Sonntag, 26. März 2006
Elemente der Gegenaufklärung - Heute: Die Antideutschen
Die Runde bei der Behandlung der Ideologien, aus denen sich ein postfaschistischer Wohlstandsrassismus speisen könnte, eröffne ich mit meinen ganz besonderen Lieblingen, den Antideutschen. Nicht, dass die besonders wichtig wären, aber sie sind hinreißend skurril, und es gibt einen Nexus zwischen deren und meiner eigenen Geschichte, außerdem sind sie ein Paradebeispiel dafür, wie Aufklärung in ihr Gegenteil umschlägt, in diesem Fall bei Leuten, die selber für sich in Anspruch nehmen, ihre Schlussfolgerungen aus der Dialektik der Aufklärung gezogen zu haben (von der sie wahrscheinlich den Klappentext, und, wenn´s hochkommt, den SOAK-Einführungstext gelesen haben).

Kürzlich war in der Blogosphäre zu lesen, Israel und die USA wären Inseln der Vernunft im Ozean politischer Verblendung oder so ähnlich. Nun, wenn Insulaner bei einer bevorstehenden Hinrichtung auf dem Elektrischen Stuhl "Grill him, grill him" skandieren oder die gleiche Strafe für Abtreiberinnen fordern, handeln sie ebenso vernünftig wie Baruch Goldstein, als er in einer Höhle muslimische Pilger massakrierte. Ich sehe keinen Unterschied zu politischem Wahnsinn in den USA oder Israel oder anderswo in der Welt. Es gibt in beiden Ländern weder mehr noch weniger Unvernunft als hierzulande oder z.B. in Russland, ich würde allerdings sagen, dass Unvernunft in den USA oder von den USA ausgehend zur Zeit besonders groteske Formen annimmt. Der deutsche Faschismus oder die Gewalt von Al Kaida laufen in diesem Zusammenhang außer Konkurrenz.

Die Sache mit der überlegenen israelisch-amerikanischen Vernunft macht deutlich, was die Antideutschen nicht sind: Antinationale oder Antirassisten. Antinationale kenne ich Einige, sie lehnen jeden Nationalismus ab, also auch den US-Patriotismis oder den Zionismus, und etliche davon haben mit überbordendem Nationalismus sehr spezielle Erfahrungen, weil sie zwar in Deutschland geboren wurden, aber Namen tragen, die auf -ic enden. Die antideutsche Ideologie hingegen ist negativer Nationalismus und negativer Rassismus: Die Deutschen werden als ein Kollektiv betrachtet, dem ein Nationalcharakter zukommt, und dieser sei schlechter als der anderer Völker, während US-Amerikaner und Israelis als besser angesehen werden. Die meisten Vertreter dieser Denkweise entstammen der westdeutschen marxistischen Linken, wie ich in meinem Bahamas-Artikel schrieb, sind sie so links, dass sie schon wieder rechts sind. Weniger flapsig formuliert: Die antideutsche Position entstand Anfang der 90er aus dem Erosionsprozess des Kommunistischen Bundes (KB) und einer Art Rechtsabweichung der Kritischen Theorie. Wolfgang Pohrt hatte nach der Wiedervereinigung ein Projekt begonnen, bei dem es darum ging, die Studien zum autoritären Charakter, die ein von Adorno geleitetes Team an der US-Bevölkerung in den 30 er Jahren durchgeführt hatte, in modifizierter und modernisierter Form an der deutschen Bevölkerung zu wiederholen, um zu sehen, ob in den 90er Jahren eine faschistische oder totalitäre Bedrohung aufgrund der Handlungsorientierungen der Bevölkerungsmehrheit bestehen würde. An sich war dies ein wertvolles Unterfangen, und e ist in dem Zusammenhang schade, dass ich meine parallel hierzu geplante vergleichenden Studie zu Rechtsextremismus in den USA und Deutschland nicht realisieren konnte, dann könnten die Antideutschen nämlich mit den Argumentationsmustern, die sie vertreten, in ernste Schwierigkeiten geraten.

Das Problem bei Pohrt, einem Philosemiten, der sich freiwillig zur israelischen Armee gemeldet hatte, weil er dies als Wiedergutmachung für die deutschen Greuel betrachtete, ist seine Arroganz. So interviewte er einen Kandidaten der Republikaner und attestierte diesem eine debile und deformierte Sprache, die auf eine charakterliche Pathologie schließen lasse. Tatsächlich war es einfach die Sprechweise eines ungebildeten Arbeiters, dem die Geschliffenheit des marxistischen akademischen Intellektuellen fehlt. Als ich Studierenden Auszüge aus Pohrts Studie vortrug, waren diese kaum davon zu überzeugen, dass dies keine Satire sei.

Wie auch immer, Pohrts Studie lieferte interessante Ansatzpunkte, die elitäre Sichtweise und die politische Verortung des Autors selber führten aber bei seinenAnhängern dazu, die Deutschen insgesamt als ein Volk von gemeingefährlichen Deppen zu betrachten, was zu einem Zeitpunkt, als ein im geistigen Delirium befindlicher Mob in Hoyerswerda, Rostock und Hünxe gegen Migranten randalierte auf fruchtbaren Boden stieß. Umso mehr, als dass eine damit sehr konforme Arroganz bei einem bestimmten Typ bundesdeutscher akademischer Linker Tradition hatte. Ich nenne sie die MLer, was nichts mit Marx und Lenin zu tun hat, sondern für Moralische Linke steht, mit Schnittmengen zur SDL (Sonderbar Durchgeknallte Linke). Viele von ihnen fanden sich in den Reihen des KB oder bei der Marxistischen Gruppe (MG). Um Mistverständnissen vorzubeugen: Ich ordne weder den KB noch die MG insgesamt der ML oder SDL zu, sonst müsste ich mich von einem Teil meiner Freunde distanzieren. Es ist nur so, dass beide Gruppen ein prächtiges Biotop für das Gedeihen eines bestimmten Charaktertypus boten, der sich durch völlige Spaßfreiheit und extremes Problembewusstsein auszeichnete, und eben dadurch, dass nicht rationale Analyse, sondern Moral Triebfeder ihres politischen Handelns war. Ich kann mich an einige schlagende Erlebnisse mit diesem Menschenschlag erinnern. Da schrieb Eckhart Henscheid in der Titanic eimal eine Satire über ein Flugblatt eines studentischen Gremiums, in dem von "ErstsemesterInnen" die Rede wa, wies darauf hin, dass der Begriff Erstsemester Neutrum sei und fragte, wann denn endlich von PlünderInnen, vor allem aber SprachschänderInnen zu lesen sei. Die Moralische Linke wollte ernsthaft einen Resolutionsentwurf durch die Verfasste Studierendenschaft für eine Protestnote gegen die Titanic wg. Verbalsexismus durchbringen. Richtig ärgerlich wurden diese Leute, wenn es um grundsätzlichere Sachen ging. So formulierten Mitte der 80er Jahre Antiimperialisten die These, dass ein Zusammenbruch der DDR auf lange Sicht absehbar sei und es sich daher lohne, die Option der Wiedervereinigung von links her zu thematisieren, mit der Stoßrichtung, durch Synthese von Sozialismus und Demokratie und Schaffung eines blockfreien, demilitarisierten Deutschlands einen Dritten Weg zu ermöglichen und dem militärisch-industriellen Komplex der NATO sein wichtigstes Standbein in Westeuropa wegzuhauen. Ob ein solches Anliegen sinnvoll war oder nicht, möchte ich hier nicht diskutieren, es war nur bezeichnend, wie die Moralischen Linken mit denen umgingen, die Solches vertraten, nämlich mit systematischer Ausgrenzung und dem Vorwurf, sie seien in Wirklichkeit keine Linken, sondern eingeschleuste UBoote der Naziszene. So überließ man dann den Themenkomplex "gesamtdeutscher Neutralismus" Reaktionären wie Mechtersheimer. Die Moralischen Linken waren überhaupt immer an vorderster Front, wenn es darum ging, moralische Tribunale wegen abweichenden Verhaltens durchzuziehen, Sprüche wie "Ein Linker sagt nicht einfach unreflektiert etwas daher" offenbarten ein Menschenbild und Selbstverständnis, das in einem Dominikanerkonvikt des 16. Jahrhunderts gut aufgehoben gewesen wäre.

Anfang der 90er Jahre hatte der KB ein Problem. Eine Fraktion, die Zentristen (Z) Fraktion war bereits geschlossen in den Grünen aufgegangen, die KB-Mehrheit wollte in die PDS-Linke Liste, Versprengte landeten auch bei Ditfurths Ölkolinx. Die Bahama-Fraktion aber vertrat den Standpunkt, ein Kampf für sozialistische Gesellschaftsveränderung in Deutschland würde zwangsläufig zu einem nationalen Sozialismus führen, aufgrund des Nationalcharakters der Deutschen und der verschobenen weltpolitischen Situation sei dies nicht anders möglich, also dürften Linke in Deutschland nicht gegen Sozialabbau u.ä. kämpfen, sondern ausschließlich gegen Nationalismus und Antisemitismus, Letzteres bedeute kompromisslose Solidarität mit Israel.

In meiner Zeit in antirassistischen Zusammenhängen bekam ich dort sehr viel von Antinationalen, nichts aber von Antideutschen mit, denen waren die bosnischen und westafrikanischen Bürgerkriegsflüchtlinge wohl zu "schmutzig" und zu arm (huhu, es grüßt die gute alte Idiosynkrasie aus Adornos Elementen des Antisemitismus!). Der Sexismus muslimischer Männer und der Antisemitismus der Islamisten taten ein Übriges, um bei den Antideutschen ein paranoides Feinbild zu zimmern, in dem Israel und die USA gegen Deutschland und den Islam stehen und sie selbst die einzig aufrechten Vorkämpfer der Wahrheit im Herzen der protofaschistischen deutschen Bestie sind.

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Paranoide
Für mich sind Hardcore-Antideutsche Präfaschisten und/oder Politneurotiker.

Inzwischen kombinieren führende Köpfe dieser Bewegung ihren aggressiv und ursprünglich zum Zweck der Provokation vorgetragenen extremistisch-zionistischen Nationalismus nicht nur mit anti-arabischen und anti-muslimischen (offen rassistischen) Ressentiments, sondern auch mit blinder Kapitalismusanbetung.

Außerdem lesen und konferieren sie zunehmend über liberale Klassiker (z.B. Hobbes), ohne jedoch nachzuweisen, dass sie diese kritisch reflektieren könnten. Dazu addieren sie Vorwürfe an "die" Deutschen, welche mit ihrer mehrheitlichen Neigung zur Sozialstaatlichkeit angeblich faschistische Traditionen von "Volksgemeinschaft" und nazistischer "Wohlfühldiktatur" fortsetzten (die bekloppte Götz-Aly-These, welche z.B. Entwicklungen der Weimarer Zeit komplett vergisst - wie auch die Gewinnsteigerungen der Konzerne unter Hitler).

Lachhaft, aber mit stolzen Mut zur eifrig gelebten Politneurose.

Dass derartige Ideologismen wie die der Antideutschen einen so große Anziehungskraft in der deutschen Linken entwickeln konnten, zeigt m.E. den Reiz der Provokation, andererseits auch die Unfähigkeit der Linken, eine glaubwürdige Utopie zu entwickeln bzw. einen ideologischen Überbau, welcher der Linken ausreichende Orientierung verschafft.

Ich kann nur anbieten: Humanismus, Demokratie, militanten Pazifismus und einen sozialistischen Kapitalismus (quasi ein Kapitalismus "von unten" und gegen die Macht von Konzernen, Wohlhabenden und Arbeitgeberinteressen erzwungen).

Das ist aber offenkundig nicht mal entfernt so aufregend wie das Getue antideutscher Polithysteriker.

Nunja, immerhin langt es dafür aus, dass ich von einem Kollektiv aus antideutschen Aktivisten (z.B. Gudrun E.) plus proamerikanischen Faschisten und Neocons gejagt und wiederholt sogar mit dem Tod bedroht werde.

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Was Götz heute vertritt, weiß ich nicht mehr so genau. Aber Spiritus Rector scheint mir da eh eher Susanne zu sein. Genau kann ich das auch nicht beurteilen, ich habe nur zweimal mit ihr gesprochen, aber sie hat definitiv theoretisch mehr drauf.

Es wäre aber noch nachzuweisen, inwieweit Götz Aly seine Volksstaat-Position wirtschaftsliberal meint. Von Haus aus gehören Götz Aly und Susanne Heim zur undogmatischen radikalen Linken, zur Autonomie-Neue-Folge-Richtung, die auch zum Beispiel Teile der westlichen Nachkriegs-Entwicklungs- und Bevölkerungspolitik als Fortsetzung der NS-Raumpolitik im Osten betrachtet und aktuelle Kriege im Trikont ("Dritte Welt"), aber auch den restriktiven Umgang mit Entwicklungskrediten und die Abschaffung von Brotpreissubventionen durch IWF-Diktate unter ihrer Funktion als Maßnahmen zur Reduktion der Armutsbevölkerung als "Vernichtung der überflüsigen Esser" in einen Zusammenhang mit "Euthanasie" und Shoah stellt. Wirtschaftsliberal würde ich eine solche Position nicht nennen wollen.

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Hi Doc,
die gegen Dich gerichteten Anfeindungen und Drohungen sind empörend. Ich würde jederzeit jedes Mittel einsetzen, um Deine physische Unversehrtheit zu gewährleisten.
Zudem ist die Position, die Du vertrittst, vom Menschlichen her nicht unsympathisch, aber ich meine, daß Du Dich verrennst.
Du willst das Gute herstellen, und suchst es in der "gesellschaftlichen Oberfläche" (Marx), an der es nun mal nicht zu existieren vermag. Deine Vorstellungen entsprechen denen der I. Internationale und der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts, über die Karl Marx aus guten Gründen sich lustig machte.
Deine Vorstellungen sind linke SPD, und wo die dann endete, sehen wir heute. Da ich keine 200 Jahre alt bin, habe ich die Entwicklung der SPD nicht direkt verfolgen können. Was ich jedoch erlebte, war die analoge Entwicklung der Ökos, die in den 70ern so radikal begannen. Ich erinnere mich noch gut an die Szene an der Uni Hannover, als ich ihnen die Entwicklung zur "Altpartei" vorhersagte. Langhaarige Herren und Damen im Schlabberlook empörten sich darob so gewaltig, daß ich froh war, den Seminarraum in dem Zustand verlassen zu haben, in dem ich ihn betreten hatte. Und wie sich das für einen gelernten Soziologen gehört, habe ich, wie man sieht, recht behalten.
Was ich im Kern ihnen vorwarf, war die blödsinnige Vorstellung, man könne den Kapitalismus innerhalb seiner selbst antikapitalistisch verbessern. Und eben das war die bereits von Marx durchschaute Illusion.
Wenn ich nun heute wieder vom "sozialistischen Kapitalismus" und vom "Kapitalismus von unten" lese, dann weht es mich an wie eine alte Erinnerung, die mich schaudern macht.

Ich habe das alles erlebt: Die alten Ex-Nazi-Säcke in der Auschwitz-Diskussion, die mir als Gymnasiasten sagten: "Sie waren doch gar nicht dabei!", und ich sagte: "Ich hoffe für Sie, Sie waren auch nicht dabei!"; die verängstigten Systemverteidiger, die meinten, Gesellschaftskritik sei obsolet, weil doch "jeder Arbeiter heute einen Kühlschrank hat". Die Neocons und Libertären sind doch nur deren Nachfolger in der Hirninsuffuzienz!

Nur: Davon darf man sich nicht blöd machen lassen, indem man das linkswendig spiegelt. Zertrümmere den Spiegel, Doc, sonst bringt er Dich um.

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Ach ja, die Jutta von Ökolinx
Ich habe mir heute die Freude gemacht Jutta und Manfred zu wählen. Nicht weil ich besonders überzeugt wäre (von wem auch schon?), sondern weil die Anwesenheit der besagten die Lebensqualität in der Stadtverordnetenversammlung merklich senkt. Zuerst trägt Jutta in ihrem eigenen Ton (kennt man aus den KVs der Grünen, als es noch die Fundifraktion gab ;-) vor und anschließend wiederholt Manfred, was Jutta schon vor zehn Jahren gesagt hat mit der nicht unüblichen Einleitung: "Die Jutta hat schon vor zehn Jahren gesagt..." Das schafft doppelt Leidensdruck bei unseren Vertretern. ;-)
Mit einem verstohlenen Grinsen verließ ich das Wahllokal. Grausame Rache.

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Ach, die Jutta ist doch zahm. Eine gute alte Freundin von mir erzählte mal einer Politsekte: "Ihr seid der letzte Kegelverein. Finde ich aber gut, dass es auch jetzt bei uns ein paar Schießbudenfiguren gibt, über die wir lachen können!" und als es mal zu Ausschreitungen von Autonomen gekommen war und am Rande auch noch Vegane eine Ökometzgerei zerdengelt hatten und viele saturierte Altlinke darüber laut jammerten , meinte sie: "Früher habt ihr Häuser besetzt und wart die Szene dieses Viertels und fandet das geil. Heute seid ihr bürgerlich geworden, habt nen breiten Arsch bekommen, Kinder in die Welt gesetzt und wollt aus den Viertel nen großen Kindergarten machen. Das läuft nicht, die Action bleibt im Viertel. Und Du, Metzger, Du wirst Dich ja wohl gegen ein paar halbverhungerte Gurkenkinder mit Deinem Schlachtermesser zur Wehr setzen können!"

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Sich halbverhungerter "Gurkenkinder" mit dem Schlachtermesser erwehren, ich bepiss mich vor lachen.
Wir hatten den vegan gehaltenen Hund einer Bekannten zur Pflege und ihn eines besseren belehrt, was nicht wirklich schwer war. Nach Rückkehr der Halterin gabs richtig Aufstand. ;-)
Jaja, schöne Zeiten als der Nica-kaffee keinem wirklich schmeckte und trotzdem alle ihn tranken.

btw. was macht uwe aka medvedj?? Ich dachte letztens an ihn http://kid37.blogger.de/stories/398977/#403716

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Uwe aka medvech befindet sich, sofern nichts mir Unbekanntes geschehen ist, seit anderthalb Jahren im Wachkoma.

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:-(

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Es gibt Alternativen
@noergler

Der Hauptdissens liegt m.E. hier: "die blödsinnige Vorstellung, man könne den Kapitalismus innerhalb seiner selbst antikapitalistisch verbessern"

Doch, man kann.

Ich bin volkswirtschaftlich und ökonomisch gebildet und klug genug, um mich - an dieser Stelle - Marx und seinen Nachfolgern überlegen fühlen zu dürfen.

Tatsächlich ist es möglich (Gestaltungswillen und Gestaltungsmacht vorausgesetzt), das kapitalistische (und oft auf Ausbeutung zielende) System in recht weiten Grenzen in seiner Funktionsweise zu beeinflussen, auch wenn es heutzutage immer weniger danach aussieht.

Ich behaupte gewiss nicht, dass das einfach wäre (aber: schon einfacher als die Erzwingung und die noch schwerere Errichtung eines alternativen ökonomischen Systems).

Es setzt z.B. auch eine Re-Form politischer und meinungsbildender Instititutionen voraus, die dauerhaft demokratisiert werden müssen (indem z.B. Geldinteressen wirksame bürgerliche Gegengewichte entgegengestellt werden).

Eine bedeutende Einzelfrage dabei ist dies: Der alte Irrlaube der Paläto-Liberalen, dass ein vollkommen "freies" Spiel der Kräfte im Bereich der Meinungsbildung automatisch zu "Demokratie" führe bzw. diese begünstige. Denn diese Idee ist unter den Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaft leider oft nur ein lächerlicher und der allgemeinen Manipulation sich wehrlos ergebender Irrtum, der nämlich das dauerhafte und manipulative Übermaß von Geldinteressen und Macht in diesem angeblich "freien" Prozess verkennt.

Möchte man die Bürgerinteressen (und zwar: alle Bürger, vor allem also "Bürger von unten") repräsentiert wissen, so muss man hier dauerhafte Gegengewichte und Gegeninstitutionen schaffen - erst dann ist das kapitalistische System demokratiefähig.

Es gibt viel zu tun.

Wenn wir im gesellschaftlichen Kräfteparallelogramm und in Fragen der Wirtschaftsordnung z.B. wieder in etwa den Stand der 80er Jahre hätten (plus den ökonomischen und technischen Fortschritt von heute), dann wäre das schon mal was - und auf dieser Basis könnte man in die richtige Richtung weitergehen, z.B. in Richtung gesellschaftlicher und ökonomischer Demokratisierung.

Reine Utopie? Nein. Das war und das ist machbar.

Ich bin gewiss kein weichgespülter Sozi bzw. ein "linke" Spiegelung, die im Zustand geistiger Orientierungslosigkeit vor allem "anti" ist, deshalb, weil ihr kaum etwas anderes übrig bleibt. Das wäre weitaus zu wenig.

Die linken Sozis sind nicht meine geistige Heimat; für mich sind das oftmals Irrlichter, so symphatisch mir deren Haltung in Einzelfragen (z.B. Pazifismus) auch ist. Sie sind mir oft "zu links", was ihren gesellschaftlichen Fundamentalismus angeht (z.B. in Ökofragen), und in ökonomischer Hinsicht halte ich linke Sozis für naiv, bestensfalls sind sie etatistisch - und das halte ich absolut für kein Kompliment.

Einen "Liberalismus von unten" - so etwas gibt es in der politischen Landschaft weit und breit kaum, allenfalls in gesellschaftspolitischer Hinsicht (das wären dann Sozialliberale und Sozis), nicht aber dort, wo es sehr notwendig wäre, in ökonomischer Hinsicht.

Da sind mir die alten Ordoliberalen am Nächsten, die übrigens heutzutage völlig verkannt werden, z.B. als Vorläufer des Neoliberalismus - dabei waren sie ideologisch das exakte Gegenteil! Sie müssten eigentlich nur auf den aktuellen Stand gebracht werden und um den Irrtum bereinigt werden, dass mit ökonomischen Fortschritt automatisch sozialer Fortschritt mitlaufe. Hier waren sie oft zu naiv (aber niemals auch nur entfernt so derbe naiv bzw. verlogen wie die Betrugsideologie des Neoliberalismus).

Wenn man ökonomisch vernünftigen Leuten zuhört (die sich z.B. über wirtschaftliche Übermacht, Machtmissbrauch und Konzentration genauso beklagen wie über bürokratische Verschwendungssucht und Etatismus), so wenig sind das nämlich nicht, dann sieht man, dass die Formierung eines im politischen Leben aktiven Linksliberalismus eigentlich keine völlige Utopie sein müsste, obwohl z.Zt. sogar die Errichtung einer "linksliberalen Plattform" in der SPD recht unwahrscheinlich aussieht.

Aber vielleicht wäre das ein guter erster Schritt.

P.S.
Ich meine, dass es keine funktionsfähige ökonomische Utopie bei den Linken gibt. Entweder haben wir hier lausigen Etatismus bzw. etwas, was ich "buntgesprenkelten Kapitalismus" nennen würde - oder wir haben es mit einer undurchdachten und bereits sehr übel riechenden Ursuppe aus Genossenschaften, Marxismus und einer bürokratischen Deformation von Gesellschaft zu tun.

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Sehe ich anders. Habe gerade wenig Zeit, sieh mir nach, wenn meine Antwort etwas dauert!

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Dr. Dean: Abkacker der Woche
In der Blogosphäre gibt es das Gesetz Nr. 1: Man ist, was man schreibt. Outriertheit, Angeberei und sonstige Präpotenz kommen da eher weniger gut. Man muß in der Sache bestehen, sonst kackt man ab.

Der Abkacker der Woche ist First_Dr.Dean.
Ich tue ihm jetzt das Schlimmste an, dessen ich fähig bin: Ich zitiere ihn.

Also sprach First_Dr.Dean:

"Ich bin volkswirtschaftlich und ökonomisch gebildet und klug genug, um mich - an dieser Stelle - Marx und seinen Nachfolgern überlegen fühlen zu dürfen."

Wir verstehen, daß Du, immerhin in der Selbstbewertung, gebildet und klug bist.

Dumm nur, daß der von Dir verbreitete inferiore Altsozi-Rotz von dem deutschen Gelehrten und Ökonomen Karl Heinrich Marx bereits in seiner Schrift "Kritik des Gothaer Programms" von 1890 abschließend erledigt wurde.

Aber jetzt schnell, Marxübertreffer: Was ist der Unterschied der Marxschen Begriffe "Wert" und "Tauschwert". Schnell antworten, da Du doch Dich Marx und seinen Nachfolgern überlegen fühlst.

10 Minuten.

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Noch 5 Minuten.

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Die Zeit ist um.
Dumm gelaufen. Weil: Jetzt habe ich den Freibrief.

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Da Anfang der 80er beim Nörgler die verschärfte Erheischung von Revenue angesagt war, habe ich seit diesem Zeitpunkt die Entwicklungen in diesem Spektrum nicht mehr verfolgt. Mit Verwunderung und Bestürzung lese ich, was aus Pohrt und was aus der "Marxistischen Gruppe" geworden ist.

@ Pohrt
Seine Aufsatzsammlungen "Endstation", "Ausverkauf" und "Stammesbewußtsein, Kulturnation" habe ich seinerzeit mit Begeisterung gelesen. Der Essay über den Auschwitz-Kommandanten Höß ist für mich bis heute das Beste, was über das "3. Reich" je geschrieben wurde.
Ich lernte ihn auf einer Veranstaltung einer Ev. Akademie kennen. Da haben wir die christlich-grünen Natur- und Friedensfreunde aufgemischt, daß es nur so seine Art hatte. Pohrts kompromißlose Verweigerung jeglicher Affirmation – die einzig adäquate Stellung des Gedankens zur Realität – machte ihn mir innerhalb einer Nanosekunde zum Seelenverwandten.
Um so trostloser, daß er sich offenbar selbst untreu wurde. Er, der große Kritiker aller Heimat-Idolatrie, ist nun selber in die Heimatfalle gegangen.
Die radikale Kritik ist nicht Nihilismus, aber ihr inhäriiert (Tschulligung!) der Nihilismus als Moment. Das konnte Pohrt wohl irgendwann nicht mehr durchhalten und aushalten. Schade, sehr schade.

@ "Marxistische Gruppe" / "Arbeitskonferenz" München
Auch hier erinnere ich mich, wie die mal gestartet waren. Die übrige Linke unterschied sich zwar haßerfüllt in Moskau- und Pekingfreunde, und dazwischen torkelten ein paar zombiemäßig abgehärmte Trotzkisten umher. Doch war man sich darin einig, daß das Studium der Marxschen Theorie das Studium der Marxschen Texte durchaus nicht erforderte. Vielmehr begnügte man sich mit diversen aktuellen und historischen Kurzfassungs-Traktaten, deren Bezeichnung als "Schmutz- und Schundhefte" mir die Herzen der Avantgarde des Proletariats nicht wirklich zufliegen ließ. Daß ich damit der Weltrevolution in den Rücken fiel, mochte ich nicht recht einsehen; auch die Bezeichnung "Salon-Sozialist" mußte ich mangels Reichtum ablehnen. Aber vom "kleinbürgerlichen Marxologen" haben ich mir den Marxologen seither als Ehrentitel angeheftet.

Wie anders die MG! Das Studium der blauen Bände war Grundlage. Ich war bei denen nie dabei, aber die Kapital I-Kommentare der "Arbeitskonferenz" waren wichtig für die Marx-Schulungen, die ich durchführte, und die auf dem Höhepunkt der, ähm, Bewegung 120 Marxologinnen und Marxologen umfaßte, die planvoll in die Seminare der linken Dozenten (andere gab es da nicht) strömten, und dort klarmachten, daß die nicht in der Lage waren, ihr Fach zu vertreten.
Als nun von Bremen kommend die MG vor Ort Fuß fassen wollte, machten wir den Gegenvorschlag, die MG solle sich doch uns anschließen. Von da an war natürlich Krieg.

Zurück zum Punkt, wie die mal gestartet waren. Die Zeitschrift, die sie herausgaben, war intelligent und witzig. Ein Beispiel: Es begab sich zu der Zeit, daß der "Marxistische Studentenbund Spartakus", die studentische "Massen"organisation der DKP – Histomat, Diamat, Automat -, einen Literaturwettbewerb ausgeschrieben hatte. Der Sieger war, man rät es nicht, der Bundesvorsitzende des MSB Spartakus. Er hatte, um zu beweisen, daß Kommunisten keine Spießer sind, einen ekelhaft klebrigen, urspießigen Softporno verfaßt, der die historisch zwangsläufige Parallelität von richtigem, parteitreuem Bewußtsein und gelungenem Samenerguß nachwies.
Der ausführlichen Verriß durch die MG, bei dem jeder Satz mir die Lachtränen in die Augen trieb, hatte die Head "Die tröstende Hand am Abflußrohr". Das war brillant; das hätte in der "Fackel" stehen können.

Die Wende in die Spaßfreiheit habe ich selbst noch mitbekommen. Bei einer mehrtägigen studentenfördernden Veranstaltung paßte mir die ganze Richtung nicht, und ich hatte den Eindruck, daß da eine Frau war, der das auch nicht paßte. (Nein, ihr Schweine, ich war nicht scharf auf sie; sie entsprach nicht meinem Beuteschema.) An ihrer Diktion erkannte ich die AK. Ich sprach sie an und machte den Vorschlag, gemeinsam in zynisch-kritischer Weise die Raumtemperatur abzusenken, und die Marx-Fundierung der AK fände ich sowieso OK. Ich wurde in einen leeren Konferenzsaal gezerrt; die auf Kipp stehenden Fenster wurden hastig geschlossen. Daraufhin flüsterte sie mir zu, daß sie mit der AK nichts, aber auch gar nichts zu tun hätte. Ich sagte: "Ey, wir planen hier nicht den Mord an Kennedy." Verdutzt guckte ich hinterher, wie sie rausrannte.
Da man sich im Leben immer zweimal trifft, begegnete ich ihr 1 Jahr später an einem universitären Büchertisch der AK und erinnerte sie an den Konferenzsaal. Alles abgestritten, klar.

Ich sehe in alledem ein fatal-schicksalhaft sich ereignendes Schema: Der Vordersatz stimmt. Die Theorie ist richtig. Aber statt nun weiterhin der Arbeit des Begriffs sich zu unterziehen, schwächelt man und zieht das ins Praktische. Das Praktische als solches ist unvermeidlich positiv, die Kritik ihrem Wesen nach ist negativ. Aus ihr ist keine positive Wendung zu gewinnen. Macht man aber dennoch das nicht Machbare, so ergibt sich aus diesem Widerspruch notwendig der Irrsinn. Wenn ich das "3. Reich" zutreffend als ein Phänomen der Normaldeutschen erkenne, und daraus dann praktische Konsequenzen ziehen will, lande ich notwendigerweise in der israelischen Armee.

Dann blende ich aus, daß mehrfach ganze Mannschaften, Offiziere und Eliteeinheiten in Israel sich weigerten, weiterhin gegen Palästinenser vorzugehen. (Quelle: Spon) Daß "Meine Ehre heißt Treue" zum terminus ad quem für Pohrt wurde, macht mich traurig.

So auch die Bahamas: Die Ablehnung des "Sozialismus in einem Land" ist jedenfalls marxkompatibel, wie sein Briefwechsel mit Vera Sassulitsch zeigt. (Das haben die Bahamas nicht mal entdeckt. Das kommt davon, wenn man Marx nicht liest.) Es ist Defätismus der Theorie und subjektiv wohl, psychoanalytisch gesprochen eine Ich-Schwäche, der eigenen Erkenntnis derart zu mißtrauen, daß ein Hang zu deren praktischer Unterfütterung entsteht. Nach der aristotelischen Logik ist das, ich muß leider umlauten, eine "anabasis eis allo genos", das heißt, die unzulässige Übertragung der Logikfunktion eines Bereichs auf einen anderen. So fällt man eben auf die Schnauze, wenn man die Tradition der Erkenntniskritik nicht kennt.

Den Theorieschwachen scheint die Theorie schwach. Der Krakeel der zum Praktizismus Übergegangenen verbündet sich nicht zufällig mit den je am stärksten erscheinenden Bataillonen. Das macht sie blind noch für die Praxis, die sie anbeten: Scharon steuerte um, als er erkannte, daß seine Armee nicht das stärkste Bataillon ist und die durchgeknallten Siedler bloß seinen Staatshaushalt ruinieren, und GWB ist auch schon von Zweifeln angekränkelt, von seinem Volk ganz zu schweigen. 65 % Antiamerikanisten in den USA – Broder hilf!

@ "Verweigerung jeglicher Affirmation"
Ausgenommen sind hiervon selbstverständlich die schottischen Single Malts. Gestern abend habe ich einen Glenlivet 18 Jahre, 1 Ltr., 43 % geöffnet.

Nase: Fruchtige Säure und Eichenholzfaß. Tiefere Erforschung und mehrmaliges Nosing, nachdem ich das Glas 15 Minuten stehen ließ, lassen Äpfel und Birnen hervortreten, die zuerst nicht erkennbar waren.
Mund: etwas Torfrauch, Gewürziges, edle Schokolade.
Abgang: lange Erinnerung, schwerpunkthaft nehme ich das alles in sich einbegreifende Holz wahr.

Kommentar: Ein sortentypischer glänzender Speysider, der seine 50 Euro wert ist. Wieder mal erstaunlich, daß Nase und Gaumen ganz unterschiedliche Aromen wahrnehmen – ein Beweis für die raffinierte Komplexität.
Die Tiefe und Substanz dieses Malts lassen mich vermuten, daß weitaus ältere Fässer als das 18-jährige hier mit eingeflossen sind. Das Gesetz schreibt vor, daß die Altersangabe sich auf den jeweils jüngsten bezieht.
Dieser Malt ist eine wirklich schöne Sache, im Unterschied etwa zu Qualitäts-Downgradings beim 10-jährigen Laphroaig und dem 16-jährigen Lagavulin.

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Moment,Nörgler, um eins klarzustellen: Pohrt ist nicht selber einer der Antideutschen geworden, die berufen sich nur auf ihn, er, antiaffirmativ wie eh und je, hat sich aber heftigst von denen kritisiert. Nebenbei, zum eigenen politischen Herkommen verweise ich nochmal auf dieses alte Posting von mir
http://che2001.blogger.de/stories/382362/

das war nämlich eine gänzlich andere Sache als das KPDmbH-Tum der sogenannten Marxorthodoxen.
Detlef Hartmann hat da mal eine schöne Abrechnung geschrieben mit dem Titel "Warum Marx kein Marxist war und kein Leninist geworden wäre" und darauf hingewiesen, dass, wer Marx verstehen wollte, auch Weitling und Bruno Bauer kennen müsste. Stimme ich voll zu.

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Ach ja, Che. Ich hatte mir das erhofft, daß Du sagst: Oouuhh, der Nörgler, wie er leidet, wie wir ihn lieben. Weil er so authentisch ist, so wahr, so rein. ;-)

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Ich hab ja Appretur, aber es klang schon so, als wäre Pohrt da dazugehörig.

Ist das hier von Dir:

"Das Problem bei Pohrt, einem Philosemiten, der sich freiwillig zur israelischen Armee gemeldet hatte, weil er dies als Wiedergutmachung für die deutschen Greuel betrachtete, ist seine Arroganz. So nterviewte er einen Kandidaten der Republikaner und attestierte diesem eine debile und deformierte Sprache, die auf eine charakterliche Pathologie schließen lasse. Tatsächlich war es einfach die Sprechweise eines ungebildeten Arbeiters, dem die Geschliffenheit des marxistischen akademischen Intellektuellen fehlt. Als ich Studierenden Auszüge aus Pohrts Studie vortrug, waren diese kaum davon zu überzeugen, dass dies keine Satire sei."

Hm, und wie, und jetzt? Zurückrudern, oder was?
Erst auf die Kacke hauen und dem Pohrt eins reinwürgen, was ich dann glaube, weil ich von alledem seit über 15 Jahren kein Ahnung mehr habe, weil ich die 60 bis 90-Stunden-Woche rabotte.
Kannst Du Dich bittesehr mal auf Klartext verpflichten?

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Das, Nörgler, ist kein Widerspruch. Er hatte sich tatsächlich zur israelischen Armee gemeldet, zu der Formulierung Philosemit stehe ich auch, aber Pohrt hat daraus kein politisches Programm gemacht, es war seine individuelle Haltung. Dass die Antideutschen darauf richtig abgefahren sind, dafür kann Pohrt nichts. Und, wie gesagt, das Interview etc. das war so, wie geschildert. Pohrt würde ich als widersprüchlichen, schillernden Provokateur bezeichnen, intellektuell in einer ganz anderen Klasse als Diejenigen, die ihn für sich vereinnahmen wollten. Wie gesagt, deren Versuche hat er zurückgewiesen.

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@Dr.Dean: Also, was politisch-ökonomische Perspektiven angeht, bin ich, so muss man wohl sagen, Operaist. Mein politisch-ökonomischer Bezugsrahmen ist eine Verbindung aus Wertkritik, Kritischer Theorie, französischem Strukturalismus und dem sogenannten neuen Antiimperialismus, um das an Zeitschriftentiteln festzumachen, zwischen Autonomie Neue Folge, Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Subversion und Wildcat. Oder, um die für mich wichtigsten Philosophen zu nennen, Adorno, Horkheimer, Marcuse, Lacan, Lévy-Strauss, Bourdieu und Baudrillard. Ich bin der Auffassung, dass der Kapitalismus aus seiner inneren Gesetzmäßigkeit auf sein Ende zusteuert (würde mir nicht anmaßen, zu sagen, wann das sein wird) und daas Zeitalter, in dem Sozialismus möglich wird, dann kommen wird, halte die Oktoberrevolution für eine bürgerliche Revolution und den Kasernenhofkommunismus für eine Sonderform des Kapitalismus. Ich weiß nicht, wie da Linksliberalismus hinein passen soll. Allerdings stimme ich Dir zu, dass es sehr verschiedene Spielarten des Kapitalismus gibt, und dass der norwegische dem US-amerikanischen vorzuziehen ist. Ich würde auch lieber in einem keynesianisch organisierten Staat leben (damit meine ich keine Wohlfahrtsbürokratie, sondern zunächst das Vorhandensein sozialer Rechte) als in einem wirtschaftsliberalen, dies aber nur im Sinne "Kleineres Übel".

Und was die Ordoliberalen angeht, denenDu Dich so verbunden fühlst: Ich sehe eigentlich keinen grundlegenden Unterschied zwischen deren Positionen und dem Keynesianismus eines Schiller oder Albrecht Müllers Antineoliberalismus.
Die philosophischen Traditionen, aus denen sie kommen und die Argumentationsmuster sind verschieden, in der praktischen Politik scheint mir das aber auf das Gleiche hinauszulaufen. Aber wahrscheinlich dürfte es auch schwer sein, einem Außenstehenden die Unterschiede zwischen einem operaistischen Autonomen und einem Anarchosyndikalisten zu erklären.

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Noch mal zurück
zum Ursprungsposting: Danke an den Verfasser für diese politische Weiterbildungsmaßnahme. Da ich in diesen ganzen Splittergruppengeschichten nicht soo firm bin, hilft mir dieser Beitrag, das Phämonen der Antideutschen etwas besser einsortieren zu können. Natürlich bin ich in der Blogosphäre auch über ein paar Protagonisten und Positionen gestoßen, aber irgendwie ergab das alles nicht so recht Sinn, wenn ich versuchte, Antideutschtum im politischen Koordinatensystem wirklich bei "links" einzusortieren. Ich hab "links" immer als Absage an jeglichen Rassismus verstanden...

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schließe mich mark an und danke!

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Bitteschön. Es war verdammt hart, über Jahre hinweg mit solchen Leuten politisch zu tun zu haben.

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@ che: Danke für die aufschlussreiche Ideen- und Wirkungsgeschichte. Für einen Nicht-Geistes- und Nicht-mal-Wissenschaftler wie mich, war das eine schöne Einführung.

Die Frage die ich mir immer wieder stelle: Lohnt es sich die Typen [Antideutschen] links oder rechts zu stellen, oder wäre es nicht sinnvoller, sie einfach dort liegen zu lassen?

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Nun, Sinn dieser Arbeit ist es ja, die verschiedenen Elemente eines aktuellen Wohlstandsrassismus herauszustellen, und da gehören sie einfach dazu, auch wenn sie politisch marginal sind.

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Aktualisiert: Pohrt und die Antideutschen
@nörgler et al: Die Widersprüchlichkeit und Vertracktheit des Ganzen wird auch durch diese Links wiedergegeben:

http://www.jungle-world.com/seiten/2004/17/3040.php


http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Pohrt


http://de.wikipedia.org/wiki/Antideutsch


http://www.edition-tiamat.de/Autoren/wolfgang_Pohrt.htm

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Pohrt ist ein intelektueller Provokateur, der in das linke theoretische Vakuum reinschreibt. Einige wollten in ihm den Messias finden, den sie auch ohne ihn woanders gesucht hätten - einfach weil sie einen Messias brauchen. Dagegen hat er sich nur mit seinen Volten zu schützen gewußt. Mich erinnert der Fall Pohrt an das Leben des Brian.

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Sein letztes Buch, das sich mit dem organisierten Verbrechen und der Tribalisierung unserer Gesellschaft beschäftigt, muss ich unbedingt mal lesen.

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Seine These, wer es schafft in die Festung Europa einzudringen, habe das Rüstzeug, Rausschmeisser im frankfurter Bahnhofsviertel zu werden oder Daimler-Chrysler zu führen, treibt den Multi-Kulti-Folkloristen natürlich den Schaum vor's Maul. Dafür kann man ihn schon mögen.

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Nun, ich habe Leute kennengelernt, die in die Festung hineingekommen sind, da hat einer ein Verhör des iranischen Militärs überstanden, ohne zu reden - mit dem nackten Arsch auf der glühenden Herdplatte. Erfrischend war bei denen immer, dass sie keine Angst vor gefährlichen Demo-Situationen hatten - woher auch. Heute sind es voll integrierte deutsche Staatsbürger, ganz im Ernst.

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Danke, Che, für die Links! Viel Text, aber interessant. Schön zu wissen, daß Pohrt doch nicht in die Knie gegangen ist. Da hatte ich wohl was mißverstanden.

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Bei dem in der Tat brianesken Hickhack den Überblick zu behalten ist auch weißmarx nicht einfach. Im Gegensatz zu seinen plagiatorischen Epigonen ist Pohrt der Selbstkritik fähig.

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@Che
Operaismus verstehe ich mehr als eine Kampfesform bzw. Kampfideologie und weniger als eine Idee zur Wirtschaftsorganisation. Sind Fabriken mit ihrer Arbeitsorganisation, sobald sie von Arbeitern besessen werden, nicht immer noch Fabriken?

Der Oparaismus mag darauf ein paar Antworten geben, jedoch keine ökonomisch konsistenten, die über ein Wolkenkuckucksheim deutlich hinaus reichten.

Was ist z.B., wenn eine unangenehme Arbeitsorganisation beibehalten werden muss, damit sich ein Betrieb noch lohnt? Und was, wenn man stattdessen ökonomisch nicht-lohnende Betriebe aufrecht erhält? Wie entkommt man z.B. in einer Werkzeugmaschinenfabrik den typischen Dilemmas des "sozialistischen" (d.h. bürokratischen) Betriebes? Man kann diese drei simpel vorgetragenen Vor-Fragen zum Anlass nehmen, den Operaismus als inkonsistente und eine effiziente Gesamtkoordination eben nicht ermöglichende ökonomische Idee zu kritisieren.

Das Sympathische des Operaismus aus deiner Sicht, Che, ist vermutlich neben der dort verbreiteten Militanz und relativen Dogmafreiheit die unmittelbare Kopplung an die Betroffenen - fernab von marxistischen Kadern bzw. sozialistischen Bürokraten.

Letzteres ist durchaus ein Pluspunkt.

Zu bedenken gebe ich hier einmal, dass die im Oparaismus weiterhin bestehende Konzentration auf den Begriff "Arbeiter" historisch überholt ist bzw. auf die Begriffe "abhängige Beschäftige"/Arbeitnehmer zu übertragen wäre. Dann meine ich, dass, wie so oft bei Linken, der gesellschaftlich verteilbare Wohlstand völlig überschätzt wird, während wiederum Fragen der gesellschaftlichen Ordnung nicht wirklich durchdacht sind bzw. lediglich aus einer Befreiungs- und Anti-Perspektive, so, als ob es nur auf die Durchführung einer erfolgreichen Revolution ankäme. Doch, was dann?

Tja, und drittens bzw. vor allem meine ich, dass die Organisation einer gesamtwirtschaftliche Ordnung illiberal und in einer nicht-nachhaltigen Weise bedacht wurde.

Die diversen sozialistischen Staaten und Gesellschaften haben in der Praxis oft genug bewiesen, dass der Besitz von Produktionsmitteln (der auch von Oparaisten überschätzt wird) von weit geringerer Bedeutung ist als die Ausgestaltung von Koordinationsmechanismen, mit denen deren Zusammenspiel organisiert wird.

Im Gegensatz zu den Oparaisten glaube ich an die prinzipielle Funktionsfähigkeit eines marktlich organisierten Leistungswettbewerbs. Es kommt lediglich (*räusper*) darauf an, diesen Leistungswettbewerb so auszugestalten, dass er den Menschen dient - statt wie bislang zu wenigen Menschen.

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Sorry, aber unter Operaismus verstehe ich in erster Linie einen (natürlich an die Basis politischer Bewegungen) gekoppelten Ansatz in der Analyse. Und mit den bisher existent gewesenen sozialistischen Staaten hat das so sehr viel auch nicht zu tun. Es gibt auch keine Konzentration auf den Begriff "Arbeiter", nicht umsonst reden etwa K.H.Roth oder Wildcat von der permanenten Neuzusammensetzung der Klasse, und da fallen etwa prekarisierte Akademiker oder Ich-AG-Jobber auch rein.

Sorry, heute abend ist mein Kopf zu voll, umdiese Diskussion vertieft zu führen.

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Der Doc hört einfach nicht auf mit seinem sozialdemokratischen Rumgekasper.
" ... glaube ich an die prinzipielle Funktionsfähigkeit eines marktlich organisierten Leistungswettbewerbs". Da muß man im Glauben sehr fest sein, um an diesem empirisch falsifizierten Käse festzuhalten. Angesichts der sozialistischen Marktwirtschaft, die Lenin ("Neue Ökonomische Politik") und Ulbricht ("Ökonomische Hebel") vor die Wand gefahren hatten, ist der Glaube an die unbefleckte Empfängnis weitaus plausibler. Natürlich ist der gelernte Ökonom Doc viel schlauer als die Vorgenannten und hätte historisch alles richtig gemacht.
Ey, zieh Dir mal Marx' "Kritik des Gothaer Programms" rein. Das räumt Dir den Illusionsmüll aus der Birne!

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Dr. Dean, ich greife mal ein paar Deiner Beispiele auf:

"sInd Fabriken, obald sie von Arbeitern besessen werden, nicht immer noch Fabriken?


Was ist z.B., wenn eine unangenehme Arbeitsorganisation beibehalten werden muss, damit sich ein Betrieb noch lohnt? Und was, wenn man stattdessen ökonomisch nicht-lohnende Betriebe aufrecht erhält? Wie entkommt man z.B. in einer Werkzeugmaschinenfabrik den typischen Dilemmas des "sozialistischen" (d.h. bürokratischen) Betriebes?"


Nun, in Argentinien sind zur Zeit Hunderte von Betrieben von den Arbeitern besetzt (sie nennen es z.T. enteignet), sie führen die Produktion auf eigene Rechnung weiter, suchen sich ihre eigenen Märkte, und es funktioniert, wenn auch nicht immer gut und leicht. Es hat ja niemand behauptet, dass Sozialismus ohne Plackerei zu haben wäre, Aufhebung von Entfremdung bedeutet Selbstbestimmung, aber nicht Bequemlichkeit. Diese, ich sage mal ganz pathetisch, revolutionär enteigneten Betriebe werden eher sehr unbürokratisch geführt, wie auch von unten organisierte Genossenschaftsmodelle wenig mit Bürokratie zu tun haben. Was ist an einem klassischen Kibbuz bürokratisch? Bürokratisch ist Sozialismus immer nur dann, wenn zentralistisch von Staatsseite Unternehmen "sozialisiert", d.h. verstaatlicht werden und bürgerliche Führungskräfte die Lenkung der Wirtschaft übernehmen. Nicht umsonst waren es in der Vergangenheit die Kommunisten, die unmittelbare Revolutionsversuche der Arbeiter selber (Kronstadt, Gula
j Polje, Katalonien) niedergeschlagen haben, weil ihre bürgerlichen Protagonisten nichts mehr fürchteten als Kontrollverlust.

Das soll nun nicht heißen, dass man in Argentinien auf dem Weg zur wahren sozialen Revolution wäre, es handelt sich eher um Formen der kollektiven Selbstverteidigung in einer besonderen Krisensituation, aber ich glaube auch nicht, dass die Zeit für die große soziale Revolution reif ist. Es geht eher darum, zu sehen, was man dem neoliberalen Durchmarsch entgegensetzt, und da scheinen mir die dortigen Aktionen die richtige Antwort zu sein.

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Auch in Europa gibt's Beispiele für eine gelungene Selbstverwaltung; und das sogar in grossem Stil.

... warum der Name Mondragon überhaupt jenseits der baskischen Berge bekannt ist: Sie beherbergen die Genossenschaft Fagor, die sogenannte Weiße Ware herstellt - also Kühlschränke, Herde, Waschmaschinen und dergleichen. Fagor ist nur ein Teil eines rund 120 Genossenschaften umfassenden Verbundes, der weltweit unter dem Namen Mondragon (1) firmiert. Und was bei uns kaum bekannt ist: Mondragon ist mit fast 70.000 Mitarbeitern die großte Industriegenossenschaft der Welt, sie stellt neben der Weißen Ware ebenso Autoteile her wie ganze Press-Straßen oder Elektroteile. Mondragon ist sehr erfolgreich und in Spanien mittlerweile zum achtgrößten Unternehmen aufgestiegen. Und
Mondragon "gehört" den Arbeitern und ist basisdemokratisch organisiert.

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@noergler
von mir: " ... glaube ich an die prinzipielle Funktionsfähigkeit eines marktlich organisierten Leistungswettbewerbs"

Darauf noergler: "Der Doc hört einfach nicht auf mit seinem sozialdemokratischen Rumgekasper."

Nun, in Wahrheit ist es noch viel schlimmer. Die von mir vertretene Position ist ja garnicht sozialdemokratisch, sie geht deutlich weiter, weil nämlich recht gravierene Eingriffe in den Ordnungsrahmen des Wirtschaftsgeschehens gefordert werden, dort, wo Sozialdemokraten lediglich ein hilflos-wirkungsloses Vorsichhinwurschteln oder aber üblen Etatismus anzubieten haben.

Aber davon ab, die Diskussion zeigt etwas m.E. sehr Bedeutendes, wenn wir wieder die Antideutschen ins Visier nehmen!

Dort nämlich würde man Fragen gesellschaftlichen Fortschritts, wie beim argentinischen Beispiel, kaum jemals leidenschaftlich und ernst diskutieren, dort geht es allein um eine Frontstellung, und eben nicht um eine bessere Wirklichkeit. Eigentlich geht es nur um Spaltung, Geschrei und die Denunzierung linker Ideen.

Die Antideutschen sind ihrem Wesen nach reaktionär.

@Che
Das argentinische Beispiel verdient sorgfältige Betrachtung, z.B. in Hinblick darauf, ob sich daraus eine gesamtwirtschaftliche Perspektive entwickeln ließe. Meine, zugegeben sehr schlampige, Vorab-Bewertung lautet: teils-teils.

Begründung folgt.

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