Dienstag, 25. Juni 2013
Geschlossenlichkeit oder Öffentlichkeit die keine ist
oder auch Strukturwandel der Öffentlichkeit in der Bloggosphäre - der Alte Bolschewik schreibt auf Shifting Reality hochspannendes zu neueren Entwicklungen in der Blogwelt.

http://shiftingreality.wordpress.com/2013/06/21/offentlichkeit-und-filterblasen-3/

Hervorgehoben das hier, da zentrale Conclusio:

"Aber in Wirklichkeit geht es auch gar nicht um Politik. Diese „Strategie“ verrät selbst, welcher Vorstellungswelt und vor allem welcher Praxis dieser Diskurs entspringt: Sie hat keinen Ort in der politischen Sphäre, der Sphäre gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Vielmehr ist sie eine säkulare Ableitung aus Praktiken radikal protestantischer Sekten. Der Einzelne soll sich als Sünder erkennen, aufstehen, vor die Gemeinde treten und seine Sünden bekennen.

Und diese Sünden sind nicht einmal unbedingt individuell: Selbst ein wohlgefälliges Leben ist keine Garantie für Erlösung, denn letztlich ist jeder durch die Erbsünde gezeichnet und Erlösung gibt es nicht durch eigenes Tun, sondern nur durch die Gnade Gottes. Dem einzelnen bleibt nichts anderes übrig, als sich hoffnungsvoll vor die Gemeinde zu stellen und zu bekennen: „Ich als weißer, heterosexueller Mann gelobe im vollen Bewußtsein der Privilegien, die mir die Mehrheitskultur verliehen hat, vom sündigen Tun meiner sexistischen und kolonialistischen Vorfahren abzulassen und mir jeden Gedanken über Differenzen zwischen unterschiedlichen Menschen, seien diese nun biologischer oder kultureller Natur, zu verbieten.“

Damit wird jeder Begriff von politischer Öffentlichkeit zerstört. Und wo die Öffentlichkeit nicht grundsätzlich gemieden wird, die Gemeinde selbst in die Öffentlichkeit tritt, geht es nicht um Debatte, sondern um Missionierung. Diskussion ist nicht erwünscht, weil überflüssig, denn den Erleuchteten* sind die eigentlichen Tatbestände schließlich klar. Tatsächlich ist es ganz amüsant zu beobachten, wie die Missionare* immer wieder darauf hinweisen, der erste Schritt von der Skepsis zur Erleuchtung bestünde darin, zu schweigen und zuzuhören; und wer trotz dieser Ermahnungen Fragen stellt, wird darauf hingewiesen, er möge doch bitte die Schriften der Kirchenväter und -mütter studieren, man selbst sei es müde, immer wieder die selben Erklärungen abzugeben."

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Also, diese religiöse Komponente würde ich nicht so stark sehen, eher eine Spätform linker Irrtümer, die in den maoistischen Kritik-und-Selbstkritik-Ritualen wurzelt. Dabei ist es allerdings ein Hintertreppenwitz, dass die Abgrenzung und das Überwinden von genau dem eine der Formierungsbedingungen des Poststrukturalismus in Frankreich war! Also, Foucault und Co. und diese Mentalität, das geht gar nicht zusammen.

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Da stimme ich Dir einerseits zu. Um die K-Gruppen-Tradition, die hier hineinspielt, wird es im nächsten Beitrag der Serie gehen. Insgesamt ist die Genealogie des neusten Sektenunwesens jedoch komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Ich hangle mich da gerade erst mal Schritt für Schritt weiter. Aber der US-Import von Genderstudies und Postkolonialstudies bringt, wie ich denke, schon auch diesen christlich-fundamentalistischen Einschlag mit herein. Eine lineare Fortschreibung von den K-Gruppen bis zur Gegenwart ist schwierig, denn das Ganze schlägt da zwischendrin einige Purzelbäume, inklusive der von Dir angemerkten Ironie, daß man sich vordergründig auf Poststrukturalismus und Dekonstruktivisumus beruft, de facto aber eher in der Tradition des Maoismus steht.

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Das Büßerhemd anziehen, Moral predigen, Bilderstürmerei betreiben, zu versuchen, sich in Radikalität einander zu überbieten – das ist alles nicht so neu.
Wenn man in den Geschichtsbüchern blättert, findet man ähnliche Phänomene schon bei den lutherischen und calvinistischen Sekten, früher bei den Savonarola-Anhängern oder bei Katharern. Fand ich als Geschichtsinteressierter immer sehr interessant darüber zu lesen, bis mir auffiel, dass ich das ja alles selber aus den eigenen Politik-Biotopen her kenne. :)

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Das Witzige ist dabei, dass jemand, er stets meinte, meine Bezugnahme auf solche Praktiken sei nicht zielführend, weil es sich um gesellschaftlich völlig irrelevante Subkulturen handeln würde inzwischen zum entschiedenen Parteigänger einer noch viel extremeren derartigen Richtung geworden ist.

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Man bist Du uncoo l! Wir missionieren hier nicht, wir führen Selbstgespräche !
Wobei das mit dem Protestantismus in Deutschland so eine Sache ist. Jener Protestantismus/(rep. Calvinismus), in der Form, wie ihn Weber zu rekonstruieren suchte, ist in meiner Wahrnehmung einer der Lieblingsdiagnosen von sich gern (kapitalistisch)"kritisch" sehenden Kommentatoren. Kapitalismuskritik in dieser Form gilt offenbar immer noch als eine, wenn nicht Prinzgemahl-, dann Königsdisziplin hierzulande.

Wobei eben jener Babtismus/Calvinismus/Protestantismus bei uns sich tatsächlich immer noch als eine sektenartige Angelegenheit darbietet. (Leute aus Schwaben in Berlin.) Ich komme selber aus einer pietistischen Familie (o.k., noch mal was anderes - aber das Phänomen ist halt vll. doch heterogener, als gern angenommen wird), aber mit Arbeitsmoral da ziemlich Fehlanzeige. Kenne jedoch die Sache mit dem Zwang, sich schuldig zu bekennen (siehe auch Anton Reiser). Wobei bei diesem Eindruck sicherlich eine Rolle spielt, dass der Kapitalismus, inzwischen jedenfalls, die "protestantische Arbeitsmoral" nicht mehr nötig hat. Ich fand da Weber zwar plausibel. Aber (deutscher) Protestantismus scheint mir doch als ein weniger geeigneter Kandidat für Diagnosen webernscher Prägung als eben der eher nichtdeutsche Calvinismus (oder Babtismus), oder wie bei den Methodisten - oder eben wie im Deismus, der als einflussreich für die Gründungsväter der USA gilt.

Richtig plastisch plastisch ist bei Weber eigentlich nur das Beispiel von (ich glaube, es war) Jeffersen, der, im Amt, seinen Chauffeur tatsächlich vor Woolworth (oder so) anhalten ließ, damit er sich selbst ein paar neue Socken kaufen konnte, weil, so geht die Anekdote, die alten bereits deutlich durchlöchert waren. (siehe Down And Out in Paris und London.)

Für die hoch ausgeprägte Arbeitsmoral spricht bei diesen Protagonisten allerdings wieder, dass die ersten amerikanischen Präsidenten alle hochverschuldet aus dem Amt schieden, denn sie musste die Kosten fürs "Weiße Haus" selber tragen. Eine Biographie dazugenommen (ich glaube, es war wieder Jefferson), ergibt sich eben das Bild einer "protestantischen" Arbeitsmoral, nur kann man hier weniger von Protestantismus sprechen, sondern eher von Deismus.

Nehmen wir bei Weber mal seine Charakterisierung des Wirschaftens in etwa China, dann ließt sich das weniger wie eine soziologische Analyse, bei allen Gegensätzen diesbetreffs zwischen den Kontinenten, sondern wie eine kolonialistisch-rassistische Schilderung in 'Robinson Crusoe'.

Den "Protestantismus" (i.S. Webers) nun immer zum Sündenbock zu machen, scheint nun gerade in Deutschland große Mode zu sein, im Ursprungsland desselben, in welchem nun aber die Entwicklung des Kapitalismus deutlich hinter der in England, jenen Ländern, wo Calvin wirkte, und Amerika hinterherhinkte:

Dabei fand der Sündenfall des Kapitalismus gar nicht zuerst in Deutschland statt! Mit anderen Worten: genau dasselbe Paradigma wie das unter lautem Ächzen und Stöhnen Beklagte! Ohne sich selber schuldlos schuldig zu bekennen, geht gar nichts!

Und ohne "Protestantismus" erst recht nichts. Das geht sogar soweit, dass im "Spiegelfechter" ein angeblich aufklärerischer Artikel über die Salafisten eben diese Muster wieder einmal auftauchten (paradoxe Selbstrechtfertigungslehre des Erfolgreichen), zur Verdeutlichung wurde dann sogar "die goldene Rolex" angeführt - genau das lustfeindliche Motiv, das seinerseits eben von demselben verlogenen Moralismus, um Baghwan/Osho zu diskreditieren, unausrottbar etabliert worden ist.

Tatsächlich haben wir aber in den angelsächsischen Ländern des klassischen Kapitalismus eine ganz andere Kultur der "weltanschaulichen" Auseinandersetzung, sofern dies Religiöse Richtungen betrifft, als im hier monokulturellen Deutschland. In Schottland sind es etwa erst relativ junge Entwicklungen, dass sich eine Pluralität von konfessionell ausgerichteten Universitäten bzw. überkonfessionellen entwickelt.

Wir haben eben in Amerika nicht nur fundamentalistische - und eben - neuere Entwicklungen (neumodischen Deismus, "intelligent design" usw.) sondern eine viel ältere "scholastische" (guckst du J. L. Mackie) Tradition, typisch für angelsächsische Länder, noch eine Art Aristotelismus, PhilosophInnen, die geradezu als Peripatetiker sich zu verstehen scheinen (Martha Nussbaum mit ihrer essenzialistischer Moral).

D.h. auf der anderen Seites des Teiches scheint es eine ganz normale Sache zu sein, dass unterschiedliche "weltanschauliche" Richtungen, soziale Bewegungen diskursiv miteinander in Wettstreit treten (unterschiedliche Arten des Anarchismus oder Libertarismus, Kommunitarismus usw.), Empirismus oder Peripatetik ("..., peripatetic and chic!" - A Chorus Line) auch als "Weltanschauungen" auftrete dürfen, andererseits aber neue Intellektuelle Bewegungen (Dekonstruktivismus, Cultural Studies, ...) natürlich ihre Heimat in sozialen Gruppierungen usw. finden, dort ihre je eigene Entwicklung nehmen, vielleicht Moden unterliegen. Ich erinnere mich noch so ziemlich, wie z.B. plötzlich Freund irgend wie "out" war.

Bezeichnend hier für ist imho, dass Leute wie Derrida, Niezsche, Bewegungen wie der Dekonstruktivismus - vielleicht unter dem Einfluss der Cultural Studies -, dort viel selbstverständlicher unter Literaturwissenschaft subsumiert wurden. Also als methodologischer Einfluss wahrgenommen wurden.

Einfach, weil sie sich nicht für einen solchen eher "scholastischen" Stil des Philosophierens eignen.

Nur im philosophisch lange Zeit recht monokulturell gebliebenen Deutschland hatte man streitsüchtig im Paradigma des "Protestantismus" verbleiben müssen, was ich eher als einen etwas dünkelhaften Mangel an Weltoffenheit ansah, verwechselte, was Methode war, damit, fundamentale Fragen zu stellen, das, was also, wenn es sich um Philosophie handelte, dann lediglich eine Teildisziplin, mit dem Philosophieren selbst. - Und diesem Missverständnis erliegend in erster Linie vermutlich aus Mangel an Wissen oder Neugier.

"Protestantismus" ist zwar u.U. eine gute Charakterisierung - aber nur in kleinen Zirkeln, in denen dieser einander eh schon immer vorgeworfen wird, und wo dieses Auf-die-Metaebene-Gehen (oder meinetwegen Beziehungsebene-), der Vorwurf, Du gehörst jetzt aber zur anderen Seite, einfach zulange mit einem Diskurs verwechselt worden ist.

Der Vorwurf des "Protestantismus" eignet sich m.E. nicht als Beschreibung für irgendetwas, damit irgendwer daraus sich irgendwann einmal ein Argument zusammenbasteln könnte. Er eignet sich lediglich dazu, anderen vorzuhalten, dass sie verblendet seien, wobei jetzt nur nicht explizit gesagt wird, dass diese Verblendung auch damit zusammenhänge, dass eine solche Attitude einer versuchten soziologischen Analyse zufolge zum ausbeuterischen Kapitalismus beigetragen habe.

Na, und ? - Das ist einfach uncool ! Hauptsache, alles verbleibt in einem irgendwie "linken" Diskurs, es geht also mal wieder darum, wer jetzt Oberhand behält. Allein schon aus dieser Konstellation des auf allen Seiten Selbstgespräche-Führens wird sich nie ein Argumentieren ergeben, selbst wenn da was an Max Weber dran wäre.

Nehmen wir einmal Aufklärung als Gegenteil von Verblendung, dann würde ich hier gerne vorschlagen, das Gegenteil von Aufklärung mal wieder ganz einfach als mangelhaftes Wissen anzusehen.

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Ehrlich gesagt, Ziggev, ich habe keine Ahnung, worauf Dein rant hinaus will. In meinem Artikel insgesamt und in der von Che zitierten Passage ging es überhaupt nicht um protestantische Ethik, den Kapitalismus, Lustfeindlichkeit oder sonst irgend etwas von dem, worüber Du Dich ausläßt. Mir geht es nur um den einen Mechanismus, wie radikale Sekten dazu tendieren, sich als geschlossene Ingroup zu konstituieren, indem sie die ritualisierte Unterwerfung des Individuums unter das Kollektiv zelebrieren (in der übernächsten Folge meines Blogs werde ich darauf noch einmal detaillierter eingehen). Wie workingclasshero geschrieben hat, funktionierte der Maoismus ähnlich. Und tuc hat völlig zurecht darauf hingewiesen, daß diese Mechanismen auch schon bei vorprotestantischen Ketzergruppen durchaus virulent waren.

Daß die radikalisierten Varianten von postcolonial und gender studies selbst wiederum durch bestimmte US-amerikanische kulturelle Praktiken beeinflußt sind, scheint mir hingegen evident; daß sie darauf nicht reduzierbar sind, ebenfalls, denn sonst hätte sie hier keinen Resonanzboden finden können. Der Hinweis auf protestantische Sektenpraktiken ist für mich keine Erklärung, sondern erst einmal eine Strukturanalogie, bei der die Struktur selbst beschrieben werden muß.

Das wird, wie gesagt, in den nächsten Folgen meiner Serie über Öffentlichkeit und Filterblasen versucht werden. Und wenn ihr das kritisch begleiten wollt, seid ihr herzlich eingeladen: Für mich sind das auch erst einmal tastende Versuche, diesen Komplex historisch-begrifflich zu durchdringen. Und jede Kritik ist dabei hilfreich.

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Die sog. "Kritik und Selbstkritik"
ist Teil der traditionsmarxistischen Kaderunkultur, nicht nur des Maoismus.
Wir sagten damals veräppelnd: "Der Genosse muß mit Selbstkritik überzogen werden."

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@ alterbolschewik
Naja, alterbolschewik, wenn Du nicht weißt, worauf ich hiaus will, dann musst Du halt mal noch mal etwas genauer bei Dir und bei mir nachlesen.

Es gehe Dir also nur - ganz unpolitisch, nämlich deskripiv - um "den einen Mechanismus, wie radikale Sekten dazu tendieren, sich als geschlossene Ingroup zu konstituieren, indem sie die ritualisierte Unterwerfung des Individuums unter das Kollektiv zelebrieren ..."

Zuvor jedoch noch im ersten Absatz, behauptetst Du zwar, dass es bei der bewussten Strategie gar nicht um Politik gehe, sie habe nämlich gar keinen Ort in der politischen Sphäre (was dort als verortbar gilt, bestimmst offenbar nur Du). Vielmehr sei sie "eine säkulare Ableitung aus Praktiken radikal protestantischer Sekten. Der Einzelne soll sich als Sünder erkennen, aufstehen, vor die Gemeinde treten und seine Sünden bekennen."

Die alte Geschichte: als es links nicht mehr so funzte, kam die Psychologie, um sich gegenseitig fertig zu machen ("Ingroup" usw.)

Zunächst einmal funktioniert der Mechanismus der SelbstKonstitutionalisierung in radikalen Sekten nicht immer (eher fast nie) über ritualisierte Formen der "Unterwerfung des Individuums unter das Kollektiv".

Ich habe selber Einblicke in die Schattenseiten der Bhagwan-Sekte über Berichte bekommen und teilweise auch selber erlebt. Habe über Monate mit einem gemäßigten Salafisten (dem ich seine Gewaltferne abnahm) gearbeitet mit viel Gelegenheit zum Reden. Das läuft subtiler ab. Das geht über Selbstimunisierung vor der Wirklichkeit "da draußen". In der babtistischen Gruppe, der der andere Zweig meiner Familie angehört, tritt schon mal jemand vor die Gemeinde, so erlebt, der sich dafür bedanken will, dass mein Onkel, ehem. Manager bei Hoechst (u. früher typische Weber-Selbstgerechtigkeit), als er in Schwierigkeiten war mit seinem Häusle-Bau, auch weil er als Handwerker wensentlich deren Kirche mitaufbaute, ohne mit der Wimper zu zucken, nachdem er davon erfahren hatte, gleich am nächsten Tag mit den 50.000 € in Bar vor der Tür stand. Zwar soll es "rituelle" Prügel im pietistischen Zweig meiner Familie gegeben haben, das hatte aber nichts mit religiösen Motiven zu tun sondern mit häuslicher Gewalt eines Patriarchen, dem das christliche Ding vollkommen am A. vorbeiging (erst mein Vater schaffte es dann endlich, auszusteigen). Und dieses "ich bin ein Sünder, ich bin ein Sünder" würde ich eher in katholischer Tradition der Selbstgeißelung sehen, wie es (wie ich gerade las) noch bis ins 20. Jahrhundert in verschiedenen Orden gepflegt wurde.

Und beim "Vor-die-Gemeinde-Treten", um dann vom charismatischen Priester den Heilige Geist zu erfahren, scheint zwar immer noch das Moment der Buße mit durch, selbiges ist aber heute eindeutig nur noch bei den Evangelikalen, wie sie in jüngster Zeit aufgetreten sind, anzutreffen (in Brasilien, wie ich las, BTW wieder zum Glück im Rückgang begriffen).

Und da sind wir wieder beim Thema. Mir geht da einfach (sorry für die arrogante Phrase) zu viel durcheinander.

"Radikal protestantische Sekten" gibt es einfach nicht, es sei denn, Du meinst evangelikale. Protestantisch ist aber viel allgemeiner aufzufassen. Was soll damit also gemeint sein?

Es ist, das ist die einzige Erklärung, eine ritualisierter Sprachgebrauch, von "protestantisch" zu sprechen, um eine "politische" Sekte zu bezeichnen. Anders ist dieser verfehlte Metapherngebrauch mir nicht erklärlich.

Wie aber sonst, außer auf Weber zu rekurrieren, kommt dieses "protestantisch" in den linken Sprachgebrauch? - Und es taucht immer wieder in der betreffenden Diskussion um (bzw. - manchmal, z.B. hier, in recht gelungenen Polemiken - gegen) CW usf. auf - hast Du vielleicht nicht mitbekommen. Ich nehme Dir Dein ehrliches Erkenntnisinteresse ja ab, so aber fängst Du an, Dir selbst zu widersprechen, zeichnest nicht nur ein falsches Bild von der Selbstkonstitutionierung von Sekten allgemein sondern liegst auch in Sachen Religion mit jedem Wort daneben.

So gesehen liegt es doch nahe, die Sache mal umgekehrt versuchen zu denken: Offenbar will sich eine Sekte (radikal Linke) als "die wahre Linke" oder etwas in der Art konstituieren, indem sie eine andere sich "links" gebärdende Gruppe als "sektiererisch" psychologisiert.

Solches Vorgehen, um das Verhalten einiger derjenigen, die sich CW oder was auch immer auf die Fahnen geschrieben haben, zu erklären, ist daher alles andere als überzeugend.

In den folgenden Kommentaren wurde dann vor Allem eins klar: Es geht nur darum, das bizarre Verhalten gewisser Leute innerhalb des sekteneigenen Diskurses, innerhalb der sekteneigenen Innenwahrnehmung zu erklären.

Haben nun damit die K-Gruppen, haben nun damit die Maoisten angefangen? Das nenne ich strukturelle Selbstgeißelung, na, wenn´s Spaß macht!

Jene kurze Diskussion in den Kommentaren gelangte eben nicht zu dem Anspruch, es ginge lediglich um eine Analyse eines Mechanismus. Sieh meine Bemerkungen über "protestantische Ethik, den Kapitalismus, Lustfeindlichkeit oder sonst irgend etwas von dem, worüber" ich mich ausließ, mal als eine Demonstration dessen, wie so eine Außenwahrnehmung aussehen kann!

In der Tat, diese Erklärungsversuche schlugen so manche Purzelbäume! Es ist schon ganz putzig, dann doch nicht darüber hinauszugelangen zu vermögen.

Hier wäre nun eine echte soziologische Analyse hilfreich, von "protestantisch" zu sprechen, ist da aber nur - in meiner Wahrnehmung - die immergleiche linke Phraseologie.

Mein Vorschlag sollte nu gewesen sein, sich einmal die tatsächliche Wirkweise der Rezeption amerikanischer Diskussionen und Entwicklungen anzusehen. Und dazu habe ich nun mal eben bei "diesen Sektieren", ich glaube, es war Accalmie, mit das Intelligenteste und offenbar Informierteste gelesen.

Dass der Hinweis auf "protestantische Sektenpraktiken" - gar radikale - keine brauchbare Erklärung liefert, damit stimme ich mit Dir überein, aber eine angebliche Strukturanalogie kann ebensowenig, jedenfalls nicht so links-rhethorisch-habituell, herangezogen werden, denn dieser Begriff ist nicht allein schon deshalb zweifelhaft, weil es so etwas überhaupt nicht gibt, sondern, selbst wenn, dann ist er nach dem Gesagten erst recht widersprüchlich und damit unbrauchbar geworden.

Aber dieser Weg scheint mir im Prinzip gangbar und ich werde mir, sofer dazu Zeit, mal anschauen, was Du da gemacht hast und was noch kommt.

Der Rest von meinem Kommentar war an Che gerichtet, aus einem anderen, wegen guten Wetters abgebrochenen Threads.

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Was genau war das Intelligenteste und Informierteste, was Du da bei Accalmie gelesen hattest? Kann gerade schwer folgen.

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Gähnstrategie
ist das nicht stop. talking ? - bringt übrigens richtig Spaß, die mal zu übersetzen ! Richtig schöne akademische Vokabeln dabei!

ist mir im Übrigen nicht so wichtig, weil mir da klar wurde, wie kompliziert - und wie anders - die Situation auf der andere Seite des Teiches aussieht. Vor dem Hintergrund, der sich mir abzeichnete, schien es mir eh klar, dass - sachlich - hierzulande sowieso andauernd aneinander vorbeigeredet wird. Und auf längere Zeit die Hoffnung auf ordentliche Argumentation verloren ist.

Da hagelte es jedenfalls Quellen, Namen und Zusammenhänge.

Nee, einsteigen will ich da um himmelswillen nicht ! Wenn Dich die Einzelheiten interessieren, musst Du schon selber gucken.

Übrigens, wenn Du das als eine im Politischen zu verortende Strategie nennst: Wenn jemand mit ner logischen Analyse von Kritik und Analyse, oder wie die jetzt hießen, nicht zurande kommt, und es dann lediglich heißt, "nix verstahn", anstatt dieses Nichtverstehen selbst zu analysieren, das wäre Kooperation, da hatte ich offenbar Deine Lust an sowas unterschätzt und hatte geglaubt, Dir sei an sowas gelegen - auch wenn etwas wirr, aber meine Andeutungen hatte ich klar als Winke mit dem Zaunpfahl auf logische Unzulänglichkeiten verstanden. Sowas kann man eben im Kommentar nur andeuten, ich dachte, das sei Dir klar. Aber nicht mal das ist Dir klar. Wie Du weißt, kommt es bei philosophischer Argumentation viel mehr auf Substanz an als bei sozialwissenschaftlicher. Ich hatte geglaubt, es bei diesen Andeutungen belassen zu können. Da ging ich wohl fehl. Dir ist offenbar nicht klar, welche Arbeit es ist, eine logische Analyse klar darzustellen. Die Phil-Profs waren bei uns jedenfalls im Dauerzwist mit den Soziologen, weil die einfach nicht einsehen wollten, dass eine 20-seitige Arbeit dieselbe Note bekommen sollte wie eine 120-seitige. Mein Philosophielehrer promovierte mit 120 Seiten bei v. Weizsäcker.

Also "nix verstahn" ist einfach frech. Meine Frechheit (=Drauflosschreibe) dagegen ist offenbar dann wieder eine Überforderung. Da verzichte ich lieber darauf, mich 6 Stunden hinzusetzen, um alle möglichen Missverständnisse auszuräumen - wenn die Anfangsbemühung nicht mal aufgebracht wurde.

Dann kommt "worauf willst Du hinaus" - diese eklige allwohlfeile Phrase. Von Vorneherein ohne principle of charity - im positiven Sinne. Dabei geht es doch nur um das eine: die Anfangsbedingungen für eine zukünftige Kommunikation klarzustellen. Für diesen Sachverhalt aber völlig blind heißt es lediglich: "ich weiß wo es langgeht."

Das nennt sich "politisch".

Und dann bei einem zugegebenermaßenen Nebenaspekt zu fragen, "wo ist die Quelle?"

Kannst ja machen: Ich weiß bescheid, Du drückst Dich seltsam aus - das ist primitiv. Zeige mir einen Fehler, eine Inkonsistenz, stelle eine eine Frage, von der Du zu hoffen zu können glaubst, dass sie weiterhelfen könnte. Wenn Du zu faul bist, auch eine formal nicht 100-pro ausformulierte Argumentation zu rekonstruieren, um dann eben konstruktive Fragen zu stellen, dann dann tue bitte nicht so, als würdest Du überhaupt etwas vertreten.

Wir können es natürlich darauf beschränken: Ich versuche Dich zwar zu verstehen, obwohl Du mich eigentlich nur langweilst; ich bin zu faul für diese Neugier und "kann im Moment nicht ganz folgen".

Bleib mal ruhig bei deiner Gähnstrategie. Lagerdenken, billige Strategien, sich dabei noch als "politisch" wähnen; ich hab jedefalls keinen Bock auf solche Momorulez-artigen Abwehrmechanismen - nein, noch durchschaubarer. Durchschaubarer ging´s wirklich nicht.

Also als Übung: Warum fand Ziggev, dass alterbolschewik sich in Widersprüche verstrickte ? (Das war nämlich einer der nicht bis ins Letzte, so formuliert, durchdachten Einwände.) Wie hätte er diese Gedanken besser formulieren müssen. Dies nur als Hilfestellung.

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Das Problem der Linken ist, dass sie links ist. Bzw.:
Das Problem der Progression ist, dass sie progressiv ist.

Das Problem ist strukturimmanent.

In my humbled opinion.

Hier ist was schönes dazu:

"Kein Ideal hat heute lange genug Bestand, um verwirklich zu werden, nicht einmal in Ansätzen. Niemals wird der junge Mann von heute etwas an seiner Umwelt ändern; immer wird er bloß sein Denken ändern."

Ganzer Text (über 100 Jahre alt) bei ofenschlot:
http://ofenschlot.blogsport.de/2013/04/17/eine-orthodoxe-verteidigung-der-revolution/

Was tun?

Diese Frage Lenins beantworte ich blasphemischerweise mit Churchill (abgewandelt natürlich):

Diese Strategie der ständigen Kritik ist die schlechteste Strategie für die Linke, abgesehen von allen anderen Strategien, die von Zeit zu Zeit ausprobiert werden.

Bei der Bildung des (möglicherweise nur scheinbaren) Oxymorons "konservativer Kommunist" muss ich leider immer an den ulkigen Krollekopp denken, der ihn als Selbstbezeichnung benutzt:
Justus Wertmüller.

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@Ziggev, ich greife nur mal eins heraus, für mehr fehlt mir gerade die Zeit (Ich habe eine 45-50-Stunden-Arbeitswoche, und obwohl mir dieses Blog außerordentlich wichtig ist, ist dieses Blog die Woche über, längere Beiträge schreibe ich Sonntags, für mich so etwas wie für Andere die Raucherpause):

@"Aber nicht mal das ist Dir klar. Wie Du weißt, kommt es bei philosophischer Argumentation viel mehr auf Substanz an als bei sozialwissenschaftlicher. Ich hatte geglaubt, es bei diesen Andeutungen belassen zu können. Da ging ich wohl fehl. Dir ist offenbar nicht klar, welche Arbeit es ist, eine logische Analyse klar darzustellen. Die Phil-Profs waren bei uns jedenfalls im Dauerzwist mit den Soziologen, weil die einfach nicht einsehen wollten, dass eine 20-seitige Arbeit dieselbe Note bekommen sollte wie eine 120-seitige. Mein Philosophielehrer promovierte mit 120 Seiten bei v. Weizsäcker." --- Das ist nur wieder ein Aufwärmen einer Philosophenarroganz oder eines Vorurteils gegen Sozialwissenschaftler, mit dem ich gar nichts anfangen will, abgesehen davon, dass ich als Historiker aus einer Fakultät komme, wo ganz harte Fakten und ganz genaue Quellenbelege das A und O sind und eine Arbeit von 20 Seiten Umfang gar keine Arbeit, sondern ein schriftliches Referat ist - demzufolge hätte ich jetzt erwartet, dass Du bezüglich Accalmie konkrete Zitate statt ungefährem Geraune bringst.Bei uns zählt nicht nur eine logische Argumentation, bei uns zählen vor allem belegte Fakten, die so hart sein müssen wie gerichtsfeste Beweise.
Meine Diss basiert unter anderem darauf, Kollegen nachgewiesen zu haben, dass sie von ihnen zitierte Werke gar nicht komplett gelesen hatten und deshalb zu falschen Schlüssen kamen.


Meine Magisterarbeit hat 120 Seiten, meine Diss 347. 120 Seiten für eine Diss ist schlichtweg lächerlich. Eine Diss mit weniger als 250 Seiten einzureichen gilt bei uns als "mut zur Lücke". Also daher brauche ich mir diese Art von "Kritik" nicht reinzutun. Ich lasse mir von Dir auch keine "Übungen" verordnen, hilfreicher wäre, wenn Du auf klar gestellte Fragen klar antworten würdest, falls Du denn dazu in der Lage bist.

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Und was das Thema "andere Seite des Teiches" angeht: Accalmie und Co. sind für den alten Bolschewiken oder mich ja keine Gegnerinnen, sondern eigentlich haben wir weitgehend identische Ziele und auch dieselben Feinde. Tiefgreifende Unterschiede gibt es nur in Fragen der Strategie, der Darstellungsweise, der Schwerpunktsetzung, der gebrauchten Sprache usw.

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ok., das muss es gewesen sein :
Google: "stop. talking critical whiteness"

Und dann nach nem englischen Text schauen. Ist aber auch so der erste hit. Also wirklich.

http://stoptalk.wordpress.com/2012/10/11/decolorize-the-color-line/

Wobei ich nicht sagen will, nicht mal kann, dass das inhaltlich besonders toll ist. Mein Eindruck war nur, dass sich da ganz andere Horizonte (oder überhaupt erst welche) auftun und ganz andere Küsten auftauchen, von denen es sich lohnte, loszusegeln, als bei dem Text von 'Analyse und Kritik'.

Was in der (für mich Neuling - der ich hier wohl bleiben werde) plausiblen Darstellung von Analyse und Kritik sich auf eine knappe Einleitung beschränkte (und deshalb wohl für mich auch 'plausibel'), stellt sich nun als eine recht komplexe Angelegenheit dar, gibt eine Vielzahl Anhaltspunkte zum Nachforschen, schlängelt sich durch den ganzen langen Text.

Insofern sich wohltuend von der Diskussion, die ich auf Deutsch mitverfolgen durfte, unterscheidend. Nicht bloß nur das immergleiche Sich-gegenseitig-Angemeckere, sondern, ok., Quellen.

Natürlich habe ich wenig verstanden; aber wenn ich mal sorgfältig! zwei drei Sätze übersetzte, war ich doch sehr positiv überrascht !

Der Typ mit den 120 Seiten hat übrigens schlicht bei v. Weizsäcker 120 Seiten mit Formeln vollgeschrieben. War ja auch nur als Extrembeispiel gemeint. Das Vorwort war ja noch halbwegs verständlich; es ging ihm um die Versöhnung (ein Beweis) gewisser Aspekte die Relativitätstheorie betreffend, für die, grob gesagt, auf der einen Seite der frühe, kantianische Reichenbach und auf der anderen der späte, logisch-empiristische, stehen könnten.

Ich bin es übrigens ganz zufrieden, wenn ich heute in Philosophiezeitschriften hineinschaue, wie heute offenbar philosophiert wird. Nichthermetisch wird fast schon im Plauderton ohne "Begriffsgeklappere" vorgetragen, welches Problem bearbeitet werden soll. Klar muss ein wenig Vorkenntnis vorhanden sein. Logisch Impliziertes scheint fast schon übergangen zu werden. Man begnügt sich mit Konsequenzen und "plaudert" weiter. Das heißt nicht, dass es unterbleiben sollte, es zu erkennen. Dasselbe mit dem, was Du mal, glaube ich, "diskursive Kontextualisierung" genannt hast.

Meine "Übung" war, das war doch klar, als Hinweis darauf gemeint, wo ich Kritik erwartet hatte. Nimm´s als Selbstkritik.

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Ich kam jetzt nicht dazu, das in Ruhe durchzulesen, aber mein erster Eindruck war: Accalmie schreibt da sehr sehr differenziert und zugleich mit einem angenehmen ironischen Unterton. Ohnehin gehört sie, neben Nadia Shehadeh, zu den klügsten und besten Autorinnen bei der Mädchenmannschaft. Und im Übrigen möchte ich hier auch kein Lagerdenken aufkommen lassen. Meine Kritik richtet sich vordergründig gegen bestimmte überzogene Formen von CW, wie sie etwa RS praktizierten, und gegen die rigorose Löschpolitik von MM und befreundeten Blogs, schließlich gegen die epigonenhafte Begeisterung, die Momorulez dafür hegt, wobei DIESER Aspekt für mich einen Aspekt von Realsatire darstellt.


Ein ganz ganz anderer Aspekt, der schon vielfach missverstanden wurde, da es im Blog keinen Tonfall, kein Mienenspiel, keine Gestik und Mimik gibt: mich nervt dieser moralinsaure und spaßbefreite Unterton, den gerade junge Leute in Rassismusdiskussionen oft an den Tag legen, während in meinen eigenen Antirazusammenhängen gerade mit Alltagsrassismen vorzugweise ironisierend bis zur Selbstverarsche umgegangen wird. Selbst bei den bittersten Themen trage ich bevorzugt ein breites Grinsen, das ist freilich ein sehr finsterer Humor, frei nach dem Motto, dass die besten Witze in Auschwitz erzählt wurden.

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Nach gründlicherem Durchlesen: Accalmie hat in Vielem Recht. Das Problem besteht darin, dass der AK-Beitrag oder in anderer, aber ähnlicher Weise auch Kadda ganz bestimmte CWS-Konzepte kritisieren und das dann Critical Whiteness AN SICH übergestülpt wird und damit aber die emanzipatorischen Impulse, die CWS bieten können ausgeblendet werden. Mit einer solchen Sichtweise kann ich mich anfreunden.

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ziggev, Deinen Hinweis, daß ich keine Ahnung von Protestantismus habe, nehme ich ernst. Er ist einigermaßen richtig, denn als in katholischem Umfeld aufgewachsen habe ich da nur eine Außensicht. Und die paar Individuen, die ich aus diesem Umfeld kenne, sind möglicherweise nicht repräsentativ.

Dennoch (korrigiere mich, wenn ich mich irre): Als eine wesentliche Differenz zwischen Protestantismus und Katholizismus erschien mir immer, daß im Protestantismus (auch dem gemäßigten) die eigene Existenz immer als eine problematische erfahren wird. Als Katholik ist man durch die Taufe von der Erbsünde erlöst und die Sünden, die man sich sonst so aufgehalst hat, wird man durch die Beichte und ein paar Vaterunser und Ave Marias wieder los. Die eigene Existenz wird nicht prinzipiell als sündhaft erfahren, es ist nur die Schwäche des Fleisches, die einen immer wieder in die Sünde zurückfallen läßt. Dem Protestanten hingegen ist die eigene Existenz als solche problematisch.

Übertragen auf die säkulare Variante (falls diese Übertragung statthaft ist): Ich persönlich habe kein Problem mit meinen männlichen, weißen, hetereosexuellen Privilegien, da sage ich nur: Verdammt noch mal, Schwein gehabt. Und manchmal merke ich, wie ich mich aus dieser privilegierten Situation heraus beschissen verhalte. Dann beichte ich (im übertragenen Sinn), gelobe Besserung und bemühe mich, in Zukunft etwas sensibler zu sein. Ich mache daraus kein Psychodrama, ich stelle meine Existenz nicht in Frage, sondern danke mindestens einmal pro Woche meinem Schöpfer, daß ich ein so privilegiertes und glückliches Leben führe, wie ich das tue.

Bei Protestanten (vor allem denjenigen, die im Milieu des nordschwäbischen Pietcong aufgewachsen sind - und sehr viele hiesige Autonome der 80er Jahre kamen ganau aus diesem Milieu) habe ich hingegen immer wieder erlebt, daß sie sich, wenn es ihnen gut ging, dafür geschämt haben und oft mutwillig ihr eigenes Glück zerstört haben, während ich kopfschüttelnd und oft genug hilflos daneben stand.

Mit anderen Worten: Den Protestantismus habe ich immer als eine Religion begriffen, die prinzipiell das Selbstwertgefühl ihrer Anhänger untergraben hat. Aber ich bin durchaus bereit, diese Protestantismus-Analogie aufzugeben. Mir geht es im wesentlichen darum, daß eine Linke, die wirklich etwas verändern will, vor allem die Aufgabe hat, das Selbstwertgefühl derer, die sich als ein Teil von ihr begreifen wollen, zu stärken. Und nicht durch ritualisierte Demütigungen zu schwächen. Wenn Du damit mehr anfangen kannst, streich den Protestantismus.

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etwas länger: Protestantismus, Pietismus, Anton Reiser
alterbolschewik, zunächst: Für diese Art von Protestantismus, wie Du ihn schilderst, bin ich jedenfalls kein Experte. Und dieses Bild, der Unterschied zw. Katholizismus u. Protestantismus, es wird schon stimmen. So wird es ja immer wieder kolportiert, insbesondere was den Protestantismus schwäbischer Provinienz betrifft.

Diese duckäuserisch-verängtistige Disposition, die offenbar durch diesen Schuldterror verursacht ist, mittels dessen Ausübung seinerseits dann offenbar versucht wird, diese Disposition zu kompensieren, habe ich selber allerdings bisher nur stichprobehalber erlebt. Z.B. bei einer WG-Mitbewohnerin, die aus Stuttgart kam, besonders bei ihrer Mutter, als die mal zu Besuch kam; bei meinem Vater, kurz vor seinem Tod, als seine geistigen Kräfte deutlich nachgelassen hatten; bei einer meiner vielen Kusinen 1 mal. (Es ist allerdings bereits von meinem Urgroßvater bezeugt, dass er das im kommunenhaft organisierten Leben der herrhuter Gemeinde, wo er, seinem Vater folgend, Pastor war, als beengend empfand. Es waren Wirtschaftsflüchtlinge gewesen, die zwei Generation vorher dort Unterschlupf gefunden hatten). Und ich muss sagen, dass ich einige meiner Tanten absolut bewundere für deren unverbrüchliche Lebensfreude allen schwierigen Lebensumständen seit deren Kindheit zum Trotz. Moralisierende Haltungen habe ich bei denen in all den Jahren lediglich genau einmal erlebt (als ich erzählte, dass wir vor einem Auftritt die Kneipe mit Weihrauch ausgeräuchert hatten, um die Atmosphäre von den "bösen Geistern" zu reinigen, die in dieser Kaschemme, bekannt dafür, dass dort die verkrachteste Existenzen abzustürzen pflegten, sicherlich ihr Unwesen trieben. "Aber das ist ja Blasphemie!", beide wie aus einem Mund. Das sei mehr ein Spiel, sagte ich. Ganz ohne Vorwurf: Achso, ein Spiel ... Damit war das Thema durch, und wir fuhren mit dem heiteren Gespräch über Botanik, Reisen oder Musik fort). Vielleicht spielt hier nochmal eine Rolle, dass die alle die DDR mitmachten, was weniger einem habituellen religiösen schlechten Gewissen zuträglich gewesen sein mag. Diejenigen, die dann die theologische Laufbahn eingeschlagen hatten (die einzige Möglichkeit, zu studieren), wiesen - auch politisch - dann eine stark ausgeprägte Individualität und ebensolches Selbstbewusstsein auf.


Hinzu kommt, dass ich in Hamburg aufgewachsen bin, wo man es mit Religion nicht so hat. Es ist dies zwar afaik auch eine typisch protestantische Haltung bzw. möglw. hier besonders norddeutsch, dass es zwei Dinge gibt, über die man nicht spricht: Geld und Religion. (Man denke an Th. Mann.) Auch bin ich radikal atheistisch aufgewachsen; mein Vater (nach dem Westen gegangen) hat als erster den radikalen Absprung geschafft.

Witziges Detail: in meiner Schulzeit waren meine besten Freunde eigentlich fast immer katholisch.

Auch wenn die Herrnhuter dem Pietismus zugerechnet werden, handelt es sich doch mehr um eine eigene Bewegung (obwohl die historischen Wurzeln klar im Barock, siehe Zinzendorf, so habe ich es jedenfalls verstanden, liegen), ist es allerdings afaik von Bedeutung, dass wir es beim Protestantismus schwäbischer Prägung mit dem Pietismus im negativen Sinne zu tu haben, der sich in jener Gegend im Protestantismus im Allgemeinen relativ stark durchgesetzt hat und bis heute fortwirkt. Zum Glück hatte ich damit, wie gesagt, bisher wenig Kontakt.

Wicki: " Das fromme Subjekt rückt in den Fokus der pietistischen Bewegung, die reine Lehre sowie die kirchliche Einheit gerät dabei in den Hintergrund. So findet sich einerseits in der pietistischen Bewegung ein moderner Zug, da sie der Persönlichkeit des Einzelnen einen hohen Stellenwert gibt. Im Laufe seiner Entwicklung ist der Pietismus andererseits in weiten Teilen jedoch eine theologisch und sozial konservative Bewegung geworden."

In dieser Hinsicht durchaus ambivalent: Karl Philipp Moritz´ psychologischer Roman Anton Reiser. Welchen Autor Goethe schätzte, jedoch einen "Schmerzensmann" nannte. Besonders beeindruckend fand ich bei der Lektüre die Nöte des Individuums dargestellt, das unter der Knute der stark pietistisch geprägten 'schwarzen Pädagogik' der damaligen Zeit zu leiden hatte. Es ist ja auch ein autobiographischer Roman. So sehe ich seinen Versuch (da bekomme ich aber immer Autor und Protagonist durcheinander), bei den Herrhutern "Unterschlupf" zu finden, als einen fluchtartigen Reflex, die ja bereits mit Comenius zu dessen Zeit die fortschrittlichste Pädagogik auf diesem Kontinent vertraten u. praktizierten. (Das hatte sich dann allerdings im 19. Jahrh. geändert, als einige meiner Vorfahren in "Knabenerziehungsanstalten" untergebracht waren, dorthin geschickt, während die Eltern irgendwo auf der Welt missionierten!)

Goethe schätzte die Herrnhuter ja ebenfalls, zumindest zeitweise (Dichtung und Wahrheit). - Aber genug der "Werbung"!

Am Reiser Arbeitet sich z.B. Klaus Baum ab. (echt gruselig, einige Stellen beim Moritz, die er zitiert - ich glaube, das macht einiges klar!)

http://klausbaum.wordpress.com/2012/03/21/wohlfahrt-im-18-jahrhundert-anton-reiser/

http://klausbaum.wordpress.com/2010/12/15/karl-philipp-moritz-anton-reiser-ein-psychologischer-roman/

http://klausbaum.wordpress.com/2009/02/26/karl-philipp-moritz-anton-reiser/

http://klausbaum.wordpress.com/2011/09/23/kaum-redet-der-papst-nicht-mehr-im-bundestag/

Auch hier:

http://klausbaum.wordpress.com/2012/03/20/zufalle-gibts/

kurz noch erwähnt:

http://klausbaum.wordpress.com/2011/03/02/hartz-iv-und-die-kochshows-im-fernsehen/

Du merkst schon: ich habe auch ein Ambivalentes Verhältnis zum Pietismus. Der Anton Reiser ist hier sehr, sehr aufschlussreich!

Und da hast Du schlicht und einfach Recht, wenn Du schreibt: "... eine säkulare Ableitung aus Praktiken radikal protestantischer Sekten ..." Ich wandte mich hier nur gegen die Formulierung 'radikal protestantische Sekten'. Denn der Pietismus ist zwar eine Spielart des Protestantismus, aber keine Radikalisierung, jedenfalls ist 'radikal protestantische Sekte' mir zu ungenau und missverständlich; und der 'radikale Pietismus' ist noch mal etwas anderes, "der davon überzeugt [war], dass wahres Christentum nur außerhalb der verfassten Kirche gelebt werden könne" (Wicki).

Aus meiner Sicht sind die Formen, die sich offenbar in linken Kreisen zeig(t)en, eben einer ins Säkulare abgesunkenen, ursprünglich pietistischen Haltung geschuldet. Insofern, aus meiner ambivalenten Haltung dazu, sehe ich dieses Phänomen als das eines Verfalls. Dieses Duckmäuserisch-Ängstliche, dieser Missionsdrang rührt in meinen Augen von einer mangelnden Reflexion der religiösen Wurzeln bzw. dieser im Religiösen verwurzelten Kultur dessen her. Von der Unkenntnis dieser Wurzeln. Diese Phänomene haben für mich, so gesehen, etwas Kulturloses. Deshalb, dies meine Hypothese, gebiert dieser Schlaf jener 'Kulturlosen', die es versäumen, die eigene Herkunft zu reflektieren oder zumindest zu kennen, jene Monster des Tugendterrors und des Moralinsaurens.

Natürlich agieren sie die Zwanghaftigkeit ihrer Persönlichkeit aus, werden sie einmal von der Leine gelassen. Hast natürlich Recht: Mit Selbstermächtigung hat das traurigerweise wenig zu tun. Deshalb tendiere ich manchmal zu einer Art Konservativismus, zum "Kulturchristentum" (vielleicht sogar zum "radikalen Pietismus").

Denen sollte mal gründlich der Anton Reiser um die Ohren gehauen werden !

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also anstatt schlicht 'protestantisch', vielleicht, um diese Szene zu beschreiben, "protestantisch-pietistisch" ?

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Für Deutschland ist der Pietismus wahrscheinlich schon das richtige Analogon, für die USA sind eher Baptisten und Methodisten die richtige Adresse (und natürlich die Evangelikalen). Ich habe gerade mal versucht, mir per Wikipedia da einen Überblick zu verschaffen, aber das ist noch schlimmer als mit den K-Gruppen. Außerhalb dieser Sektenzirkel kann wirklich kein Mensch die ganzen Differenzen begreifen.

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Erschwerend kommt hinzu, dass es dort lauter letztlich stark alttestamentarisch orientierte orientierte Gruppen gibt, die in der frühen Reformationszeit nach Nordamerika abwanderten und ihren Glauben sozusagen auf dem Stand des 16. Jahrhunderts konservierten, wie Neuismaeliten, Amish usw. Ach ja, und dann kommen noch die Mormonen hinzu, die sich selbst als Christen sehen, aber von keiner anderen kirche anerkannt werden, und auch sie fallen wieder in verschiedene Richtungen auseinander. In Deutschland gibt es nebenbei auch noch Siebenjahresadventisten, Pfingstler und ähnliche fundamentalistisch-superpietische Glaubensgemeinschaften sowie Jehovas Zeugen.

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Exakt. Ist interessant nachzulesen, wie die englischen Überbringer der frohen Botschaft sich so das Leben der Gemeinde vorstellten. Der Bibelübersetzer William Tyndale, die Akteure während des Bürgerkrieges, dann die Pilgrim Fathers, welche den ganzen Kram über den großen Teich brachten.
Da wird einem deutlich, dass das Puritanertum ein hässlicher Verwandter der (sozialen) Revolution ist.
Um mal zurück nach Europa zu kommen: In der ganzen Geschichte von Reformation und Gegenreformation kann man schon als interessierter Laie viel über bestimmte Mechanismen erfahren, um die es hier geht.
Alles sehr spannend.

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... superspannend. ich weiß, da kann man schon mal ein Wochenende googelnd verbringen :-! Die Bogomielen, die Katharer, ... damit ist erst ein Anfang gemacht, die Waldenser, von denen die Herrnhuter die Bischofswürde verliehen bekamen, usw. Manichäistische Einflüsse mitten in Europa und immer so weiter.

Nicht umsonst galt bis ins letzte Jahrhundert Kirchenwissenschaft als Leitwissenschaft.

@ Che. Woran ich mich wieder einmal etwas störe, ist eine Formulierung wie "... und ähnliche fundamentalistisch-superpietische Glaubensgemeinschaften, ..." Der Pietismus ist eine der ehrwürdigsten Traditionen Europas. Trotz allem. Dafür dass "wahres Christentum nur außerhalb der verfassten Kirche gelebt werden könne" (radikaler Pietismus), fand dann lange später Bhagwan/Oshio die teffenden Worte: "Everybody who wants to sell you a belief-system is your enemy."

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