bedroht sind. Es ist es enorm wichtig, dass
Demokratie und Menschenrechte die Leitlinien des Handelns sind. Wer in Afghanistan für
Menschenrechte, Demokratie und westliche Organisationen eingetreten ist, muss gerettet
werden.
Herr Grotian wollte trotz aller Schwierigkeiten nicht aufgeben. "Der Pragmatiker", wie die
Süddeutsche Zeitung titelte, stellte schnell dort Hilfe zur Verfügung, wo sie gebraucht
wurde. Er ließ sich beurlauben und sammelte Spenden, um die Ausreisen gefährdeter
Ortskräfte zu unterstützen.
Das Patenschaftsnetzwerk mietete 2021 fünf Schutzhäuser in Afghanistan an, in dem 400
gefährdete Ortskräfte mit ihren Familienmitgliedern Schutz finden konnten. Außerdem
evakuierte das Patenschaftsnetzwerk mehr als 300 Personen aus Afghanistan, die eine
Aufnahmezusage erhalten hatten.
Das Patenschaftsnetzwerk afghanischer Ortskräfte wurde darüber hinaus zu einem
wichtigen Akteur auf politischer Ebene. Marcus Grotian war und ist medial präsent:
geradezu unermüdlich fordert er, dass nicht weggesehen werden darf, dass es
unbürokratische Hilfe braucht. Er kritisiert, dass die Ortskräfte nicht rechtzeitig in Sicherheit
gebracht wurden und bemängelt die "unterlassene Hilfeleistung" durch die alte Regierung.
Die Evakuierung beschreibt er als "moralisches Versagen". Immer wieder stellt er dar, dass
der politische Wille der Bundesregierung bei der Evakuierung fehlte und Menschen im Stich
gelassen wurden.
Herr Grotian war wichtiger Akteur in den Verhandlungen zum Aufnahmeverfahren und
eine wichtige Stimme für die Betroffenen in Afghanistan ? auch wenn heute klar ist, dass
seine und unsere gemeinsamen Vorstellungen für das Aufnahmeprogramm von der Politik
nicht zufriedenstellend umgesetzt werden.
Zum Jahrestag der Machtübernahme der Taliban organisierte das Patenschaftsnetzwerk
gemeinsam mit PRO ASYL einen Ortskräftekongress in Berlin mit verantwortlichen
Politiker*innen. Die Forderung nach der Reform des Ortskräfteverfahrens besteht
weiterhin. Herr Marcus Grotian setzt sich aktiv und engagiert dafür ein. Er hat meinen und
unser aller Respekt dafür.
Lieber Marcus, bleib stark. Möge dein Weg grün sein.
Rede von Marcus Grotian, Preisträger
Liebe Anwesende,
ich danke für Ihr Wohlwollen und Ihre Unterstützung in den letzten 16 Monaten, die auch
heute hier deutlich wird. Als Niedersachse, aus Hildesheim stammend, freue ich mich darüber noch einmal beson ders. Ich danke an dieser Stelle besonders meiner Frau Nadine, die
auf mich in den letzten 16 Monaten an mehr Tagen hat verzichten müssen, als sie sich das je
erträumt hätte. Deployment on a sofa, Einsatz von der Couch aus nannte es mein amerikanischer Counterpart Matt Zeller treffend.
An meinem 44. Geburtstag, am 11.07. letzten Jahres, saß ich mit ihr beim Essen, wenigstens
mal 3 Stunden nicht an Afghanistan denken, kurz feiern. Das Essen kommt, das Telefon klingelt wieder und wieder. Es war der Tag, an dem in Kabul das erste von uns angemietete
Safehouse bezogen wurde. 90 Menschen brauchen natürlich Essen, Trinken und Toilettenpapier. Das war drei Tage bevor der Katastrophenschutz in Deutschland, ein etabliertes Verfahren übrigens wie das für die Ortskräfte, seine Schwächen in aller Deutlichkeit aufzeigte und
Menschen in Deutschland ertranken.
Zurück zu den Safehouses: Es waren zuletzt über 400 Seelen, die dort unterkamen. Es ist für
mich immer etwas ganz Besonderes, wenn ich heute Menschen in Deutschland treffe, die
wir damals in den Safehouses schon unterstützten.
Die Ortskräfte mussten ihre Existenzen zurücklassen, wir sind im August privat ?nur umgezogen?. Das jedenfalls entgegnete man mir damals auf meine Beschwerde, dass ich meine Unterwäsche nicht mehr finden konnte und nicht wusste, wo die Küche ist.
Ich erinnere mich auch noch an eine Szene, in der ich zum wiederholten Male der Aufforderung, die Katzentoiletten zu machen, nicht im engeren zeitlichen Zusammenhang nachkam.
Wütend und traurig standst du vor mir, zu recht. Kleinlaut versuchte ich zu erklären. dass der
Staatssekretär aus dem Verteidigungsministerium am Telefon sei, was an der Katzentoilettenproblematik aber natürlich nichts änderte. Surreal.
Hase, Ich danke dir von Herzen für deine Rückendeckung und alles was du auf dich genommen hast, um mich zu entlasten.
Aber leider sind solche Veranstaltungen naturgemäß in sich zwiegespalten. Damit jemand
ausgezeichnet werden kann, müssen vorher Dinge schiefgelaufen sein, müssen außergewöhnliche Maßnahmen von einzelnen oder Gruppen ergriffen worden sein. Das Besondere
ist, dass in solchen Momenten Menschen sich offenbaren, die die eigene Unversehrtheit
hintanstellen, sei es körperlich, seelisch, aber auch gesellschaftlich.
Ich fuhr in Kunduz einmal mit zwei Trägern der Tapferkeitsmedaille der Bundeswehr durch
den Unruhedistrikt, in dem wir operierten. Ich sprach sie an, wie es sich anfühlte, die höchste Auszeichnung für Tapferkeit bekommen zu haben, weil sie Leben gerettet hatten unter
Einsatz ihres eigenen. Für mich war es eine Ehre, mit beiden zusammen auf Patrouille zu fahren. Beide schauten mich verbittert an, und einer antwortete: Ich würde sie jeden Tag eintauschen für die beiden, die ich an dem Tag nicht retten konnte.
Es traf mich unvorbereitet.
Wir leben in einer postheroischen Zeit, lese und höre ich. Und dennoch brauchen Menschen,
braucht eine Gesellschaft Vorbilder. Für die Tage, wo Dinge nicht so laufen wie geplant.
Unsere Demokratie läuft Gefahr, unbemerkt ausgehöhlt zu werden.
Entscheider, sei es in Politik oder Institutionen, sehen sich immer auch Kritik ausgesetzt, das
bedingen die verschiedenen Positionen einer pluralistischen Gesellschaft. Und doch hat sich
in Deutschland in meiner Wahrnehmung etwas geändert in den letzten 16 Monaten. Lassen
Sie mich dies an meinem Beispiel deutlich machen:
Ich habe letztes Jahr mein 25-jähriges Dienstjubiläum als Berufssoldat gefeiert. Lese ich meine Beurteilungen, war ich ein ausgezeichneter Soldat. Und doch saß ich im letzten August in
der Bundespressekonferenz und in vielen Interviews und warf der eigenen Regierung unterlassene Hilfeleistung vor. Ich werde nicht müde, dies zu betonen, denn was mich über allen
Maßen beunruhigt, auch heute noch, ist die Unfähigkeit oder Unwilligkeit (beides ist letztlich
gleich schlimm), die politischen und bürokratischen Fehler einzugestehen und daraus
Schlussfolgerungen abzuleiten. Verantwortung zu übernehmen, die man im Kleinen so
selbstverständlich von allen Bürgern erwartet, wurde durch eine Verantwortungsdiffusion
unmöglich gemacht. Wer sagt oder denkt, er habe nichts falsch gemacht, der braucht ja auch
nichts zu ändern. Ich schaudere noch heute, wie alle beteiligten Ministerien, Minister und
Sprecher stets betonten, dass im eigenen Bereich alles super gelaufen sei. Immer war man
sich der großen Verantwortung bewusst, immer war alles geregelt, bewährte Verfahren sollten eingespielt sein, die 2400 Menschen aus Afghanistan hätten retten sollen. 2400. Ende
letzten Jahres gab es, ohne dass sich die Verfahren geändert hätten, plötzlich 24.000 Aufnahmezusagen für Menschen, die für uns gearbeitet hatten. Irgendwas muss nicht gewollt gewesen sein oder nicht funktioniert haben, im Sommer 2021, so scheint es jedenfalls.
Wir werden aber in Deutschland wohl weiter warten müssen, bis der eingesetzte Untersuchungsausschuss und die Enquetekommission zu Ergebnissen kommt, was noch viele Monate bis zu Jahren dauern kann. Ob der Wille zu schonungsloser Aufarbeitung da ist, wird sich
erst zeigen müssen. Zweifel bestehen.
Andere Länder haben schon Berichte geschrieben, ausgewertet und gelernt, Verantwortung
zu tragen, wie in den Niederlanden, wo drei Minister zurücktraten. In Deutschland höre ich
auf die Frage nach den Lehren aus Afghanistan nur wieder und wieder, dass Mali nicht so
wie Afghanistan sei. Das stimmt natürlich, denn dort gibt es gar kein Ortskräfteverfahren,
also werden wir niemanden vorher schon retten, sollten die Terroristen dort gewinnen.
Ohne ein Ortskräftekonzept, das man JETZT erstellen müsste, bleibt bei einem Rückzug
nichts als zu hoffen, dass die Terroristen nicht gewinnen, und das klingt dann doch wieder
bedrohlich wie in Afghanistan.
Ich habe mit unzähligen Menschen gesprochen in den letzten Monaten, die ich allesamt mit
mir fest auf dem Boden der Demokratie weiß. Viele davon, und das macht es besonders bitter, überzeugte Staatsdiener, wie Beamte und Soldaten, aber auch Vertreter der Medien und
unzählige Bürger, die innerlich erschüttert waren und sind über die Unzulänglichkeiten staatlichen Handelns, und in der Folge über die Unfähigkeit, diese überhaupt zu erkennen und abzustellen. ?Ich habe mich noch nie so geschämt für unser Land wie im August letzten Jahres?.
Ein aktuelles Zitat eines Ministerialbeamten. Dass die Aussen-, Sicherheits- und
Energiepolitik der letzten 15 Jahre im Rückblick betrachtet unser Land nicht gut aufgestellt
hat, macht die Lage nicht besser.
Eine Gesellschaft braucht Werte, und Menschen, die sie nicht nur im Reden vor sich her tragen, sondern die danach handeln. Daran, was jemand sagt, siehst du, wie er sein möchte,
daran, wie er handelt, siehst du, wie jemand wirklich ist.
Wenn Firmen guten Umgang mit den Angestellten predigen und diese dann nicht mal den
Mindestlohn gezahlt bekommen, machen sie sich unglaubwürdig. Wer in Afghanistan Menschen- und Arbeitsrechte implementiert und dann diese im Umgang mit seinen eigenen Mitarbeitern selbst nicht einhält, muss sich nicht wundern, wenn die eigene Glaubwürdigkeit
verloren geht.
Verlorene Glaubwürdigkeit ist ein Gift, das die Demokratie schwächt. Parteien, deren eigenes Profil bis zur Unkenntlichkeit verwaschen, und deren auch mal schnell wechselnde
Standpunkte sich scheinbar ausschließlich dem Ziel, Macht zu bekommen, unterordnen, beschleunigen den Vertrauensverlust. ?Wir müssen die Partei wieder so aufstellen, dass sie von
jedem gewählt werden kann? mag machttechnisch sinnvoll klingen. Demokratisch ist es eine
Katastrophe, wenn Parteien sich dem gefühlten Wählerwillen anbiedern und ihre Positionen
nach Umfragen festlegen.
Dies ist etwas, was im Übrigen auch die vierte Macht im Staat zu spüren bekommt. Wer in
seiner Berichterstattung einseitig ist und unliebsame Fakten ausblendet, der verliert ebenfalls die Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung. Wenn man aber der Politik, den staatlichen Instanzen, und den Medien nicht mehr traut, wohin wenden sich diese Menschen? Wie weit
sind wir selbst bei den unterschiedlichen Säulen davon entfernt, das Vertrauen zu verlieren,
oder haben es bereits?
?Was interessiert mich die afghanische Ortskraft, mir geht es doch schlecht? mag subjektiv
verständlich sein, aber das ist vielleicht doch etwas kurzsichtig.
Wie der deutsche Staat mit seinen Angestellten in Afghanistan oder Mali umgeht, ist vielleicht aber auch ein Symptom für ein grundsätzlicheres Problem. Veteranenverbände beklagen den mangelhaften Umgang mit verwundeten Veteranen: Wie viele Veteranen sich selbst
umbringen, wird nicht erhoben, dann muss man sich auch nicht darum kümmern. Die Polizei
schiebt millionenfache Überstunden vor sich her, Pädagogen fühlen sich noch im dritten Coronajahr allein gelassen und haben ungefähr dieselbe alarmierende Ausfallrate aufgrund
Überlastung wie Pflegekräfte.
Für das sytemrelevante Bankensystem wurde einst in einer Woche ein 400-Milliarden-Rettungspaket geschnürt. Für die systemrelevanten Pflegekräfte wurde nach langen Überlegungen geklatscht. Seit mehr als 1,5 Jahren demonstrieren Pfegekräfte gegen die Missstände im
Pflegebereich. Wie lange wird es wohl dauern, bis aus systemrelevanten Pflegekräften Pflegekräfte werden, die systemkritisch sind?
Vielleicht haben einige Personengruppen einfach keine so starke Lobby. Lassen Sie uns alle
stets daran denken, dass die Schwachen eine Stimme brauchen. Eine Stimme von Menschen
mit festem moralischem Kompass.
Auszug aus der Rede der Vorsitzenden des Flüchtlingsrats, Claire Deery
Dr. Matthias Lange starb 2006 im Alter von 56 Jahren, er war Mitbegründer des
Göttinger AK Asyl und hat sich beim Flüchtlingsrat Niedersachsen und bei ProAsyl
massiv engagiert.
Er hat es verstanden von seinen Kenntnissen aus der Praxis einen großen Bogen zum
Nachdenken über die Flüchtlingspolitik zu schlagen.
Viele Entwicklungen hat er vorhergesehen, manche hat er als Erstes formuliert.
Es ist so, dass ich jedes Mal zur Vorbereitung auf diesen Preis mich nochmals in die
Texte von Matthias Lange verliere und auch sehr beeindruckt bin, was er damals
geschrieben hat, auch unter anderem mit vielen Koautoren, die auch heute noch
publizieren. Und wie jedes Jahr oder mit jedem Mal entdecke ich Parallelen zu den
heutigen weltpolitischen Themen und Flüchtlingsbewegungen.
Themen, die mit der Fluchthilfe im Zusammenhang stehen, heute ganz im Zeichen der
Afghanen und Afghanninnen, daher will ich in meiner Rede möglichst zuerst auf
andere Bereiche der Flüchtlingspolitik eingehen, die uns beschäftigen.
Mir fällt es schwer eine Gewichtung der Themen und Bewegungen vorzunehmen, da
aus migrationspolitischer Sicht alle Gruppen das Recht haben anerkannt zu werden
und Schutz zu genießen.
Natürlich müssen wir uns mit dem Ukraine-Russland-Krieg befassen?.
und auch mit der unglaublich hohen Zahl der neu ankommenden Geflüchteten nach
Deutschland.
Umso wichtiger ist es, dass wir auch ein Auge darauf haben, dass bald in
Niedersachsen eine Wahl des Landtages stattfinden wird.
Indem wir die Hoffnung haben, dass wir maßgeblich dazu beitragen können, dass sich
Stellschrauben bewegen lassen für die weitere niedersächsische Flüchtlingspolitik, die
wir unterstützen können.
Wir haben weiterhin eine Situation an den Außengrenzen, die massiv gegen
Menschenrechte verstößt, auf dem Balkan, in Griechenland, in Italien mittlerweile auch
an den Grenzen zwischen Polen und andere östlichen Grenzen. Aber auch die
Situation am Ärmelkanal, die unsägliche Idee Abschiebungen und Asylverfahren nach
Ruanda vorzunehmen von Großbritannien und Dänemark, die uns beschäftigen und
umtreiben.
Das Ausmaß an Polizeigewalt, welches nicht aufzuhören scheint und deren Aufklärung
uns zu lange dauert.
Matthias Lange hat beschrieben, dass das Grundrecht auf Asyl weiterhin Gefahr läuft
untergraben zu werden und dass es unserer täglichen wichtigen Arbeit bedarf. Nur ein
Blick in die aktuelle Tageszeitung oder auch ein Blick auf unsere Homepage zeigen,
dass die Arbeit des Flüchtlingsrates Niedersachsen, die Arbeit aller hauptamtlichen
sowie ehrenamtlichen Mitarbeitende in den letzten Jahren nicht weniger wichtiger
geworden ist. Was Dr. Matthias Lange bereits vor über 20 Jahren festgehalten hat, hat
leider noch heute eine volle Gültigkeit.
Landespolitisch beschäftigt uns das ständige Gerangel um Gelder und Fördermittel,
um die Existenzängste des Vereins, um seine Mitarbeiterinnen im Flüchtlingsrat, die
nicht sicher wissen, ob der Arbeitsvertrag verlängert werden kann, weil wieder darum
gestritten wird, ob ein gewisses hervorragendes Projekt oder eine gewisse
Förderrichtlinien in Anspruch genommen werden kann oder ausläuft oder weitergeführt
wird. Ob diese nahtlos weiterläuft oder ob man damit rechnen muss den Arbeitsplatz
für einige Monate zu verlieren. Diese Arbeitsplätze in unserem Flüchtlingsrat sind aber
die wichtigsten Bausteine unseres Vereins und sind es auch aus Sicht von Dr. Matthias
Lange.
In einem Text heißt es von ihm, dass das Geschlecht weiterhin kein Asylgrund ist.
Leider kann das heute immer noch unterschrieben werden. Zudem steht in einem
Artikel, dass weiterhin auch das Asylbewerberleistungsgesetz von der
Bundesregierung nicht infrage gestellt wird. Auch das Arbeitsverbot für neu in
Deutschland zugewanderte Flüchtlinge wurde bislang nicht aufgehoben - auch das gilt
Jahrzehnte später noch.
Dann geht es weiter in einem Artikel um das Flughafenverfahren, das wir leider immer
noch haben und die geplante Überprüfung der Abschiebungshaft im Lichte der Verhältnismäßigkeit bleibt ebenso ergebnislos wie die vage Willensbekundung das Ausländergesetz zu prüfen. Ich würde das leider auch heute immer noch
unterschreiben
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