Dienstag, 25. September 2007
Die Demo als gesellschaftliches Ereignis
Früher, in meinen Zeiten als Reisechaot, war ich dermaßen häufig auf Demos, dass die zu einem festen Bestandteil meines gesellschaftlichen Lebens geworden waren. Unvergesslich ist mir da zum Beispiel eine dieser großen bundesweiten Kurdistan-Demos in den tiefen Neunzigern. Auf der Hinfahrt mussten wir durch mehrere Polizeisperren, zig Autos wurden durchsucht, nur meines nicht - es war viel zu neu und zu schön für einen Chaotenwagen, und statt Anti-AKW-Sonne, Brecht-Zitaten, Che-Bild oder Syndikalistenstern prangte auf der Heckscheibe der Umriss der Insel Usedom im Sylt-Style. Sie winkten uns brave Bürger durch, und im Kofferraum lagen dann die Gerätschaften, die sie nicht finden sollten. Auf dem Anmarsch zur Demo wurde ich dann, obwohl vermummt, von einem ARD-Redakteur begrüßt, der über die Demo berichtete, man kannte sich halt. Nach der eigentlichen Demo und vor der Abschlusskundgebung legte ich die Vermummung ab, steckte die Sonnenbrille ein und zog das Kapuzi aus und stand dann da mit Armschienen und Ellenbogenschützern, also sichtbar passiv bewaffnet, und plauderte mit einer Kurdin, die wir drei Jahre vorher per Soliaktion aus einem Folterknast freibekommen hatten, ganz entspanntes Plaudergespräch im Sonnenschein auf einer Kreuzung. Dann kam eine BePo-Beamter daher, der mich privat kannte. Eigentlich hätte er mich wg. meines Körperschutzes festnehmen müssen, aber mein Gott, wir hatten voriges Wochenende zusammen gegrillt. So hielt ich auch mit dem ein gemütliches Schwätzchen. Insgesamt war das eine Demo, aus der ohne Weiteres eine Straßenschlacht hätte werden können, für mich war das an dem Tag aber eher ein gesellschaftliches Ereignis in der Art einer Familienfeier.

Anderer Art war eine Wackersdorf-Demo 1985, bei der ein SEK-Beamter einen von uns festnehmen wollte und wir ihn daran hinderten, indem wir ihn zu viert festhielten. Ich war an sich gerade dabei, ein Brot zu essen und so hielt ich mit der Rechten den Cop fest , während ich in der Linken die Stulle hielt und kaute. Schließlich erklärte er sich bereit, nichts zu machen und wieder abzuhauen, wenn wir ihn losließen. Ich dachte mir gar nichts dabei, ich hatte einfach Hunger, erfuhr später aber, wie saucool das gekommen war. Weniger cool war die Nie-wieder-Deutschland-Demo 1990, als die Polizei grundlos eine völlig friedliche Demo zusammenprügelte und ich dabei in der ersten Reihe ging. Es endete so, dass ich bäuchlings auf dem gußeisernen Gitter eines öffentlichen Klos lag, ein Pressefotograf mir ins Gesicht knippste und ein Mann, der auf meinem Rücken lag, windelweich geprügelt wurde. Auf der Rückfahrt zeigten sich dann die Jüngeren, auch und gerade die Frauen, voll offensichtlichem Stolz ihre frischverbundenen Blessuren. Um ein Haar hätten wir noch eine Prügelei mit Eintracht-Hools angefangen. Zu Hause gab es dann, wie meist nach solchen Anlässen, eine rauschende Party, die sehr laut war. Haue-Demos waren damals so etwas wie gefährliche Bergtouren oder Segeltörns bei schwerem Wetter.

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Selbstmordversuch vor Publikum
taz nord vom 24.09.2007


Eine kongolesische Asylbewerberin hat versucht, sich in der
Ausländerbehörde in Syke zu erhängen. Bis zu 15 Menschen sollen
zugesehen haben. In den letzten Jahren haben sich mehrere Flüchtlinge in
der Bremer Umlandgemeinde das Leben genommen

VON CHRISTIAN JAKOB



Roland Springborn kann es immer noch nicht glauben: Als der Mitarbeiter
einer Arbeitsloseninitiative am vorvergangenen Freitag gegen zehn Uhr
das Verwaltungsgebäude des Landkreises Diepholz in Syke betrat, sah er,
wie eine Afrikanerin versuchte, sich mit ihrem Schal an einem in
Kopfhöhe an der Wand angebrachten Heizkörper zu erhängen. "Zehn bis
fünfzehn Personen standen um sie herum und haben zugesehen - aber kein
Einziger hat was unternommen," sagt Springborn. Er selbst schritt ein
und löste den Schal der um sich schlagenden Frau, eine junge
Russlanddeutsche kam ihm zu Hilfe und hielt die Afrikanerin fest. "Die
Frau war völlig außer sich und warf sich mehrfach auf den Boden", sagt
Springborn. "Wir haben sie dann ins Treppenhaus geführt und versucht sie
zu beruhigen." Sie habe dabei immerzu von ihrem Mann gesprochen,
erinnert sich Springborn.

Kongo-Flüchtlinge

Bei der Afrikanerin handelt es sich um eine Asylbewerberin namens B. aus
dem Kongo. Beate Jürgens, zuständige Sachbearbeiterin bei der
Ausländerbehörde in Syke, schildert den Sachverhalt wie folgt: "Frau B.
kam an dem Morgen unangemeldet in mein Büro, fragte, wo ihr Mann sei und
schrie dabei. Weil ich noch einen anderen Besucher hatte, sagte ich ihr,
sie solle auf dem Flur warten. Später hörte ich dann laute Geräusche,
lief hinaus, und sah nur noch, wie der Herr Springborn mit Frau B. auf
einer Sitzgruppe landete."

Die Eheleute B. kamen vor zehn Jahren als Asylbewerber nach Deutschland
und lebten abwechselnd in Syke und Bremen. Ihre drei Kinder waren bei
den Eltern des Ehemannes im Kongo geblieben. Seit der Trennung des
Paares vor einigen Jahren ist die HIV-positive B. in Bremen gemeldet.
Die Abschiebung der beiden wurde aus humanitären Gründen immer wieder
ausgesetzt. Da Herr B. straffällig geworden sein soll, soll sich die
Ausländerbehörde schließlich zum Vollzug der Abschiebung entschieden haben.

Es ist unklar, ob B.s Ehemann, der an dem Morgen zwei Stunden zuvor zu
einen Termin in der Ausländerbehörde erschienen war, in Abschiebehaft
genommen wurde oder flüchtete. Die Ausländerbehörde verweigert hierzu
die Angabe - "aus Datenschutzgründen".

Brigitte Jäckel ist Mitarbeiterin des sozialpsychiatrischen Dienstes in
Syke. "Als die Sache mit Frau B. im Hausflur passiert ist, wurde ich
dazugerufen. Sie hat geschrien, geweint, gezetert und wollte, dass man
ihr die Ausweispapiere ihres Mannes aushändigt. Das war natürlich
unmöglich." Sie habe versucht, B. zu beruhigen und anschließend die
Angelegenheit mit der Sachbearbeiterin Jürgens besprochen. Daraufhin
habe man B. geraten, sich an die für sie zuständige Ausländerbehörde in
Bremen zu wenden. "Man kann sich doch nicht so erpressen lassen," sagt
Jäckel. Die Ausländerbehörde sei dem Ehepaar immer wieder
entgegengekommen, das Verhalten des Ehemannes sei letztlich Ursache der
geplanten Abschiebung.

Roland Spingborn hat in der Zwischenzeit wegen unterlassener
Hilfeleistung Anzeige gegen Unbekannt erstattet, weil keiner der
Umstehenden B. an der versuchten Erdrosselung gehindert hat.

Rom verbrannte sich selbst

Der Selbstmordversuch von B. ist nicht der erste Fall dieser Art in
Syke. Am 15. November 2002 übergoss sich der serbischstämmige
Roma-Flüchtling Lata Aradinovic im Foyer des Syker Rathauses mit Benzin
und zündete sich an. Augenzeugen zufolge hatte Aradinovic anschließend
vergeblich versucht, sich auf einer Toilette des Rathauses zu löschen
und starb am folgenden Tag an den Verbrennungen. Aradinovic hatte mit
der Selbstverbrennung gegen seine drohende Abschiebung nach Serbien, die
Zustände in seiner Asylbewerberunterkunft und die Behandlung seiner
Familie durch die Behörden protestieren wollen. Die Familie Aradinovic
war dem niedersächsischen Flüchtlingsrat zufolge von der
Ausländerbehörde schikaniert worden, um Aradinovic zu zwingen, sich bei
der jugoslawischen Botschaft Passpapiere für seine Abschiebung zu
beschaffen. Dies war der Familie jedoch nicht möglich, da sie keinen
Nachweis über die jugoslawische Staatsangehörigkeit besaß.

Nach Angaben von Pro Asyl soll sich der Syker Bürgermeister an dem
Trauermarsch für den Flüchtling beteiligt und dort gesagt haben, dass
"Herr Aradinovic selbst an allem Schuld" war.

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