Montag, 23. Oktober 2006
Fernsehtipp
Gleich geht´s los, auf Arte: Fatih Akins "Gegen die Wand".

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Meine Provinz und ich
Nicht, dass mir die von Don ausgelobten Gabeln wichtig wären - aber hier kommt mein Beitrag zum Contest.


Ich gehöre nicht zu den Honoratioren, wohl aber zur Lokalprominenz der Provinzstadt. Wenn ich in Urlaub fahre, verabschiedet sich der Stadtdirektor von mir, ich habe im Theater zwei Ehrenplätze direkt hinter dem OB, in der Fußgängerzone grüßen mich Passanten mit Namen, da ich bekannt genug bin.

Ein Blick in den Rückspiegel. Die Enduro, die die ganzeNacht hinter unserer Villa Kunterbunt im Park gestanden hat, nimmt die Verfolgung auf. Nach einer Weile spricht der Fahrer in ein Funkgerät und biegt ab, während nun ein VW-Bus mit der Werbung eines Service-Unternehmens hinter mir herfährt. Meine Briefe kommen zwei Stunden später an als beim Rest der Hausgemeinschaft dafür, etwas Service darf man ja erwarten, geöffnet. Eine Mitbewohnerin bringt Müll zum Müllcontainer, zu dem und von dem zurück ihr eine gelber Postbus folgt. Seit Wochen geht das so. Wir verabreden uns telefonisch zur Übergabe einer Kiste mit Granaten und können dann amüsiert verfolgen, wie viele Einsatzkräfte der Überreichung eines Kastens Jever beiwohnen. Die ganze Farce endet, als ein grinsender Richter das Verfahren einstellt und ein grinsenderer Anwalt seine Robe in die speckige aktentasche knüllt und schulterklopfend sagt: "So viel zum Thema 129a)!"



Niemandem aus meiner jetzigen Umgebung könnte ich dies erklären. Diese kommunalen und Provinzhochschul-Bediensteten, mittelständischen Unternehmer, Juristen und IHK-Funktionäre, PRler und Designer, Journalisten und Berater, mit denen ich so zu tun habe, haben zu dieser Vergangenheit, von der ich mich nie distanziert habe, sondern der ich langsam entwachsen bin, keinen Bezug. Nicht, dass ich mit meiner Vita hinterm Berg hielte, manche Erlebnisse haben für meine jetzige Umgebung großen Unterhaltungswert, aber ich teile mit ihnen nur das Hier und jetzt, weder das Gestern noch das Morgen.


Die Nacht im Minenfeld im Sinai, der Anblick eine explodierenden Autos, wo ich gerade noch gestanden hatte,die Genossin, die sie nackt an den Armen aufhängten und der sie unsagbare Scheußlichkeiten androhten, bis ein Anruf von ganz oben sie rettete, das Grauen, als wir Fotos von Azads Heimatdorf sahen, auf das sie Schrappnellbomben so dicht geworfen hatten, dass eine jede im Wirkungskreis der anderen detoniert war, so etwas vergisst man ebensowenig, wie die vielen Situationen, wo man gemeinsam Solidarität und eine tiefe Mitmenschlichkeit erfuhr, das ist keine Vergangenheit, die man ablegt wie einen Mantel.


Der Zweite Bürgermeister eröffnet eine Ausstellung, ich halte eine Laudatio. Klickblitz, klickblitz, klickblitz, shakehands, wiedermal. Dieses biedere, etwas konservative, in religiösen, sexuellen und migrationspolitischen Fragen liberale Millieu ist gar nicht so schlecht, hätte ich immer hier gelebt, hätte bei mir möglicherweise keine Radikalisierung stattgefunden, eher ein Aussteigen Richtung Travellertum, Stairway to heaven am Strand von Lombok singend.

Szenenwechsel: Man gibt 60 000 Euro für eine Lautsprecheranlage und ein Übersetzerbüro aus, damit wir zwei den Vorständen, Aufsichtsräten, Gewerkschaftern und Frauenbeauftragten unsere Rechercheergebnisse zu den Tätigkeiten des Konzerns in diesem schönen Lande vortragen können, übersetzt in 3 Sprachen. Sie erwarten eine gehübschte Werksgeschichte mit einigen kritischen Anmerkungen, man hält sich Historiker schließlich als so eine Art Hofnarren.


Wir aber erzählen in Seelenruhe, wer wann welche spektakulären Unfälle verursacht hat, wie man mit den Generälen gekungelt hat, dass die Lautsprecherboxen auf der Plaza major einmal aufgehängt wurden, um die Schreie der Gefolterten im Keller des Justizpalasts mit Gedudel zu übertönen, wie man der Stadt Wasserrechte abkaufte, erzählen den Gewerkschaftern und Frauenbeauftragten, welche Rechte sie in Deutschland hätten, wir nennen schrecklich viele Namen und Daten. Mitten in unserem Vortrag geht ein Vorstandsvorsitzender wortlos, andere schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. So schnell werden die keinen Historikern mehr die Werkstore öffnen. Am Abend, bei Languste und Rotwein, lobt uns unser Gastgeber und sagt, wir hätten genau die richtigen Fragen thematisiert, da hätten einige Täter mit im Saal gesessen.

So gesehen, bin ich nicht spießig geworden, habe nur das Kampffeld gewechselt. Einige gezielte, stachelige Interventionen gehen noch immer. Ein Bruch in meinem Leben?

Nö, nur eine große Bandbreite.

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Vielerlei Kapitalismus
Im Rahmen einer interessanten Debatte http://che2001.blogger.de/stories/574233/ schrieb Rayson, dass eine in wesentlichen Teilen von einer autoritären Führung gelenkte Wirtschaft alles andere als kapitalistisch sei, in diesem Sinne sei der NS/Faschismus eigentlich kein politisches System innerhalb des Kapitalismus. Die von mir vorgetragene Definition des Kapitalismus als Marktwirtschaft mit Privateigentum an Produktionsmitteln und Mehrwertschöpfung als Produktionsziel wies er als zu unvollständig und zu speziell zurück, da auf jeden Fall der freie Markt und die von staatlichen Zwängen unkontrollierte Wirtschaft hinzugehörten. http://martinm.twoday.net/stories/2768707/#2770304


Ich habe darüber nachgedacht, mich ein wenig in der Geschichte umgesehen und bin zu dem Resultat gekommen, dass Kapitalismus dann wohl ein eher randständiges und nur in historischen Ausnahmesituationen auftretendes Phänomen sein dürfte, wenn man diese Definition eng auslegt und richtig ernst nimmt. In der ganzen Nachkriegszeit bis zum Auftreten von Reagan und Thatcher war der hoch regulierte keynesianische Wohlfahrtsstaat der Normalzustand der westlich-kapitalistischen Welt, eine Gesellschaftsformation, in der ich aufgewachsen bin und die mich prägte. Eine andere Kapitalismusdefinition vertritt mein Vater, der mittlerweile auf Diskussionsrunden wie die von Sabinsen von gestern Abend mit blankem Hass reagiert. Für ihn ist der Sinn und Zweck einer kapitalistischen Wirtschaft, ihre einzige Existenzberechtigung, die Finanzierung eines Sozialstaats, und darunter stellt sich mein Vater den Sozialstaat der 1970er Jahre vor, wo es noch selbstverständlich war, dass man für Zahnersatz und Brille absolut nichts dazuzahlte, Hausbesitzer Renovierungsarbeiten vom Staat bezuschusst bekamen und der Arbeitnehmer als Solcher alle 5 Jahre eine vom Staat bezahlte Kur machte, unabhängig davon, ober er krank war oder nicht. Für meinen Vater hat das politische System der Bundesrepublik Deutschland seit Verabschiedung der Hartz-Gesetze jede Existenzberechtigung und moralische Legitimität verloren. Dabei ist mein Vater nicht etwa ein linker Intellektueller, auch kein dem Kapitalismus besonders fernstehender Mensch, sondern ein pensionierter Bankdirektor, der seine politische Sozialisation in der Ära Adenauer/Ehrhardt/Kiesinger erhalten hat. Diese Ära zeichnet sich durch ein hohes Maß an Koporatismus aus. In Permanenz über Jahre tagende gemischte Kommissionen aus Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Regierung bzw. Krankenkassen, Ärztekammern und Regierung legten Löhne, Gehälter, Arbeitszeiten und Finanzierung des Gesundheitswesens fest, ohne dass es zu Arbeitskämpfen kam, die entscheidenden Beschlüsse fanden auch nicht in Tarifrunden und nicht im Parlament, sondern in den Kommissionen statt (Konzertierte Aktion). Ludwig Ehrhardt bezeichnete die soziale Marktwirtschaft mit ihrem hohen Organisationsgrad in Form mächtiger und die Sozialpolitik gestaltender Verbände selbstgefällig als die "Formierte Gesellschaft". Etwas, womit meine Eltern hautnah zu tun hatten, war die staatliche Zwangsverwaltung des Wohnungswesens, die bis 1965 bestand. Bedingt durch die Wohnraumverluste des Bombenkriegs besaßen die Wohnungsämter die Macht, jedem Hausbesitzer Mieter zuzuweisen. So wohnten meine Eltern als Besitzer eines mehrstöckigen Mietshauses in der eigenen Wohnung mit zwei anderen Familien zusammen, mit denen sie sich Küche, Bad und Toilette teilten. Sie bewohnten mit zwei Kindern innerhalb der eigenen Wohnung lediglich ein Zimmer. Mietern zu kündigen war nur bei schweren Verstößen möglich, in einem Fall reichte die Tatsache, dass ein Mieter einer Mitbewohnerin eine Bratpfanne über den Schädel gezogen hatte nicht aus, um ihn rauszuklagen. So gestaltete sich die dynamischste Wachstumsphase des deutschen Kapitalismus, das sog. Wirtschaftswunder, zugleich als eine Welt mit einer heute höchst sozialistisch anmutenden staatlichen Mangelverwaltung.Wenn wir über die Grenze schauen: Unter gaullistischer Ägide, also von 1958 bis 1972, wurden in Frankreich Mindestlöhne und Höchstpreise durch Präsidialdekrete geregelt.

Weiterhin: Wenn Kapitalismus an freie Märkte und das Fehlen staatlicher Regulierungen gebunden ist, dann hat er zu Zeiten von Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx ebensowenig existiert wie Marxens Sozialismus. Konzepte wie "die unsichtbare Hand", "das freie Spiel der Kräfte" und der liberale "Nachtwächterstaat" waren ja keine Beschreibungen einer vorgefundenen Realität, sondern Idealbilder liberaler Philosophen. Die Staaten, in denen diese lebten, subventionierten sich selbst durch Schutzzölle, besaßen eine in verschiedener Hinsicht noch merkantilistische Wirtschaftsordnung und schufen sich in Form der Kolonien gerade gänzlich künstlich organisierte, auf die Bedürfnisse der imperialistischen Mächte und ihrer monopolistischen Kolonialhandelsgesellschaften hindesignten Märkte.

Schließlich und endlich wäre etwa auch zu fragen, inwieweit gerade die heutigen USA, deren treibender Wirtschaftsfaktor ein zu 100% auf Staatsaufträge angewiesener und staatlich subventionierter Aerospace- und Rüstungssektor darstellt, ein typisches Beispiel für einen radikalen Liberalkapitalismus darstellen.

Ich würde viel eher sagen: Ob das aktuelle Deutschland, der norwegische und finnische "Volksheim"-Wohlfahrtsstaat, das anglo-amerikanische Modell, aber auch faschistische Diktatur oder der chinesische Sonderweg einer kapitalistischen Modernisierung unter formal kommunistischem Regime, dies alles sind Formen kapitalistischer Gesellschaften, nur eben mit jeweils unterschiedlichem Charakter.

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