Samstag, 6. Juni 2009
Globalisierung vor 2700 Jahren oder vom Wert der sozialen Kompetenz
Die neue Ausgabe der "Epoc" hat die Phönizier zum Schwerpunktthema. Faszinierend, wie hier die Herausbildung eines Handelsimperiums geschildert wird, das in ältesten biblischen Zeiten von Nigeria bis Russland und von der spanischen Atlantikküste bis in den Sudan und den persischen Golf reichte. Interessant vor allem aber auch die Tatsache, dass dieses seine Blüte nicht dem händlerischen Egoismus, sondern im Gegenteil Großzügigkeit, Openmindedness und einer gewissen Selbstlosigkeit verdankte. So schreibt Erich Kistler, ein bedeutender Archäologe, der einige äußerst progressive Ansätze in sein Fach eingebracht hat und so etwas wie eine Soziologie der Frühgeschichte betreibt: "Die Migration in den Westen erfolgte in Wirklichkeit... aus mehreren ganz unterschiedlichen Motiven - um die Anhäufung von Gewinn ging es dabei aber nicht! Vielmehr illustriert die Geschenkpolitik des tyrischen Königshauses, dass im Zentrum allen Bestrebens in der Mittelmeerwelt des frühen 1. Jahrtausends v. Chr. - lange bevor es Geld als Zahlungsmittel gab - vielmehr die Mehrung des SOZIALEN Kapitals stand: Durch kluges Beschenken sicherten sich die Phönizier politische Vorteile und gesellschaftliche Exklusivrechte - was letztlich natürlich auch den wirtschaftlichen Wohlstand brachte."


Nicht schnödes Gewinnstreben stand also im Mittelpunkt, sondern Reichtum ergab sich irgendwann aus sozialer Interaktion - dabei waren die Phönizier diejenigen, auf die der Begriff Mammon zurückgeht. Ein schöner Artikel, trotzdem bleiben für mich Fragen offen bzw. erscheinen einige Dinge ungereimt. Es wird bestritten, dass die Phönizier Cornwall erreicht hätten. Was war mit der Reise des Himilkon? Es wird gesagt, die Phönizier hätten das erste Fernhandelsimperium der Geschichte errichtet. Was war mit ihren Vorläufern im Mittelmeer, den Mykener/Achäern und Minoern? Auch wenn sie Mythos ist, die Odyssee spiegelt auf jeden Fall den geographischen Kenntnisstand ihrer Zeit wieder und liest sich nicht gerade wie der Bericht einer Ägäis-Kreuzfahrt.

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immerhin fand sich im bayerischen Bernstorf - http://www.kranzberg.de/index.php5?index=5&page=geschichte_kultur/bernstorf.html&width=1227&height=861&dlink= - ein Fundstück mit mykenischen Linear B-Zeichen, der Bernsteinhandel hatte schon vor 4000 Mittelmeer- und Ostseeraum verbunden

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Danke für diesen Link, sehr faszinierend!

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Die Funde von Bernstorf sind zwar faszinierend, aber eben wegen ihrer Einzigartigkeit auch schwer zu interpretieren. (Die Echtheit vorausgesetzt - zuerst mal schreien diese Sachen geradezu "Fälschung", aber es scheint durchaus gute Argumente für die Echtheit zu geben, also sollte man sie wohl als echt akzeptieren.) Es gibt zwar noch eine Handvoll mitteleuropäischer Funde, die nur als mykenische Importe oder direkte Nachahmungen interpretiert werden können, aber auch da ist es schwierig zu sagen, was eigentlich dahinter steht.

Und der Bernsteinhandel - es ist zwar klar, dass der minoische und mykenische Bernstein von der Ost- oder Nordsee stammt, aber a) sind die Wege und Zahl der Zwischenstationen unbekannt* und b) sollte man Menge und Bedeutung nicht überschätzen - die Gesamtmenge des in der Ägäis gefundenen bronzezeitlichen Bernsteins (die natürlich nur ein unbekannter Bruchteil der einstmaligen ist) könnte ein Mensch problemlos tragen.

Bedeutsamer war in jedem Fall der Kupfer- und Zinnhandel; auch die Mykener dürften ihr Zinn aus Cornwall (vielleicht auch aus Zentralasien) bezogen haben - wie und auf welchen Wegen auch immer.

Auf jeden Fall ist die Rede vom "ersten Fernhandelsimperium der Geschichte" für die Phönizier fragwürdig (da brauchte man wohl unbedingt einen Superlativ ;)); gerade der spätbronzezeitliche Mittelmeerhandel war wohl recht umfassend, der Hinweis auf Minoer und Mykener also berechtigt. (Als Illustration: http://de.wikipedia.org/wiki/Schiff_von_Uluburun)

*Es gibt da auch interessante Beispiele aus Neuguinea, dem Lieblingsland der Ethnologen, wo Leute in irgendwelchen Hochgebirgstälern Schmuck aus Meeresmuscheln tragen, auch wenn sie keinerlei Vorstellungen vom Meer oder der Herkunft dieser Muscheln haben, weil die über x Zwischenstationen weitergetauscht werden. Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Mykener genauere Vorstellungen über Mitteleuropa hatten als die klassischen Griechen, und die waren auch sehr dürftig.

So, wollte auch mal klugscheißen :-))

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ist schon klar, dass mensch derartige Funde und Quellen eher vorsichtig deuten sollte, Theorien bspw. welche Stonehenge auf Missionare des ägyptischen Sonnenkultes zurückführen u.ä. sind zumindest in der Fachwelt heutzutage glücklicherweise diskreditiert

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"Nicht schnödes Gewinnstreben stand also im Mittelpunkt, sondern Reichtum ergab sich irgendwann aus sozialer Interaktion"

Das klingt aber nun auch wieder sehr naiv, so als ob die einfach mit allen gut Freund sein wollten und sich daraus ganz unbeabsichtigt Wohlstand für alle ergab... Mag ja sein, dass sich da vieles nicht auf harte Kalkulationen runterbrechen lässt, aber uneigennützig war da gewiss nichts. Wer Gastgeschenke machte, erwartete entsprechendes auch von der Gegenseite, und gute Beziehungen waren Voraussetzung, um überhaupt Handel treiben zu können. Vielleicht waren auch noch andere Interessen im Spiel, etwa Land zum Besiedeln zu bekommen (Kolonisation), auch da brauchte man gute Beziehungen zu den neuen Nachbarn.

Ob die Piraterie, für die die Phönizier bei den Griechen (die da kein Stück besser waren) berüchtigt waren, auch ohne "schnödes Gewinnstreben" betrieben wurde? ;)

Interessant ist aber die Frage, was eigentlich Reichtum in vormonetären Gesellschaften bedeutete.

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@"so als ob die einfach mit allen gut Freund sein wollten und sich daraus ganz unbeabsichtigt Wohlstand für alle ergab." ---- genau das nicht, sondern eine sehr durchdachte, langfristig geplante und geschickte Diplomatie. Die römische und griechische Propaganda sah die Phönizier hingegen als geizige Halsabschneider an, und diese Sichtweise bestimmte bis fast heute die Wahrnehmung der Phönizier durch die Nachwelt.

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Piraterie wurde "nebenberuflich" von allen seefahrenden Gesellschaften der frühen Antike betrieben. Unter Reichtum verstand man wohl in erster Linie den Zugriff auf Rohstoffe, den Besitz von Sklaven und den Zugang zu Luxusgütern wie Prunkgeschirr, Schmuck, Elfenbein, Myrrhe und Weihrauch.

"Gleich hinter Ilion trieb mich der wind zur Stadt der Kikonen, Ismaros hin. Da würgte ich die männer und verbrannte die Häuser. Die jungen Weiber und die Schätze aber teilten wir alle unter uns auf, dass keiner leer von der Beute mir ausging."

@"Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Mykener genauere Vorstellungen über Mitteleuropa hatten als die klassischen Griechen, und die waren auch sehr dürftig." ---- Na ja, da ist ja Einiges in der Odyssee durchaus ablesbar. Kirke, Skylla und Charybdis, das Land der Phäaken, das dürfte alles im Seegebiet zwischen Djerba, Kerkennah, den Liparischen Inseln und Malta angesiedelt sein, Ithaka liegt irgendwo bei Korfu, die "Irrfahrten" beschreiben also die Ägäis, die südlichste Adria und das zentrale Mittelmeer mit der Großen und Kleinen Syrte. Die Beschreibung der Gefilde nahe dem Styx deutet darauf hin, dass das subarktische Nordeuropa zumindest aus Erzählungen bekannt gewesen sein dürfte. Und die klassischen Griechen kannten immerhin die Küsten des Mittemeers und des Schwarzen Meers ziemlich exakt, weiterhin den alten Orient von Ägypten bis Persien und auch noch, wenn auch nebulös, Skythien, d.h. Südrussland bis Kasachstan, Turkmenistan, Transoxanien und schließlich Indien. Donaufwärts fuhren griechische Händler mindestens bis Rostow, um mit den Sarmaten, donauaufwärts bis mindestens zum eisernen Tor, um mit den Thrakern und Donaukelten Handel zu betreiben. Sie kannten also Westasien und Nordafrika und das südöstlichste Europa recht gut, im Nordwesten endete die Welt aber jenseits des Rhonebeckens. Immerhin fuhr Colaios von Samos aber nach Cornwall, um Zinn zu kaufen.

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Ok, sind wohl eher zwei Seiten einer Medaille. Welcher Kunde sieht Händler nicht als "geizige Halsabschneider" an? Dass die Händler sich selber nicht so sehen, ist klar.

Wahrscheinlich nervt mich auch ein bisschen die Masche solcher Darstellungen, früher (d.h. in den früher bekannten Quellen) verteufelte Völker / Gruppen (Kelten, Wikinger, Hunnen, Mongolen, Araber, Türken...) in anderem Licht zu sehen und festzustellen: Die Kelten waren tolle Kunsthandwerker, die Wikinger weltoffene Händler, die Mongolen religiös bemerkenswert tolerant... kurz: Die waren ja gar nicht abgrundtief böse! Nicht dass das falsch wäre, aber man sagt sich dann irgendwann auch: Ach was.

Andererseits: Es gibt schlimmeres.

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und Diplomatie (oder besser Machtpolitik) gab es auch damals schon: http://de.wikipedia.org/wiki/Amarna-Briefe

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Nicht zu vergessen die Verbindung aus Winkelzugdiplomatie und Propaganda (Niederlage bei Kadesch zu Hause zum Sieg erklärt) von Ramses dem Großen.

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igendwie dazu passend ... da scheint es einen Autor zu geben, der postuliert, dass es schon vor 4500 Jahren in Mesopotamien und Syrien Ansätze von "Demokratie" gegeben habe: http://www.guardian.co.uk/books/2009/jun/07/life-death-democracy-john-keane ... will mal sehen, ob ich irgendwo ein Blick in das Buch werfen kann

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Das ist in der Tat höchst interessant.

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