Sonntag, 16. Dezember 2007
Die vom SPIEGEL an den Leser verkaufte Revolution
Unter dem Titel "Die gekaufte Revolution" macht der SPIEGEL sich anheischig, exklusiv neueste Erkenntnisse zu der antagonistischen Zusammenarbeit Wilhelms des Zweiten und Lenins zu liefern, inklusive einem durchaus sehenswerten Film auf DVD. Ich frage mich nach Lektüre des SPIEGEL und anschauen der DVD "where´s the fish?". Dass Parvus Helphand die Fahrt der Bolschewiki mit der Reichsbahn von der Schweiz nach Schweden in enger Absprache mit der Obersten Heeresleitung und dem Wissen und der Einwilligung Wilhelms organisiert hat habe ich bereits in der Schule im Geschichtsunterricht gelernt. Die Geschichte mit dem Kreidestrich im Zug, der die exterritorale Zone markierte, war 1977 in PM zu lesen. In den späten 70ern und frühen 80ern gab es jedes Jahr zwischen November und Weihnachten im Fernsehen einen Film oder eine ganze Serie über die russische Revolution, und in keinem einzigen Fall wurde die Rolle des Parvus ausgeblendet, es gab sogar einen Film nur über ihn. Er war für mich einer der Helden meiner Jugend; dass ein Finanzmagnat und Lebemann gleichzeitig marxistischer Theoretiker und Strippenzieher der militanten Revolution war faszinierte mich, und ich zog Parallelen zu Feltrinelli und Reemtsma. Im ersten Semester meines Studiums beschäftigte ich mich mit der Revolution in der Ukraine, damit, wie die Deutschen dort aus Kosaken-Hetmanen, Bauernführern und rus"sischen Kriegsgefangenen eine "Nationalbewegung konstruierten, dem Widerstand der anarchistischen Macnotschina gegen diese und den Zweifrontenkrieg der Machnotschina gegen rote und weiße Truppen. Das ist der eigentlich Hammer beim SPIEGEL: Dass ein Teil der Ukraine längere Zeit von Anarchisten kontrolliert wurde, wird völlig unterschlagen. So bleibt das eigentlich Neue bei den "Enthüllungen" im SPIEGEL die Organisationsstruktur des Netzwerkes, mit dem deutsches Geld in die Zusammenhänge der Bolschewiki gepumpt wurde, die genauen Summen, die da flossen und dass das Ganze schon 1915 losging. Allemal alles sehr interessant, aber: Wenn das sensationell sein soll, fordere ich jetzt für alle meiner ehemaligen KommilitonInnen eine Titelseite im SPIEGEL. Wissenschaftlich neue Erkenntnisse zu liefern ist nämlich Voraussetzung, um bei den Historikern überhaupt die Abschlussprüfung zu bestehen.

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