Freitag, 16. Juni 2006
Von der Dekade der Entwicklung zum Neoliberalismus – Fortsetzung
Ich greife den letzten Absatz des ersten Beitrags noch einmal auf.

Ende der 60er setzte weltweit ein neuer Zyklus von Klassenkämpfen und allgemeinen sozialen Aneigungs- Emanzipations- und Umschichtungsprozessen ein. Es ist modisch geworden, heute 68 als reine westliche Studentenbewegung zu sehen, das wird dem Wesen der vielfältigen Bewegungen aber nicht gerecht. Dazu gehören ebenso wie der Pariser Mai, der mit seinem Generalstreik für einige Tage eine Revolution als an der Tagesordnung erscheinen ließ (ein gründlicher Irrtum) die Ghettoaufstände in den USA, zu denen Eldridge Cleaver gesagt haben soll: „Nicht Vietnam, Newark, Harlem, Bronx, das ist der wahre Krieg, ein Krieg, in dem Klasse gegen Klasse steht“, die Gründung der PLO, der Beginn der Guerrillakämpfe in Südamerika und Afrika, das Aufflammen bürgerkriegsartiger Unruhen in Nordirland, all dies bildet einen Gesamthorizont, der die bestehende Gesellschafts- und Weltordnung in Frage stellte. Als sich die Niederlage der USA in Vietnam abzeichnete, der Kurs des Dollar ins Bodenlose stürzte und die OPEC die Ölpreise erhöhte, da zeichnete sich ab, dass die Vorherrschaft der Triade (USA, Japan, EG-Europa) über den Trikont nicht mehr aufrechtzuerhalten war.

Diese Entwicklung macht sehr deutlich, dass die Verelendungstheorien, wie sie von Trotzkisten bis zur RAF viele linksversprengte Gruppierungen vertraten ins Leere gehen, eine Erkenntnis, die übrigens bei Gramsci und Poulantzas schon angelegt ist (sorry, der musste sein, ich halte mich ansonsten mit Theoretiker-Namedropping zurück). Nicht Unerträglichkeit der eigenen Situation führte zu weltweiten Rebellionen und Emanzipationsbewegungen, sondern Blochs Prinzip Hoffnung im Zusammenwirken mit vorhandenen Missständen. Von den Metropolen bis zum Trikont (Sonderfälle wie Vietnam spielten hier eine Rolle, auf die ich gleich zu sprechen komme), eines hatten die Bewegungen in den 60ern weltweit gemein: Sie spielten sich in einer Zeit ab, in der die Perspektive der Menschen im Fortschreiten bestand, das generelle Lebensgefühl war „die Gegenwart ist besser als die Vergangenheit, und die Zukunft wird noch besser sein.“, aber das war nicht mit Zufriedenheit verbunden, sondern mit dem Anspruch auf mehr: „We don´t want just one cake, we want the whole fucking bakery!“. Parallelen zur Französischen Revolution zeichnen sich ab, wo eine Krise nach einer Hochblüte der barocken Zivilisation und der bürgerlichen Aufklärung Ausgangspunkt der Bewegung war, nicht hingegen eine Situation absoluten Elends. Auf die Rebellion, in den Metropolen wie im Trikont, wie auch auf das gestiegene Selbstbewusstsein der Öl- und Schwellenländer, reagierten die Eliten auf sehr verschiedene Weise. Vereinfacht kann gesagt werden, dass die Reaktionsmuster teils aus Integration, teils aus Repression bestanden, teils auch aus der Kombination von Beidem. Beispiel für eine fast ausschließlich integrative Lösung ist Dänemark. Anders als in Deutschland, gelangten die 68er hier nicht erst Ende der 90er Jahre an die Hebel der Staatsmacht, sondern schon in den 70ern. Dies bedeutete zwar keine Revolution, aber gründlichere und unbürokratische Reformen als in Deutschland, wobei gesagt werden muss, dass die gesellschaftlichen Widersprüche in Dänemark von Vornherein weniger ausgeprägt waren als in Westdeutschland. Sozialen Frieden durch staatliche Wohlfahrtsprogramme einzukaufen hat in Dänemark seit 1848 Tradition, und die Generation der jungen Protestler setzte sich nicht mit Nazi-Tätern in Amt und Würden auseinander, zwei Ausgangspunkte, die die ganze Sache weitaus konfliktärmer machten als die Situation in der BRD. Die Entwicklung, die Dänemark in den 70ern nahm, war die zu einem Sozialstaat, der weitaus üppigere soziale Leistungen zu bieten hatte als Deutschland bei vergleichbar weniger Bürokratie und mehr Demokratie (siehe die plebiszitären Elemente im politischen Geschäft Dänemarks). Zwei Beispiele exemplifizieren ganz gut, dass der dänische Linksliberalismus einen völlig anderen Charakter hatte als der westdeutsche Betonstaat der rot-gelben Koalition: Als Hausbesetzer ein leerstehendes riesiges Marinekasernengelände besetzten und dort die „Freie Sadt Kristiania“ ausriefen, schenkte ihnen der Staat das Gelände einfach. Es kommt auch von, dass ein Punk, der sich arbeitslos meldet, vom Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt so angesprochen wird: „Du bist doch Punk, hast Du da keine Lust, Punk-Musik zu machen, um Dir den Lebensunterhalt zu verdienen? Du kannst von uns ein Existenzgründungsdarlehen für die Gründung einer Band bekommen, und das Arbeitsamt vermittelt Dir einen Plattenvertrag.“ Die Revolution war gestorben, doch alle hatten sich schrecklich lieb.

In Deutschland hingegen gab es Integration und Repression im Kombipack: Bildungsoffensive, „mehr Demokratie wagen“, neue Ostpolitik, Ausbau des Sozialstaats (auf eine typisch preußisch bürokratische Art und Weise), Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen, zugleich aber auch Notstandsgestze, Berufsverbote, Antiterrorgesetze, Militarisierung der Polizei. Letztlich kamen klare materielle Vorteile für die breite Mehrheit der Bevölkerung heraus, aber aus „mehr Demokratie wagen“ wurde eher „mehr Bürokratie wagen“. In den USA schließlich bestand Nixons Gegenrevolution hauptsächlich aus Repression – Streichung der großzügigen Sozialprogramme Johnsons, COINTELPRO, das Counterinsurgency Intelligence Program, das aus einer Welle von Desinformation, Geheimdienstaktivitäten, politisch willkürlichen Verurteilungen bis hin zur vom FBI lancierten Einschleusung harter Drogen in die Ghettos der Afroamerikaner bestand und Black Power erfolgreich zerschlug. Unter dem gleichen Horizont ist auch der vom CIA herbeigeführte Putsch in Chile zu sehen. Wenn wir jetzt noch einmal die Voraussetzungen der weltweiten Revolte rekapitulieren – steigende Ansprüche bei steigendem Wohlstand, zugleich aber überaus grausame postkoloniale Kriege, Wettrüsten und die Verschränkung von Ost-West- und Nord-Süd-Konflikt, dann stellt sich die Frage, ob der Neoliberalismus, d.h. die Rezepte der Chicago Boys, nichts Anderes waren als der Versuch, die steigenden Ansprpche zu suspendieren, indem die Lebenschancen der Unterprivilegierten und der Arbeiterklasse systematisch beschränkt werden. Dies muss noch nicht einmal in denAbsichten Friedmans gelegen haben, sondern kann eine objektive Funktion der Angelegenheit sein, die sich unter den eben genannten sonstigen Zeitumständen und den strategischen Interessen der Herrschenden als historische Notwendigkeit ergibt.

So, und jetzt bitte nicht wild draufloskommentieren, ich mache hier wieder einen Cut, um keine Bleiwüste entstehen zu lassen, der dritte Teil folgt also in Kürze. Also bitte spart Euch Eure Kommentare bis zum dritten Teil, Es lässt sich auch beim Bau des Schiffsrumpfs niemand über die Segeleigenschaften einer Yacht aus.

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