Samstag, 12. Juni 2021
Neuer Antiimperialismus: Anmerkungen zu einer komplexen Theorie
Ausgehend von der Tatsache, dass der marxistische Klassenbegriff seit Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr anwendbar war, hinsichtlich der Frauenfrage und hinsichtlich Rassismus seine Blindstellen hatte und der marxistisch-leninistische klassische Antiimperialismus antisemitische Züge angenommen hatte wurde von überwiegend westdeutschen Linken, allerdings in enger Zusammenarbeit mit britischen, belgischen, französischen und US-amerikanischen Gruppen seit den 1980ern der Neue Antiimperialismus entwickelt, der als offenes Theorieprojekt bis heute weiterentwickelt wird.
Ursprünglich zurückgehend auf die Tübinger Internationalismustage von 1982 und die Diskussionszusammemhänge zwischen entwicklungspolitischen Aktionsgruppen, Weltläden und HistorikerInnen im Umfeld der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts wurden die Kerngedanken des Neuen Antiimperialismus hauptsächlich in den Zeitschriften Materialien für einen neuen Antiimperialismus und Wildcat ausgebreitet und weiterentwickelt.

http://www.materialien.org/texte/materialien/edit88.html


"Materialien für einen Neuen Antiimperialismus" meint hierbei nicht, Ex Cathedra eine Leitlinie zu verkündigen, wie Antiimperialismus auszusehen hätte, sondern, gestützt auf Forschungsmethoden der Alltagsgeschichte und Mikrohistorie, Diskussionsansätze zu entwickeln, die für die Linke brauchbar sein können, um das heutige Weltgeschehen überhaupt begreifbar zu machen. Neuer Antiimperialismus ist zunächst mal eine Absetzbewegung zum klassischen Antiimperialismus, der daraus bestand, die Weltpolitik der USA, der EU und die Rolle Israels im Mittleren Osten zu kritisieren und einen Internationalismus zu vertreten, der eine Frontstellung der marxistischen Befreiungsbewegungen gegen diese Kräfte beinhaltete. Dagegen meint Neuer Antiimperialismus, sich auf Kämpfe um das unmittelbare Existenzrecht, die Verteidigung bäuerlicher Subsistenz usw. in den drei Kontinenten zu beziehen und diese mit Arbeitskämpfen hierzulande zu verbinden, d. h. nicht an Staaten, Parteien oder Guerrillabewegungen anzulehnen, sondern an soziale Prozesse.

Anders gesagt: Es geht um die Verteidigung vorhandener sozialer Standards und um die Entwicklung von Perspektiven zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse aus Sicht der Deklassierten. Es handelte sich um eine Verbindung aus italienischem Operaismus mit der zentralen Vorstellung von ArbeiterInnenkämpfen als Kämpfe gegen die entfremdete Arbeit an sich mit einem starken Mensch-Maschine-Dualismus, dem Versuch, Marx mit Bakunin und Weitling zusammen zu denken, der Dependenztheorie, welche den kulturellen und politökonomischen Zusammenhängen in den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Entwicklungs- Schwellen- und Metropolenländern nachging und den Ansätzen der ?Anderen Arbeitergeschichte?, die Geschichtswissenschaft als Alltagsgeschichte aus der Perspektive von unten betrieb.

Als Gegenposition zum Klassischen Antiimperialismus wurden Ansätze, die sich auf Klassenkämpfe und soziale Proteste in den Metropolen ebenso bezogen wie auf Hungerrevolten und Brotpreisaufstände im Trikont mit einem zwischen Marx, Foucault und der Dependenztheorie aufgespannten Theoriegebäude kontextualisiert. Daran anküpfend wurde die Theorie der permanenten Neuzusammensetzung der Unterklasse in den 1990er Jahren mit unterschiedlichen Schwerpunkten von dem deutschen Historiker Karl Heinz Roth, der Redaktionsgruppe Materialien für einen neuen AntImperialismus und etwas später auch Slavoj Zizek entwickelt.

Hierbei geht es um folgendes: Da die Industriearbeiterschaft in den Metropolenstaaten kein objektives Proletariat mehr ist ? sie lebt nicht mehr in Armut und hat einen bürgerlichen Lebensstil angenommen, zugleich aber ständig neue Armut produziert wird ? Leiharbeiter, Zeitarbeiter, Billiglohnsektor, Pauperisierung kleiner Angestelltenmilieus ? kann davon gesprochen werden dass ein neues, heterogenes Proletariat am Entstehen ist. Dazu gehört dann auch die Deklassierung von Berufsfeldern die früher mal Hochlohnsektoren waren, z.B. in der IT und im Marketing, Stichwort Dauerpraktikanten und outgesourcte Billigpixler.

Bei Hartmann, Roth und den Materialien für einen neuen Antiimperialismus wird das mit einer Entwicklungstheorie verbunden die nach den Interessen der armen Menschen im Trikont und nach den Möglichkeiten praktischer Solidarität fragt, also sich für die kleinen Leute interessiert und sich von der ausschließlichen Orientierung des alten Antiimperialismus an der Solidarität mit Befreiungsbewegungen abwendet.


Zizek hingegen hat eine operaistische Sichtweise zusammengebracht mit Laclau und Mouffe, die davon ausgingen dass in der postmodernen Gesellschaft andere Kämpfe als bisherige Klassenkämpfe relevant werden, nämlich die Kämpfe marginalisierter Gruppen wie Frauen, Schwule, Lesben, Migranten u.a. und dass für diese Gruppen eine Befreiungsperspektive nur sichtbar wird, wenn sie ihre radikal subjektive Eigenperspektive gegen den gesellschaftlichen Mainstream wenden.

Wobei Chantal Mouffe als Antwort auf den erstarkenden Rechtspopulismus weltweit einen Populismus von links fordert, der polemisch, laut, aggressiv und politisch unkorrekt zu sein habe, bei ihr vermischen sich die Positionen Foucaults und des Operaismus mit situationistischen Ideen.

Daran anküpfend vertritt Zizek einen radikalen Partikularismus, der erst in der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden zur Möglichkeit kommt,Einfluss auf das Allgemeine zu nehmen oder sogar zum Allgemeinen zu werden. In der gemeinsam mit Detlef Hartmann verfassten Antwort auf "Empire" von Negri und Hardt läuft das auf eine neue Revolutionstheorie hinaus.

https://www.assoziation-a.de/buch/Die_Zeit_der_Autonomie
http://assoziation-a.de/buch/Hartmann_Empire
https://de.wikipedia.org/wiki/Detlef_Hartmann

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Ich vermisse hier die Stichworte "Triage" und "überflüssige Esser".

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Ja, das ist auch richtig. Speziell Karl-Heinz Roth übertrug Handlungsmuster der Kriegsmedizin und Denkweisen der NS"Euthanasie" und - Bevölkerungspolitik auf die Entwicklungspolitik der Rockefeller-Stiftung und des IWF bzw. der Weltbank. Detlef Hartmann zeigte ebenfalls Kontinuitätslinien von der NS-Bevölkerungsplanung für die besetzten Gebiete Osteuropas zu entwicklungspolitischen Kontexten der Nachkriegszeit auf. Demzufolge vollzöge sich die Vergabe von Entwicklungskrediten bzw. westliche Entwicklungspolitik insgesamt nach dem Modell der Triage: Man preppert Ökonomien von denen man sich gute Entwicklungsperspektiven=return of investment verspricht, andere werden an der kurzen Leine gehalten und für solche, in der sich keine Inwertsetzung für westliche Kapitalinteressen abzeichnet würden nach dem Prinzip "verhungern lassen" behandelt. Das mag an manchen Stellen überzeichnet gewesen sein, entscheidend ist aber die Perspektive, dass Entwicklungspolitik nicht als Wohltat und auch nicht als historisch notwendige nachholende Entwicklung betrachtet wird, sondern als interessengeleitete Wirtschaftspolitik der Metropolenmächte, letztendlich eine Art Rekolonisierung, gegen die in bestimmten Fällen Widerstand angebracht ist. Diese Betrachtungsweise reflektiert insbesondere auch die Gewalttätigkeit mancher entwicklungspolitischer Maßnahmen - Zerschlagung bäuerlicher Subsistenzstrukturen, Zwangssterilisationen - und solidarisiert sich mit bestimmten Widerstandshandlungen, etwa der brasilianischen Landlosenbewegung.

Bügerkriege wie in Jugoslawien und Ruanda oder auch schon die Vernichtung der KurdInnen und das massenhafte Verheizen von jungen Männern aus Unterschichten als Kanonenfutter im iranisch-irakischen Krieg werden als Vernichtung überflüssiger Esser im Sinne einer negativen Bevölkerungspolitik angesehen und hier eine Kontinuitätslinie zum NS-Vernichtungskrieg hergestellt.

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Gibt es denn zwischen Hartmann, Roth und anderen inhaltliche Unterschiede oder ist das ein Welt- und Gesellschafts/Geschichtsbild "aus einem Guss"?

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Das ist alles in ständigem Wandel. Anfangs, in den Achtzigern, kann man das vor allem als Kombination aus einer operaistischen Kritik an Entwicklungspolitik und Weltbank, kombiniert mit Dependenztheorie bezeichnen, Foucault-Anwendungen, Kritische Theorie und Zizek kamen dann später hinzu. Gerald Geppert hat den Aspekt "Vernichtung überflüssiger Esser" zeitweise etwas überstrapaziert. Dann sind auch Leute abgewandert, Götz Aly kommt auch aus der Ecke, der würde sich heute wahrscheinlich nicht mehr als Linksradikaler verstehen.

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Ich sah gerade im Fernsehen Susanne Heim. Mein Gott, ist die alt geworden.

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Hier übrigens noch ein paar Takte zum "Alten" Antiimperialismus:

Dass der klassische Antiimperialismus stalinistischer Lesart auch antisemitische Komponenten hatte ist richtig. Aber nahezu die gesamte internationale Linke des zwanzigsten Jahrhunderts verstand sich als antiimperialistisch, und die Rolle Israels ist hier durchaus ambivalent. In den 1950er, 60er und 70er Jahren putschte die CIA fast mit Beliebigkeit Regierungen, auch und gerade demokratische weg, um sie durch Diktaturen zu ersetzen, wenn ihre Politik US-Interessen nicht entsprach. Diese Dikaturen wurden zwar von den USA unterstützt, wurden aber vielfach durch UN-Resolutionen politisch isoliert. Dies hatten sie mit Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg gemeinsam. So kam es zu einer engen militärischen und geheimdienstlichen Kooperation Israels mit Pinochet-Chile, Videla-Argentinien und den Apartheid-Regimes in Rhodesien (heute Zimbabwe) und Südafrika. In der Zeit von 1976 bis Mitte der Achtziger sprach man von einem Dritten Machtblock dieser Staaten, dem zeitweise auch noch Paraguay, Uruguay und der Iran des Schah angehörten. Im prosowjetischen Lager, aber auch der Blockfreien-Bewegung sprach man zusammen mit den USA von den "Imperialistischen Frontstaaten". In der antiimperialistischen Linken wurde diese Blockbildung nicht als zeitbedingtes Bündnis angesehen, sondern als Zangsläufigkeit: Mit Ausnahme Irans handle es sich um "Siedlerstaaten", in denen eingewanderte weiße Eliten die autochthone Bevölkerung unterdrückten. Die damalige Parole "Kampf dem Rassismus, ob Apartheid oder Zionismus" kann als dumm und geschichtsvergessen gegenüber der Geschichte Israels bezeichnet werden, eine antisemitische Intention würde ich nicht dahinter sehen. Übrigens wurde diese Art Antiimperialismus nicht nur von der radikalen Linken vertreten, sondern bis in die Jusos und die frühen Grünen hinein. Die Eigenbezeichung Antiimps war hingegen exklusiv für das Unterstützerumfeld der RAF. Mit dem Verschwinden der Apartheid und der lateinamerikanischen Militärdiktaturen sowie der Anerkennung Israels durch die PLO und der Einrichtung der palästinensischen Autonomiebehörde verlor dieser Antiimperialismus seine Substanz, er ist heute historisch so überholt wie Ideologien aus der Zeit des Kalten Krieges.

https://che2001.blogger.de/stories/738578

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