Freitag, 30. März 2012
Einmal global betrachtet
Ständiges Thema in meinem Blog ist die Frage, wieso die Linke, speziell die radikale Linke insgesamt schwach und politischer Durchsetzungsmöglichkeiten beraubt ist. Meine Beiträge zu den Themen „Gewesene Linke“, „Antideutsche“, und „Elemente der Gegenaufklärung“ befassten sich damit, während es bei der Antira-Thematik eher darum geht, über laufende antirassistische Aktionen und Kampagnen zu berichten und zur Teilnahme zu mobilisieren. Indes bezieht sich meine aktuelle PC-Kritik wieder auf Ersteren Bereich, allerdings offensichtlich unter Wahrnehmung aller denkbaren Missverstehungsmöglichkeiten beim kommentierenden Publikum. Daher mache ich hier noch einmal eine Gesamtverortung, die einen klaren Unterschied zu der von mir sonst gewählten anekdotischen, aus meiner eigenen Lebenswirklichkeit geschöpften biografischen Betrachtungsweise vornimmt.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam es zum bislang letzten Mal zu einem weltweiten Aufbruch einer sozialrevolutionären Bewegung. Die Gründe hierfür waren äußerst heterogen und an unterschiedliche länder- oder globalregionspezifische Bedingungen geknüpft. Im Trikont standen Revolutionen und Revolten in der Fortsetzungslinie antikolonialer Befreiungskämpfe, in den Metropolen war es eine Gemengelage, die sich auf den Gesamtnenner „Gleichzeitigkeit in der Ungleichzeitigkeit“ (Bloch) ausrichten lässt. In den USA führten die Bürgerrechtsbewegung, die, durchaus im Einverständnis mit der Reformpolitik Kennedys und Johnsons 100 Jahre nach dem Bürgerkrieg nicht nur die formale, sondern auch die gesellschaftsreale Gleichberechtigung der Schwarzen (und der Frauen, vgl. Womens Lib) mit subversiven, aber gewaltfreien Aktionen durchzusetzen versuchte, der Protest gegen den Vietnamkrieg mit dem Aspekt der Kriegsdienstverweigerung amerikanischer Männer und die subkulturellen Beatnik- und Hippiebewegungen dazu, dass linksliberales politisches Engagement, Antirassismus, Pazifismus und Antiimperialismus ein Bündnis eingingen: The New Left.

In Frankreich stand die einerseits autoritäre, restaurativ-konservative, andererseits die Kontinuitätslinien zu Kolonialkriegen überwindende und soziale Mindeststandarts durchsetzende Politik deGaulles im offenen Widerspruch einerseits zu den rassistisch-kolonialistischen Positionen der alten Algerienkämpfer und andererseits zu den emanzipativen Forderungen von ArbeiterInnen und StudentInnen, die sich um existenzialistische, traditionskommunistische, maoistische und anarchistische Positionen formierten.

In der Bundesrepublik Deutschland bestand die Ungleichzeitigkeit in einer historisch beispiellosen Wohlstandsentwicklung in einer jungen Demokratie einerseits mit sukzessivem Ausbau des Systems sozialer Leistungen, eingebunden in eine Integration der Gewerkschaften ins Herrschaftssystem („Konzertierte Aktion, „formierte Gesellschaft“) und dem restaurativen, die NS-Vergangenheit erfolgreich verdrängenden Klima der Republik andererseits, auch „motorisiertes Biedermeier“ genannt. Die 67er-Revolte war im Ausgangspunkt die von Studierenden und Azubis, welche gegen die selbstgerechte Elterngeneration und die bigotten Legitimationsmuster des Nach-Adenauer-Staats aufbegehrten.

Ähnlich war die Situation in Japan, allerdings mit einer noch viel weiter reichenden Korruption und Geschichtsblindheit der politökonomischen Eliten. Entsprechend militanter als in der BRD fand die Mobilisierung der studentischen und proletarischen Protestbewegungen dort statt. Die Zengakuren (gesprochen: Shingakua) führten seit den Frühsechzigern Straßenschlachten gegen die Polizei, die in der Härte der körperlichen Auseinandersetzungen die des Pariser Mai oder späterer Bauzaunkämpfe der westdeutschen Anti-AKW- und Startbahn-West-Bewegungen übertraf.


http://de.wikipedia.org/wiki/Zengakuren


Matrix all dieser Prozesse war ein beispielloser ökonomischer Aufschwung in den kapitalistischen Metropolen, der sich als 15 Jahre anhaltender Dauerboom in allen relevanten Bereichen der Wirtschaft charakterisieren lässt. Mit der Wende von den 1960ern zu den 1970ern erreichte dieser sein jähes Ende. Die weltweite Überakkumulation führte zu einem plötzlichen Wachstumsstopp, der erstmals 1969 eine kleine Wirtschaftskrise bewirkte. Dann kamen zwei andere Faktoren hinzu: Die Ausgaben der USA für den bald nicht mehr finanzierbaren Vietnamkrieg wurden durch eine Kürzung von Sozialprogrammen und eine Aufgabe der Golddeckung des Dollar sowie Anwerfen der Notenpresse beantwortet, die zu einer rasanten Talfahrt des Dollar führte. Im fixen Verrechungssystem von Bretton Woods war dieser die Weltleitwährung, alle Währungskurse wurden mit dem Dollar verrechnet, so dass es zu einer weltweiten Inflation kam. Die Loslösung der Kurse von der bisherigen Weltleitwährung (oder auch Weltleidwährung) bedeutete kurzfristig Entlastung für andere Währungen, langfristig aber freie Konvertibilität aller Währungen auf dem Weltfinanzmarkt, da Währungen nun wie Kapitalwerte auf dem Finanzmarkt gehandelt werden konnten. Die Basis des Neoliberalismus wurde Anfang der 1970er gesetzt.

Zweiter Faktor war die sogenannte Ölkrise. Nach dem Yom-Kippur/Ramadan/Oktober-Krieg

http://de.wikipedia.org/wiki/Jom-Kippur-Krieg


erhöhte die OPEC die Ölpreise mit der Folge, dass die Energie- und Rohstoffpreise weltweit eklatant anstiegen. In Folge war die kapitalistische Weltwirtschaft mit dem Problem der Stagflation konfrontiert, also gleichzeitiger Stagnation und Inflation. Die Auswirkungen waren katastrophal: In den Ländern des Trikont kam es zur „Schuldenkrise“ der „Dritten Welt“, Entwicklungskredite konnten nicht zurückgezahlt werden mit dem zwangsläufigen Ergebnis von Massenverarmung, frühere Emanzipationskämpfe kippten in Verteilungskämpfe um. In den Metropolen ging es auf höherem Niveau ähnlich zu, soziale Auseinandersetzungen wie die großen Streiks bei Fiat und Ford zielten nicht mehr wie bisher auf höhere Partizipation sondern auf Besitzsstandsverteidigung ab, freilich noch mit einer Militanz und Kompromisslosigkeit, die heute nicht mehr denkbar wäre.


Die Auswirkung auf das Bewusstsein der politischen Linken war fatal. Das Lebensgefühl der 67er-Bewegung war geprägt durch die Vorstellung, dass die Gegenwart in allen materiellen und sozialen Angelenheiten besser war als die Vergangenheit und die Zukunft noch besser würde, dies angesichts des als anachronistisch angesehenen Fortbestands kapitalistischer Herrschaft aber nicht ausreiche. „We want the world, and we want it now!“, wie die Doors es ausdrückten, oder „We want not just one Cake, we want the whole fucking Bakery“, wie es die Black Panthers formulierten.

Der 1968 produzierte Science-fiction-Film „2001-Odyssee im Weltraum“ brachte das damalige Bewusstsein zum Ausdruck: 2001 fliegen wir zu den Monden des Jupiter, dann kommt der Sprung zu den Sternen. Kennedys eingelöste Parole „In einem Jahrzehnt zum Mond“ hatte eine Hightech-Erwartungshaltung im wahrsten Wortsinn beflügelt, die zu Projekten wie dem Überschall-Passagierflugzeug „Concorde“ und der noch schnelleren, nie in Serie gebauten Boeing 2707 führte und die sehr hochgesteckten Zukunftserwartungen eines veränderungseilen Jahrzehnts abbildete.

In den 1970ern war stattdessen die Haltung dominierend, nicht mehr die Weltrevolution zu wollen, sondern Widerstand gegen Schweinereien von oben zu leisten. Der Begriff Widerstand wurde dann auch zum Schlüsselwort, egal, ob es gegen AKWs, Luxussanierung oder Berufsverbote ging. Entsprechend zum Paradigmenwechsel igelte sich die Linke mehr und mehr ein. In Westdeutschland traten an die Stelle einer antiautoritären, rotzfrechen und hedonistischen Bürgerschreck-Linken spießige K-Gruppen, die sich alle höchst ähnlich waren, einander aber bis aufs Messer bekämpften. Es ging nicht mehr um empirisch entwickelte Befreiungsperspektiven oder konkrete Fragen des Klassenkampfs, sondern um Interpretationen marxistisch-leninistischer Glaubenssätze, die mit theologischer Imbrunst vertreten wurden.

Parallel entwickelten sich linke Szenen, die an konkrete Alltagsfragen und überkommene Diskriminierungen anknüpften: Die Frauen- Schwulen- Anti AKW- und Häuserkampfbewegungen, die Spontis, die als Abgrenzung zu den K-Gruppen linke Politik projektbezogen sahen und zunehmend kampagnebezogen, aber bis auf allgemeine Sympathie für den Anarchismus theorielos waren.

>>wird fortgesetzt>>

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Einmal lokal betrachtet...
Persönliche Ambitionen und große wohlfeile Überschriften sind wichtiger als die die realen Probleme vor Ort. Man demonstriert lieber vor Bundeswehrkasernen, als vor einer Kreisverwaltung, die permanent an gesetzeswidrigen ALG2-Bescheiden festhält. Was im Himmel gefüttert wird, kann nicht auf Erden gemolken werden.

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Man sollte sich auch nicht beirren lassen und anekdotische Erzählungen gering schätzen. Ich lese das sehr gerne, auch weil es für mich Nachrichten aus einer fremden Welt sind, die etwas Symptomatisches über den Zustand der Linken (zu bestimmten Zeiten in einem Teil der Welt) insgesamt vorstellen. Das Unkenntlichmachen von Widersprüchen ist kein sinnvolles politisches Programm.
Was mir nicht klar geworden ist: Die Auswirkung auf das Bewusstsein der politischen Linken war fatal. Wer ist mit ‚politischer Linke’ gemeint? Und wie denken Sie den Zusammenhang zwischen den oben skizzierten politischen Entwicklungen und dem Bewusstsein der Linken?

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Wird vielleicht klarer, wenn ich weitermache. Ist ja noch nicht fertig, der Beitrag. Ist aber in der von Dir aufgeworfenen Fragestellung eine ungeheuer komplexe Angelegenheit. Ich kann gar nicht genau sagen, wie sich der Zusammenhang aus globalökonomischer Entwicklung und Bewusstsein der Linken ergibt, darüber können noch Dissertationen geschrieben werden. Allerdings konstatiere ich, dass es ihn gibt und dass sich ganz allgemein globalökonomische und politische Gesamtverhältnisse auf Mentalitäten und Verhaltensweisen von Milieus und Einzelpersonen bis ins individuelle Empfinden auswirken.

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Nur als Nachfrage...
"Die Zengakuren (gesprochen: Shingakua) führten seit den Frühsechzigern Straßenschlachten gegen die Polizei, die in der Härte der körperlichen Auseinandersetzungen die des Pariser Mai oder späterer Bauzaunkämpfe der westdeutschen Anti-AKW- und Startbahn-West-Bewegungen übertraf."

Soll Shingakua die chinesische Lesung von 全学連 sein und woher hast du die? Die Japaner sprechen das nämlich einfach "zengakuren" aus, mit weichem Z.

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Diese Aussprache habe ich aus einer NDR-Sendung aus den Achtzigern, wenn das nicht stimmt korrigiere ich es gerne. Kann weder Hiragana noch Katakana lesen und spreche auch kein Japanisch.

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Könnte Ryu-Kyu-Aussprache sein, nach meinem Dafürhalten.

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OderAussprache eines studierten Sinologen ohne Japanischkenntnisse, was ja auf viele Fernostkorrespondenten zutrifft.

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Verwechselst du nicht vielleicht etwas? Die Japanische Rote Armee Fraktion hieß Sekigun-Ha, das klingt sehr ähnlich wie Dein Shingakua.

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Ich seh das nun so:
Die Linke versucht von der Intention her ein rationales Projekt: Der Abschluß der Aufklärung: Eine Welt, in der Gleichheit und Brüderlichkeit realisiert sind. Die Welt ist aber nicht rational. Unser Verhalten wird mehr von unserer säbelzahntitrigen und mammutigen Vergangenheit bestimmt als von unseren gewaltigen Fähigkeit zur Rationalität.
Nun tragen wir also 220 Jahre nach der französischen Revolution Kleidung, die in Bangladesch von Sklavinnen genäht wird.
Letzte Woche in einer für uns beide persönlichen Sache eine Verhandlung mit einem recht einkommensstarken Shilenen geführt. Nach einer Kette emotionaler Ausraster beiderseits gelang es uns, das ganze in konstruktives Gewässer zu führen und abzuschliessen. Und zwar letztlich auf der Basis, dass der andere in allen opportunistisch seinen Vorteil suchen wird und durch einen Leviathan namens Gesetze beschränkt ist. Das funktioniert.
Weite Teile der Linken befinden sich in einem katastrophalen Zustand. Selbstbezogene Argumentationsgebilde, in der faktische Lügen akzeptiert werden. Und der Weg zur Weltrevolution hat mehr Spiel-Level als Super Mario.

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Ich würde Deiner Charakterisierung der frühen 70er, na ja, nicht widersprechen, sie aber zumindest kritisch hinterfragen. Klar, so ein kurzer historischer Abriß muß verkürzen, dennoch, die klare Trennung zwischen K-Gruppen einerseits und mehr oder minder theorielosen Bewegungen stimmt so, glaube ich nicht. Ich habe das früher auch so schön zweigeteilt, aber letztlich glaube ich, daß gerade die erste Hälfte der 70er Jahre vor allem ein ungeheures Experimentierfeld war.

Die spontane Ausbruch in der zweiten Hälfte der 60er Jahre war einerseits - da würde ich Dir uneingeschränkt zustimmen - eine Mixtur aus weitgehend unhinterfragtem Fortschrittsglauben einerseits und der Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Das theoretische und praktische Problem war aber, wie dieses "ganz Andere" realisiert werden sollte. Und um dies zu klären, wurde die ganze Geschichte aufständischer Bewegungen bis zurück zu den Bauernkriegen rekapituliert und versucht, aus den Versatzstücken Anleitungen für eine systemüberwindende Praxis zu destillieren. Die frühen siebziger Jahre stellen sich mir immer mehr als ein gigantisches Treibhaus voller praktischer Ideen dar, die von einer heute unvorstellbaren Anzahl von Menschen konkret umgesetzt wurden.

Das leninistische Modell der K-Gruppen war da nur ein möglicher Ansatz (der allerdings mit dem historischen Pfund der Oktoberrevolution wuchern konnte). Wichtiger scheint mir heute aber, bei allen Differenzen der unterschiedlichsten Fraktionen, daß der Versuch zur Veränderung der Gesellschaft in den eigenen Alltag eingebunden wurde. Man wollte - egal ob Sponti, K-Grüppler oder Emanze - einfach nicht mehr so leben, wie es einem die gesellschaftlichen Konventionen vorschrieben.

Mit anderen Worten: Es ging darum, das Neue, von dem man nur sehr diffus wußte, was es sein sollte, zu leben. Das gilt, glaube ich, selbst für die K-Grüppler (ihr jakobinischer Asketismus war auch eine Art, sich dem kapitalistischen Alltag zu verweigern). Der Fokus war in dem 70er Jahren immer noch ein positiver: Man wollte auf eine neue, aufregende und befriedigende Art und Weise sein Leben führen.

Insofern war - jetzt lehne ich mich einmal ziemlich aus dem Fenster - selbst der Fokus der frühen Frauen- oder Schwulenbewegung positiv ausgerichtet: Es ging nicht so sehr gegen etwas - die Diskriminierung - sondern um den klar bestimmten Anspruch, sein Leben selbstbestimmt führen zu können, auch als Frau oder Schwuler. Das schloß zwar den Kampf gegen Diskriminierung zwangsläufig mit ein, doch war das Ziel ein selbstbestimmtes Leben, nicht die Gleichstellung mit allen anderen. Die Einforderung von Rechten wurde damals noch weitgehend taktisch verstanden. Eine Quote in den Vorstandsetagen der DAX-Konzerne hätte damals niemand gefordert.

Erst Reagan, Thatcher und Kohl (in Frankreich perverserweise Mitterand) gelang es, diese Verweigerung von "Normalität" eines nicht unbedeutenden Segments der Gesellschaft einzudämmen. Wir haben, als intellektuelle Autonome der 80er Jahre, diesen Kipppunkt miterlebt. Ich finde Deine Feststellung, daß es von einem bestimmten Zeitpunkt an nur noch um Widerstand ging, nicht mehr um ein konkretes Wollen eines anderen Lebens, sehr treffend. Aber ich denke, der Zeitpunkt ist später anzusetzen, mit dem backlash der Reagan-Ära.

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Das war ja auch nur der erste Abschnitt eines viel längeren Beitrags, der den Hintergrund meiner Darstellungen der unangenehmen Seiten linker Szenen, meine PC-Kritik usw. erläutern soll, weil das offensichtlich für Leute, die da nicht selber dringesteckt haben aus dem sonst so von mir Gebloggten nicht klar wird. Ich hatte mir erst überlegt, den Beitrag einfach weiterzuschreiben, das wird dann aber wohl doch zu unübersichtlich. Jedenfalls geht es dieses Wochenende weiter:


@Umkippen von Revolutionwollen in Widerstand: Das war ein schleichender Prozess, der etwa damit, dass es der RAF schon Mitte der Siebziger Jahre primär um das Rausholen ihrer Gefangenen, später um Zusammenlegung ging oder dass Anti-AKW-Kämpfe sich um dieVerhinderung konkreter Kraftwerke drehten auf jeden Fall schon eingeleitet war. In der großen Breite griff dies vollends in der Tat nach Thatcher Reagan Kohl.

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Ich denke, mit diesem Umkippen eines Revolutionswillens, der den eigenen Alltag mit einschloß, in bloßen Widerstand, hast Du klar den Punkt formuliert, um den es geht. Wenn und wo genau dieses Umkippen anzusiedeln ist, läßt sich wohl in der Tat schwer bestimmen.

Wenn wir beispielsweise die Anti-AKW-Bewegung nehmen: Wyhl war viel mehr als bloß der Versuch, ein AKW zu verhindern. Das war nur der Anlaß, aus dem aber deutlich mehr erwuchs. Auf den Dörfern am Kaiserstuhl ist bis heute noch nachzuvollziehen, wie dieser Kampf den Alltag der Bevölkerung verändert hat. Ich kenne die norddeutsche Situation nicht so besonders gut, aber ich vermute mal, daß die martialischen Auseinandersetzungen um Brokdorf viel weniger Spuren hinterlassen haben...

Meine Intention ist auch weniger, Dir zu widersprechen, als vielmehr entlang Deines Gedankengangs laut vor mich hinzudenken.

Viel von der Sterilität des "Widerstandes" ist der Tatsache zu verdanken, daß es nicht mehr darum ging, im Hier und Jetzt etwas von einer zukünftigen, besseren, leidenschaftlicheren Gesellschaft vorwegzunehmen. Auf intellektueller Ebene führte das dann dazu, daß der radikale Antikapitalismus in Gedanken problemlos einherging mit einer resignierten Akzeptanz des eigenen alltäglichen Lebens, ja noch mehr, je mehr man sich in dieses alltägliche Leben einfügte, um so "radikaler" wurde die Kritik. Um eine Genossin von mir zu zitieren, die anhand eines konkreten Beispiels meinte: "Groß die antideutsche Klappe aufreißen, aber im eigenen Betrieb keinen Betriebsrat auf die Reihe kriegen."

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die Demos in Brokdorf wurden im wesentlichen von HamburgerInnen getragen und organisiert

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ist eigentlich schon wissenschaftlich untersucht, wie weit der film viva maria! von louis malle die vorstellungen der antiautoritären bewegung über revolution und revolutionären beienflusst hat?

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Ich glaube nicht. Aber das wäre in der Tat ein interessantes Projekt, denn tatsächlich stolpert man an allen Ecken und Enden über diesen Film, wenn man sich in die Bewegungsgeschichte der End-60er vertieft. Hinzunehmen sollte man auch noch die Italowestern (wobei, da könnte Seeßlen schon irgendwas dazu geschrieben haben).

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zumindest für westeuropa und die us of a scheinen mir zwei dinge wesentlich: die geburtenstarken jahrgänge der frühen fünfziger und der über mehr als ein jahrzehnt andauernde boom der nachkriegszeit.

es waren studenten, die gegen die alten waren (denn das war eigentlich das, was der kern der 68er-bewegung war, es gab da auch einmal ein harakiri-titelblatt: que veulent les jeunes? - bouffer ler vieux).

das mit den studenten hatte die bewandtnis, dass das einerseits leute waren, die sich im vergleich zu lohnabhängigen ihre zeit ziemlich autonom einteilen konnten. gleichzeitig fehlte das organisatorisch disziplinierende des grossen industriebetriebs, der damals den höhepunkt der arbeitsorganisation dastellte. und der auch wesentliche voraussetzung für die gewerkschaftliche massenorganisation war.
aus diesem grund waren das unterschiiedliche welten, der student kannte den arbeiter nicht, da er mit diesen ausser in der volksschule und bei der bundeswehr nicht in kontakt kam. für den arbeiter war der student der künftige vorgesetzte, die künftige respektsperson, das herrle, wei der schwabe sagte.

(oh, noch ein punkt, der damals anders war. für die angestellten der dienstleistungsgesellschaft ist typisch, dass sie wie unternehmer denken, in idealfall also dem personaler bei ihrer entlassung für seine korrekte entscheidung danken).

der anhaltende boom der nachkriegszeit
- das deutsche wirtschaftswunder war zu guten teilen dem korea-krieg und der damit einhergehenden entscheidung der us-wirtschaft, sich auf die profitable rüstungsindustrie (bei rüstungsaufträgen fällt das risiko der bewährung am konkurrirenden markt weg, die renditen sind möglicherweis geringer, aber dafür sicher, genau das, was der organisation man des grossbetriebs will) zu werfen, geschuldet-
führte zur enstellung, dass es immer so weiter gehen müsse. absolventen der universität hatten bis in die siebziger jahre keine probleme, eine entsprechend vergütete stelle zu besetzen. übrigens was dies auch verdeienst der grossen koalition und der späteren kleinen koalition, den öffenlichen dienst in richtung daseinsvorsorge aufzubauen und auch, die fachhochschulen neu aufzustellen, aus dem nichts zu stampfen. siehe auch die neugründung von universitäten, z. b. die legendäre uni bottrop, zu zeiten ihres aufbaus grossbaustelle.

letztlich veränderte sich nicht nur die linke sondern auch ihr gegenpol. auch das kapital erweis sich als lernfähig, lernte zu argumentieren, anstatt zu befehlen. in dem punkt kann erwidert werden, dass das human engineering keine folge, sondern eine eigene entwicklung der kennedy-ära war, wiederum der jungen, die es anders machen wollten, als die alten vor ihnen.

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@"Ich kenne die norddeutsche Situation nicht so besonders gut, aber ich vermute mal, daß die martialischen Auseinandersetzungen um Brokdorf viel weniger Spuren hinterlassen haben..." Da nicht, aber im Wendland. Dort gibt es Gemeinden mit seit den frühen Achtzigern stabil 60% grünen Wählerstimmen, und Bauern, die mit dem Traktor Polizeifahrzeuge angreifen gelten als Volkshelden.


Btw. dass Wyhl den Anfang vom Ende Filbingers einleitete ist mir klar.

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filbinger war eine person, das system damals hiess cdu. das system cdu baden-württemberg nahm dem der csu in bayern nichts. die ära filbinger wurde von der ära späth abgelöst, die das system cdu noch verfeinerte.

eigentlich lief das zu der zeit in ba-wü so, dass das geld in die grosstädte floss, stuttgart vor allem, um dort die kommunale spd-mehrheit zu brechen. fürs flache land brauchte man wenig zu tun, die katholischen bauern wählten sowieso cdu.

wyhl war der wendepunkt*). zum ersten mal merkte man auf dem land, dass die interessen der cdu nicht die eigenen waren.
es brauchte noch dreissig jahre, bis die cdu im ländle abgesägt wurde.

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*) es wurden zu der zeit (mitte siebziger) auch noch andere akw in ba.-wü gebaut, philippsburg ging etwa zur gleichen zeit ohne grosse proteste durch, ebenso neckarwestheim.

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warum die radikale Linke trotz vorteilhafter objektiver Bedingungen so schwach ist: sicherlich auch, weil diese viel zu viel auf (durchaus gut besuchte Events) und ästhetisch gut gestaltete Webseiten setzt, anstelle sich den Mühen der Ebene der alltäglichen Basisarbeit in Stadtteil, Betrieb, Schule, Uni, etc. zu widmen: vor 25 Jahren konnte mensch im Alltag noch ständig ber radikale Linke vor Ort stolpern, die auf dem Wochenmarkt einen Infotisch machten, Flugis vor der Schule verteilten, etc. und somit auch ansprechbar waren, es gab in meinem Stadtteil und umzu in HH eine ganze Reihe von ansprechbaren und sichtbaren Gruppen, wo mensch zumindestens mit den GenossInnen reden konnte ... so ab 1988 brach das alles nach und nach weg

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