Montag, 30. Juni 2008
Die Tochter des Rabbiners
Meine Mutter hatte eine jüdische Schulfreundin, die Tochter eines Rabbis war und die sie daher öfter in der Synagoge besuchte. Ein BDM-Mädel in der Synagoge - das mag merkwürdig erscheinen, aber da die Familie nach zwei Jahren Haft des Vaters wegen "staatsfeindlicher Beziehungen zu Juden" ohnehin untendurch war und sie später einen SS-Hauptsturmführer heiratete passt es in unsere verschlungene Familiengeschichte. Nach 1940 verschwand die jüdische Familie spurlos, und bis vor Kurzem gingen wir davon aus, dass sie im KZ ermordet wurden. Glücklicherweise weit gefehlt - nach 70 Jahren Exil in Kanada kehrt die Schulfreundin zurück, und meine Mutter wird sich mit ihr treffen. Ich hoffe, dabei sein zu dürfen, sowohl als Historiker als auch als Sohn.

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Antirassistische Filmpremiere
Filmpremiere der antirassistischen Dokumentation der Gruppe progress zu
den Lebenswirklichkeiten von Asylbewerber_innen in und um Frankfurt
(Oder) am 25.06.2008
Vor einem Jahr gründete sich in Frankfurt (Oder) eine Initiative “ progress “ die es sich zum Ziel
gesetzt hat, etwas gegen den alltäglichen Rassismus in der Stadt zu tun. Schlechte
Lebensverhältnisse von Flüchtlingen in Heimen, verbale und tätliche Angriffe durch Neonazis oder
Diskriminierungserfahrungen im Umgang mit Behörden bestimmen die Lebensverhältnisse von
Flüchtlingen. Ziel dieses Films ist es, über rassistische Zustände mitten in unserer Gesellschaft
aufzuklären und zu animieren, sich gegen diese einzusetzen. Vor diesem Hintergrund entstand eine
Videodokumentation, bei der Asylbewerber_innen aus Frankfurt (Oder) sowie Bürger_innen der
Stadt und ein Anwalt zu Wort kommen, um Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu
beleuchten.
Wir sind gespannt, welchen Eindruck die Dokumentation auf die Besucher_innen machen wird.
Nach der Filmpremiere wird diesbezüglich mit den Besucher_innen und Flüchtlingen über die in
der Dokumentation aufgeworfenen Fragen diskutiert.
Termin: 25. Juni 2008 um 19 Uhr im Hörsaal 2 des Gräfin-Dönhoff-Gebäudes der
Europa-Universität Viadrina
Anja Jobst im Auftrag von progress
Kontakt: progress-ffo@web.de
http://www.global-progress.org

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Stellungnahme von Evo Morales zur Abschieberichtlinie der EU
Negation der Freiheit
Die Abschieberichtlinie der Europäischen Union bedroht die Menschenrechte
und die internationale Zusammenarbeit. Ein Appell des bolivianischen
Präsidenten Evo Morales Ayma
Von Evo Morales Ayma

Mit nachfolgendem Brief wandte sich Evo Morales am Dienstag gegen die
geplante Abschieberichtlinie der EU. Das Dokument wurde in Boli­vien im
Internet veröffentlicht und von den Botschaften verbreitet.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war Europa ein Kontinent der
Emigranten. Dutzende Millionen Europäer gingen nach Amerika, als
Kolonisten, vertrieben von Hunger, Finanzkrisen, Kriegen oder auf der Flucht
vor totalitären Regimen und der Verfolgung ethnischer Minderheiten.

Heute verfolge ich mit Besorgnis die Verhandlungen über die sogenannte
Abschieberichtlinie der EU. Der Text, der am 5. Juni von den Innenministern
der 27 Mitgliedsstaaten verabschiedet wurde, soll am 18. Juni im
Europäischen Parlament zur Abstimmung stehen. Ich bin sicher, daß die
Regelung auf drastische Weise die Voraussetzungen für Inhaftierung und
Ausweisung von Migranten ohne Papiere verschärfen würde, wie lange sie
sich auch schon in den europäischen Ländern aufhalten mögen; ungeachtet
ihrer Arbeitssituation, ihrer familiären Beziehungen, ihres
Integrationswillens und ihrer Integrationsfortschritte.

In die Länder Lateinamerikas und nach Nordamerika kamen die Europäer
massenweise, ohne Visa und ohne Bedingungen, die ihnen von den Behörden
gestellt wurden. Heute wie damals sind sie willkommen in unseren Ländern
des amerikanischen Kontinents, der damals mit den Flüchtlingen auch das
wirtschaftliche Elend Europas und seine politischen Krisen aufgenommen hat.
Die Europäer waren auch auf unseren Kontinent gekommen, um seine
Reichtümer auszubeuten und nach Europa zu schicken. Der Preis für die
Urbevölkerungen Amerikas war hoch, wie das Beispiel der Stadt Potosí am
Fuße des Cerro Rico mit seinen berühmten Silberminen zeigt. Sie lieferten
dem europäischen Kontinent seit dem 16.Jahrhundert und bis zum
19.Jahrhundert den Rohstoff für Münzen.

Die europäischen Migranten, ihr Hab und Gut sowie ihre Rechte wurden bei
uns immer respektiert.
Wirtschaftsfaktor Migration
Heute ist die Europäische Union das Hauptziel der Migranten der Welt. Der
Grund ist der gute Ruf der Europäi­schen Union als Region von Prosperität
und öffentlichen Freiheiten. Die Migranten kommen mehrheitlich in die EU,
um zu dieser Prosperität beizutragen, nicht um sich ihrer zu bedienen. Sie
wirken bei öffentlichen Arbeiten mit, in der Baubranche, im Bereich der
Dienstleistungen und in Krankenhäusern. Sie übernehmen meist Tätigkeiten,
die Europäer nicht ausüben können oder wollen. Sie tragen zur
demographischen Dynamik des europäischen Kontinents bei, zur
Aufrechterhaltung des notwendigen Verhältnisses zwischen aktiven und
passiven Arbeitskräften, das seine großzügigen sozialen Systeme möglich
macht. Sie geben dem Binnenmarkt neue Impulse und stützen den sozialen
Zusammenhalt. Die Migranten bieten eine Lösung für die demographischen und
finanziellen Probleme der EU.

Uns wiederum bieten die Migranten eine Hilfe zur Entwicklung, die uns die
Europäer verweigern – da nur wenige Länder tatsächlich das Minimalziel
von 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungshilfe
aufwenden. Lateinamerika erhielt im Jahr 2006 indes 68 Milliarden US-Dollar
Geldüberweisungen von Migranten. Das ist mehr das Doppelte der
ausländischen Investitionen in unseren Ländern.

Weltweit erreichen diese Überweisungen von Migranten an ihre Familien 300
Milliarden US-Dollar. Dieser Betrag übersteigt die 104 Milliarden US-Dollar
Entwicklungshilfe bei weitem. In meinem eigenen Land, Bolivien, entsprechen
die Überweisungen mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes, rund
1,1 Milliarden US-Dollar und dem Wert eines Drittels unserer jährlichen
Gasexporte.

Die Wirtschaftskraft der Migranten ist trotzdem vor allem für die Europäer
von Vorteil und nur marginal für uns in der Dritten Welt. Wir verlieren
Millionen unserer qualifizierten Arbeitskräfte, in die unsere Staaten,
obwohl sie arm sind, unzählige Ressourcen investiert haben.

Leider verschlimmert die Abschieberichtlinie der EU diese Situation in
erschreckender Weise. Auch wenn wir davon ausgehen, daß jeder Staat oder
jede Staatengruppe die eigene Migrationspolitik in voller Souveränität
definieren kann, können wir nicht akzeptieren, daß unseren Mitbürgern und
lateinamerikanischen Brüdern die Grundrechte verweigert werden. Denn die
EU-Abschieberichtlinie sieht die Möglichkeit der Einkerkerung der Migranten
ohne Papiere bis zu 18 Monate vor. Danach folgt die Ausweisung oder ihre
»Entfernung«, wie der exakte Terminus der Direktive lautet. 18 Monate!
Ohne Urteil und Gerechtigkeit! Der vorliegende Entwurf der Richtlinie
verletzt damit eindeutig die Artikel 2, 3, 5, 6, 7, 8 und 9 der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte von 1948. Darin heißt es unter anderem:
»Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und
seinen Aufenthaltsort frei zu wählen«. Und weiter: »Jeder hat das Recht,
jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land
zurückzukehren.«

Und was das Schlimmste ist: Es wird die Möglichkeit geschaffen, Mütter und
Minderjährige, ohne ihre familiäre oder schulische Situation zu
berücksichtigen, in Internierungszentren einzusperren. Die Folge sind
Depressionen, Hungerstreiks und Selbstmorde. Wie können wir tatenlos
akzeptieren, daß Mitbürger und lateinamerikanische Brüder ohne Papiere in
Lagern eingepfercht werden? Und das, obwohl sie mehrheitlich seit Jahren
dort gearbeitet haben und integriert sind. Auf welcher Seite besteht heute
die Pflicht zu humanitärer Einmischung? Was ist mit der
»Bewegungsfreiheit«, mit dem Schutz gegen willkürliche Haft?
Appell an das Gewissen
Parallel zu dieser Politik versucht die Europäische Union, die
Andengemeinschaft (Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru) davon zu
überzeugen, ein »Assoziierungsabkommen« zu unterzeichnen, das einen
Freihandelsvertrag einschließt, der sich in Charakter und Inhalt nicht von
den Verträgen unterscheidet, die die Vereinigten Staaten unseren Ländern
aufzwingen.

Wir stehen unter intensivem Druck aus der Europäischen Kommission, die
vollständige Liberalisierung im Handel, in den Finanzdienstleistungen, beim
intellektuellen Eigentum und in unseren öffentlichen Diensten zu
akzeptieren. Außerdem bedrängt man uns unter dem Vorwand des
»juristischen Schutzes« wegen der Nationalisierung von Wasser, Gas und
Telekommunikation, die wir am Internationalen Tag der Arbeit vorgenommen
haben. Ich frage: Wo ist die »juristische Sicherheit« für unsere Frauen,
unsere Jugendlichen, Kinder und Werktätigen, die in Europa bessere
Aussichten suchen? Die Freiheit des Handels und der Finanzen soll
gewährleistet werden, während wir unsere Brüder in Gefängnissen ohne
Urteil sehen. Dies zu akzeptieren hieße, die Grundlagen der Freiheit und
der demokratischen Rechte negieren.

Wenn die Abschieberichtlinie verabschiedet werden sollte, stehen wir vor
einem ethischen Dilemma. Die Verhandlungen über Handelsfreiheit mit der EU
könnten nicht vertieft werden. Wir behalten uns auch das Recht vor, für
EU-Bürger die gleichen Visapflichten festzulegen, die den Bolivianern seit
dem 1. April 2007 auferlegt werden. Bisher haben wir nichts unternommen,
weil wir auf günstige Signale aus der EU gehofft haben.

Die Welt, ihre Kontinente, ihre Ozeane und ihre Pole sind von Problemen
belastet: die globale Erwärmung, die Verschmutzung, der langsame aber
sichere Verbrauch der Energieressourcen und die bedrohte Biodiversität.
Hunger und Armut wachsen in allen Ländern und schwächen unsere
Gesellschaften. Die Migranten, ob mit oder ohne Papiere, zu Sündenböcken
für diese globalen Probleme zu machen, ist keine Lösung. (...) Diese
Probleme sind das Ergebnis eines vom Norden aufgezwungenen
Entwicklungsmodells, das den Planeten zerstört und die Gesellschaften der
Menschen fragmentiert.

Im Namen des Volkes von Bolivien, aller meiner Brüder auf dem Kontinent und
in Regionen der Erde wie dem Maghreb und den übrigen Ländern Afrikas
richte ich einen Appell an das Gewissen der führenden europäischen
Politiker und Abgeordneten, der Völker, Bürger und politisch aktiven
Kräfte Europas: Die Abschieberichtlinie darf nicht verabschiedet werden. Es
ist eine Direktive der Schande. Ich appelliere an die EU, in den nächsten
Monaten eine Migrationspolitik zu erarbeiten, die die Menschenrechte
respektiert, die es ermöglicht, diese vorteilhafte Dynamik zwischen den
beiden Kontinenten zu erhalten. Ich appelliere an sie, die gewaltigen
historischen, wirtschaftlichen und ökologischen Schulden zu begleichen, die
die Länder Europas gegenüber einem großen Teil der Dritten Welt haben.
Die offenen Adern Lateinamerikas müssen verheilen. (Anspielung auf das Buch
»Die offenen Adern Lateinamerikas« des Uruguayers Eduardo Galeano)

Die »Integrationspolitik« darf heute nicht auf die gleiche Weise versagen,
wie die »zivilisatorische Mission« in der Zeit der Kolonien gescheitert
ist. Nehmen Sie alle, Regierungsvertreter, Europa-Parlamentarier,
Compañeras und Compañeros, brüderliche Grüße aus Bolivien entgegen.
Unsere Solidarität gilt besonders allen »Illegalen«.

Evo Morales Ayma amtiert seit Januar 2006 und ist der erste indigene
Präsident der Republik Bolivien

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Zwei Jahre Haft auf Bewährung für Tötung eines Menschen
Tja, bei rechtsradikalen Gewalt- und Attentätern hat sich das mit Bewährungsstrafen halt bewährt. Das Landgericht Erfurt wertet die Umstände des Todes von Hartmut Balzke als
minderschweren Fall der Körperverletzung mit Todesfolge. Das Urteil ist Ausdruck von Missachtung sozial Randständiger
*
In der vorigen Woche wurde am Landgericht Erfurt das Urteil im Prozess um den
gewaltsamen Tod von Hartmut Balzke (48) am 25. Januar 2003 in Erfurt in
Folge eines rechtsextremen Angriffs verkündet. Die 2.
Schwurgerichtskammer verurteilte den mittlerweile 28-jährigen Dirk Q. zu
zwei Jahren Haft auf zwei Jahre Bewährung und zu 200 Stunden
gemeinnütziger Arbeit. Damit folgte das Gericht im Wesentlichen dem
Antrag der Staatsanwaltschaft. Hinsichtlich des Todes von Hartmut Balzke
ging die Kammer von einem minderschweren Fall der Körperverletzung mit
Todesfolge aus. Die gezielten Schläge und Tritte gegen den wehrlos am
Boden liegenden überlebenden Nebenkläger Sebastian Q. ahndete die Kammer
als einfache Körperverletzung.

In ihrer Urteilsbegründung führte die Kammer aus, dass Dirk Q. Hartmut
Balzke so schlug, dass er stürzte und sich dadurch die tödliche
Kopfverletzung zuzog. Bei dem Angriff auf den im Prozess als Nebenkläger
auftretenden Sebastian Q. ging sie davon aus, dass Dirk Q. ihn ebenfalls
niederschlug und auf ihn eintrat. Allerdings, so die Kammer, hätten die
Tritte gegen den Kopf des Betroffenen, die zu dem Gesichtstrümmerbruch
führten, auch von anderen, unbekannt gebliebenen Angreifern ausgeführt
worden sein können.

Darüber hinaus bezeichnete die Kammer die Tatsache, dass zwischen der
Tat und der erstinstanzlichen Verhandlung fünfeinhalb Jahre gelegen
haben, als "rechtswidrig". Die Tatsache, dass Q. nach dem Tod von Balzke
nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, veranlasste die
Kammer in ihrer Urteilsbegründung dazu, den Tod von Balzke als einen
"heilsamen Schock" für den Angeklagten zu bezeichnen.

"Das Urteil und das gesamte Strafverfahren sind Ausdruck einer tiefen
Missachtung gegenüber Punks und sozial Randständigen. Offenbar sind sie
in den Augen der Richter Opfer zweiter Klasse." resümiert eine
Sprecherin der Mobilen Opferberatung. Die Nebenkläger werden bis Anfang
nächster Woche über das Einlegen von Rechtsmitteln entscheiden.

Der Ausgangspunkt: Rechte Provokation bei Punk-Party

Am 25. Januar 2003 versuchte Dirk Q. sich gemeinsam mit einem
"Kameraden" Zutritt zu einer Party von Punks im Stadtteil Erfurt-Nord zu
verschaffen. Die Gastgeber der Party verwehrten ihnen aufgrund ihrer
Zugehörigkeiten zur rechtsextremen Szene den Zutritt. Daraufhin
provozierten Q. und sein Begleiter bewusst weiter; die beiden Männer
riefen immer wieder "kommt doch her, kommt doch her" und wollten ganz
offensichtlich eine Schlägerei auf offener Straße auslösen.

Tatsächlich begaben sich dann einige Partygäste aus der Punkszene, die
ohnehin zum Alternativen Jugendzentrum wollten, auf die Straße und
begannen, die beiden Neonazis zu verfolgen. Dabei kam es zu einer
Auseinandersetzung, an deren Ende Dirk Q. eine leichte Stichverletzung
durch ein Messer erlitt. Es ist bis heute ungeklärt, wer Dirk Q. diese
Stichverletzung zufügte.

Gesichert ist hingegen, dass Dirk Q. daraufhin in der Triftstraße
zunächst eine Kneipe namens "Werners Billard Pub" betrat. Die Kneipe
galt nach Aussagen von Bewohnern des Viertels als Treffpunkt für Gäste,
die sich der politischen Rechten zuordnen. Als Dirk Q. die Gaststätte
wieder verließ, befanden sich noch Hartmut Balzke sowie der Nebenkläger
Sebastian Q. in unmittelbarer Nähe der Kneipe. Es ist unklar, wie viele
Personen zusammen mit dem Angeklagten die Kneipe verließen und Hartmut
Balzke sowie Sebastian Q. angriffen.

Schläge und Tritte gegen Wehrlose

Unterschiedliche ZeugInnen haben im Prozess am Landgericht Erfurt
ausgesagt, dass sie beobachtet haben, wie ein großer, breitschultriger
Mann mit heller Jacke und Basecap zunächst Hartmut Balzke gezielt mit
der Faust schlug, so dass dieser zusammensackte und "wie ein nasser
Sack" und mit dem Hinterkopf auf der Straße aufschlug. Hartmut Balzke
erlitt durch den Aufprall eine tödliche Hirnschwellung. Darüber hinaus
haben mehrere Zeugen beschrieben, wie der gleiche Mann den jetzigen
Nebenkläger Sebastian Q. niederschlug und dann mit brutaler Gewalt
mehrfach gegen den Oberkörper und Kopf des bewusstlos am Boden Liegenden
trat. Sebastian Q. erlitt einen Gesichtstrümmerbruch -- er trägt seit
dem Angriff mehrere Implantate im Kopfbereich. Zwei der Zeugen betonten
im Landgericht, dass das Ereignis zwar schon fünf Jahre her sei. Die
Bilder aber, wie dieser Mann -- bei dem es sich nach den Beschreibungen
der Zeugen um den Angeklagten Dirk Q. handelte -- auf sein regungslos am
Boden liegendes Opfer eintrat, könnten sie nicht vergessen.

Dirk Q. wurde am Tatort zunächst nicht festgenommen, sondern in einem
Krankenwagen abtransportiert, aus dem er flüchtete. Erst drei Tage nach
dem Tod von Hartmut Balzke fand eine Hausdurchsuchung bei Dirk Q. statt;
die Jacke war inzwischen entsorgt, das T-Shirt, was er am Tatabend
getragen hatte, gewaschen. Dennoch fanden sich an seinen Schuhen
Blutspuren, die von dem Nebenkläger Sebastian Q. stammten.

Sowohl Hartmut Balzke als auch Sebastian Q. waren nicht in der Lage
gewesen, sich gegen den Angriff zu wehren. Beide waren mit 3,1 und 2,9
Promille so stark alkoholisiert, dass an eine Gegenwehr nicht mehr zu
denken war -- und dass dies für alle Angreifer erkennbar war.


Ein Toter vom Rand der Gesellschaft: Für die Thüringer Justiz eine Bagatelle

Obwohl Dirk Q. schnell unter dringendem Tatverdacht stand, Hartmut
Balzke den tödlichen Schlag versetzt und den Nebenkläger Sebastian Q.
schwerste Kopfverletzungen zugefügt zu haben, wurde er -- trotz
laufender Bewährung -- nicht in Untersuchungshaft verbracht.

Ein absolut unüblicher Vorgang: Denn Dirk Q. war zum Zeitpunkt des
Angriffs unter Bewährung: gerade einmal zwei Monate zuvor war er im
November 2002 u.a. wegen Körperverletzung und dem Zeigen des
Hitlergrußes zu einer Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung
verurteilt worden.

Im November 2003 erhob die Staatsanwaltschaft Erfurt dann Anklage gegen
Dirk Q. wegen Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge. Doch
dann passierte drei Jahre lang gar nichts. Im Dezember 2006 lehnte die
1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Erfurt die Zulassung der
Anklage ab; es habe sich lediglich um eine "Schlägerei mit Todesfolge"
gehandelt, so das Gericht. Gegen den Beschluss legte die
Staatsanwaltschaft Erfurt beim Oberlandesgericht Thüringen erfolgreich
Beschwerde ein. Am 5. März 2007 entschied das OLG Thüringen, Dirk Q. sei
im Sinne der ursprünglichen Vorwürfe vor einer anderen Kammer des
Landgerichts Erfurt anzuklagen. Dann dauerte es noch einmal ein Jahr,
bis zum 10. März 2008, bis der Prozess vor der 2. Schwurgerichtskammer
des Landgerichts Erfurt begann.

"Diese jahrelange Verzögerung ist rechtlich gesehen absolut unerklärlich
ebenso wie die Tatsache, dass der damals unter Bewährung stehende
Beschuldigte nicht in Untersuchungshaft genommen wurde", kritisiert
Nebenklägervertreter Scharmer.

Das Gericht ignoriert rechtsextreme Gefahr

"Im Prozess wurde deutlich, dass der Tod von Hartmut Balzke von der
Thüringer Justiz lediglich als Bagatelle angesehen wird," stellt eine
Sprecherin der Mobilen Opferberatung fest. Zudem legte das Schwurgericht
eine völlige Missachtung für die Situation der Nebenkläger und deren
Umfeld aus der Punkszene an den Tag. So bestand der Vorsitzende Richter
darauf, dass alle Zeugen ihre Anschrift und Wohnort laut zu nennen
hatten. Ein absolut unübliches Vorgehen in Prozessen, bei denen die
Zeugen erkennbar Angst vor rechtsextremen Racheakten haben -- und diese
Angst ist angesichts der Bedrohung von allen in Thüringen, die nicht ins
rechte Weltbild passen, mehr als berechtigt ist. Zuletzt war es im März
2008 zu einem schweren Angriff von einem Dutzend Neonazis auf bekannte
antifaschistische AktivistInnen in Erfurt gekommen. Dabei wurde ein
Betroffener bis zur Bewusstlosigkeit getreten.

Zwei der Zeugen aus der Punkszene wurden im Gerichtssaal verhaftet, weil
sie u.a. Geldstrafen wegen Beleidigungen von Polizeibeamten nicht
bezahlt hatten; einer der Zeugen muss deshalb eine Ersatzfreiheitsstrafe
von einem Jahr absitzen. Demgegenüber hat die Staatsanwaltschaft für den
Angeklagten Dirk Q. für die Tatbestände der Körperverletzung und der
Körperverletzung mit Todesfolge lediglich eine Bewährungsstrafe von zwei
Jahren gefordert. Das Gericht hatte sich zuvor geweigert, auf Antrag
der Nebenklage einen rechtlichen Hinweis zu erteilen, dass es sich bei
den Tritten auf den Kopf des Nebenklägers Sebastian Q. keineswegs um
eine einfache Körperverletzung, sondern nach gängiger Rechtssprechung um
eine gefährliche Körperverletzung gehandelt habe.
Punks und sozial Randständige als Opfer zweiter Klasse

Hartmut Balzke ist einer von mehr als 120 Menschen, der seit 1990 an den
Folgen rechtsextremer oder rassistischer Gewalt in Deutschland gestorben
sind. Der 48-jährige Familienvater aus Forst (Brandenburg) kam aus einem
sozial randständigen Milieu und hatte am 25. Januar 2003 seinen Sohn
Daniel zu einem Ausflug zu Freunden nach Erfurt begleitet. Zwei Jahre
nach dem Tod von Hartmut Balzke nahm sich dessen Ehefrau das Leben: Der
Sohn ist nun Vollwaise.

Für Rückfragen:Mobile Opferberatung unter der
Telefonnummer 01 70 / 2 92 53 61.

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