Sonntag, 6. Juni 2021
Ich fall kopfüber vor Lachen
Anderswo konnte ich gerade lesen, dass das Weltsozialforum von Porto Alegre eine Unterabteilung des Weltwirtschaftsforum von Davos sei und die Linksradikalen deren Sturmtruppe. Damit sind wir zurück bei den Bolschewisten als Kampfabteilung der jüdischen Wallstreet-Weltverschwörung. Alternativ könnte es allerdings auch der Nachweis für das Fortschreiten der Globalisierung sein: Es gibt jetzt Internetanschlüsse auch schon in Gummizellen.

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Die meisten Lateinamerikanischen Gesellschaften haben eine pralle Geschichte, Gegenwart und Zukunft oppositioneller ideologisch-politischer Projekte. Und auch v.a. seit Ende des Kalten Krieges eine Menge Energie & überraschender neuer Machtkonstellationen.
Dazu kommt das Gringo-Phänomen, dass dieses pralle Leben einerseits fasziniert, andererseits aber ein Grundverständnis eines Lateinamerikanischen Referenzrahmens (Geschichte, Politik, Gesellschaft und Soziales, Kultur, Wirtschaft) fehlt.
Das Ergebnis ist analytischer trash. is aber egal.

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Wieso ist das egal?

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Grundsätzlich: Früher gabs tatsächlich mal sowas wie Leitmedien. Die Partei-Bindung war stärker. Die Meinungen waren in gewisser Weise stärker vorgefiltert. Heute emanzipieren sich die Leute von diesen Autoritäten. Durch das Internet wird ein breiteres Meinungsspektrum angeboten, darunter auch viel Gutes... und viel Schlechtes.
Erstaunlich viele basteln sich ihre eigenen Ideologien. Da kommt eine Menge Unsinn heraus. Klar ist das auch gefährlich, aber die Entwicklung hat auch ihre Chancen.

Was Deutsche über Lateinamerika denken, hat grundsätzlich keine Bedeutung.
Die Vorstellungen über Europa der Mehrheit meiner chilenischen Freunde basieren ja auch auf blödsinniger Propaganda, Dan Brown und dem unter ü40 jährigen erstaunlich populären Deutscher Welle in Spanisch. Letzteres ist vergleichsweise gut, zeichnet aber halt oft ein zu positives Bild unseres Landes.
Die von mir in großen Mengen konsumierte chilenische Politik-Debatte find ich insbesondere seit dem Aufstand im Oktober 2019 hochspannend. Ich halte die Ereignisse in Chile, die Unruhen in Kolumbien, das Wahlverhalten in Peru diese Nacht für denselben Aufstand mit unterschiedlichen Mitteln/sophistication. Aber das müssen die unter sich ausmachen. Bin da nur Beobachter. Ob man sich aus dem verstehen-wollen aktiv einen komplexen Referenzraum schafft oder die Dinge mehr so spontan einordnet, hat letztlich keine Auswirkung auf die Ereignisse selbst.

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Für Kolumbien kann ich zumindest sagen, dass der Referenzrahmen der Politik ein ganz anderer ist. Es gibt zwar nominell rechte und linke Parteien, aber die Loyalität gehört Personen (die auch gerne mal die Partei wechseln oder eine neue gründen). Man weiß wer die eigenen Interessen vertritt und wer nicht.

Die derzeitigen Unruhen halte ich für einen überflüssigen Ausbruch von Anarchie. Präsident Duque wollte die Mehrwertsteuer erhöhen und das hat natürlich böses Blut gegeben. Nach ein paar Tagen der Demonstrationen zog er die Reform zurück, aber man demonstrierte einfach weiter. Außerdem blockiert man Landstraßen und Autobahnen, so dass in Teilen des Landes Benzin und Lebensmittel knapp werden.

Die Polizei ging wie üblich mit größter Brutalität vor und tötete mehr als ein Dutzend Personen in wenigen Tagen. Die Demonstranten ihrerseits zeigen größten Vandalismus und zerstören alles an öffentlichem Eigentum, was sie in die Hand bekommen. Lichtmasten, Ampeln werden umgelegt, zahlreiche Busse verbrannt. Der Staat ist der Feind, und alles was für den Staat steht wird angegriffen.

Man kann auf Youtube unter "Caracol" und "Telemedellin" die aktuellen Nachrichten schauen, ist eindrucksvoll, auch wenn man kein Spanisch versteht.

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Nun, etwas Spanisch verstehe ich ja. Danke Euch beiden für diese insights!

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Alles was ich über Kolumbien oder Peru sage, ist nicht besonders aussagekräftig, weil ich da nur im Flughafen oder für eine Woche vor Jahrzehnten war.
Die Ereignisse in Chile erinnern mich an das Ende des Ostblocks Ende der 80er, nur wird da nicht der real existierende Sozialismus abgewickelt sondern nun halt der real existierende Neoliberalismus.
Als zumindest zeitweise gläubiger Neoliberaler mit Zweifeln hat sich dieses System als für reale Menschen ungeeignet erwiesen. Das System scheint auch nicht reformierbar zu sein. Aus der Rückschau hätte man vielleicht noch 2006 entschlossen Sozial-Reformen umsetzen können. 15 Jahre war man dazu nicht in der Lage. Selbst nach den massiven Protesten 2011 und 2019 kam es zu keiner wirklichen Reaktion. Jetzt ist wirklich Schicht im Schacht. Die Verteidiger des Systems fahren jede Woche eine Niederlage nach der nächsten ein. In Chile läuft der Diskurs auf einer ambitionierten intelektuellen Ebene ab. Ich konsumiere u.a. auch die Podcast von den letzten Fußkranken der Neoliberalen Revolution: Die haben fertig.
Das kommt in deutschen Medien nicht wirklich rüber, weil Du einen tiefen Referenzraum benötigst, um die komplexen Ereignisse einordnen zu können.
Du kannst im 21. Jahrhundert als kleine Elite nicht mehr dermassen eine ganze Gesellschaft dominieren und weite Teile ausschliessen.
Ich bin ein großer Fan der Metro von Santiago. Ich erfuhr von den "vandalistischen Zerstörungen" im Oktober 2019 mit P in der Parana Mündung in der Nähe von Buenos Aires. P und ich sind echt nicht Linksradikal. Mein Gedanke war Seeräuber Jenny: "Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla". Sie sah das auch so. Die letzten 20 Monate haben mich in dieser Einschätzung bestärkt.

Vielleicht schaffe ich dazu einen brauchbaren Text in dlen nächsten Wochen in deliberation daily blog. Ist aber schwierig . Es soll kein Buch werden. Dann besser Klappe halten.
Für mich war das chilenische Entwicklungsmodell in den letzten beiden Jahrzehnten für die kolumbianische und v.a. peruanische Politik sowas wie ein Vorbild. Das ist sicherlich grob vereinfachend.

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In mir findest Du da jederzeit einen geneigten Leser. Dass dort der Neoliberalismus den Mapocho runtergeht sehe ich auch so.

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@Lemmy: Chile wird in Kolumbien bewundert. Viele Kolumbianer träumen davon, in Chile zu arbeiten oder zu studieren.

https://www.noticiasuno.com/ ist übrigens der kritischste kolumbianische Sender.

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Die Bevölkerung des von den Kolumbianern bewunderten Chile hat jetzt aber eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, in der etwa 70% der Vertreter für einen Bruch des aktuellen Systems sind.

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Das dürfte kein Problem sein für die Kolumbianer. Wenn sie so organisiert wären wie die Chilenen ("Die Preußen Südamerikas") hätten sie das sicher auch schon gemacht.

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Die sind aber mehr so die Sizilianer Südamerikas.

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prusianos chasquillos (TM Lemmy)
maestro chasquillo bezeichnet einen Handwerker, der keine Ahnung hat was er wortreich und mit viel Engagement tut und bei jeder Reparatur 2 andere Dinge kaputt macht.
Chile bringt es fertig bei einer Impfquote ähnlich der UKs, trotzdem 8.000 neue Covid Fälle am Tag zu haben, weil halt viel zu wenig Hilfen ausgegeben werden und so die Leute unter Zwang irgendwie Geld zu verdienen, sich nicht effektiv schützen können.
8.000 Fälle entspricht bezogen auf die Bevölkerung 34.000 Fälle in Deutschland.
Impfquoten: 61% (1st Impfung), 46% (2t Impfung) und trotzdem in der letzten Woche in Top 15 der meisten Covid Toten je Millionen Einwohner auf diesem Planeten.

Eine neue Woche, eine neue Niederlage für die Freunde der bestehenden Ordnung: Peru hat wohl in der Stichwahl einen linksradikalen Präsidenten gewählt. 50.116% zu 49.884% bei 76% Wahlbeteiligung. Müssen noch 5,6% der Wahlakten gezählt werden, meist aus schwer zugänglichen ländlichen Regionen, die den Linksradikalen wählen, aber auch Auslandsperuaner in USA, Chilen und Spanien, die Keiko Fujimori wählen.
Das gibt noch mehr Chaos. Diese Demos in Kolumbien sind nur ein Teil. Der gesamte Andenraum ist politisch so angespannt wie seit Anfang der 70er nicht mehr.

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