Sonntag, 28. März 2010
Kulturverfall
Ich hatte gerade so ein Sonntagsnachmittagsgespräch mit meinem Vater, und da fiel mir mal wieder auf, wie konservativ und gestrig dessen ganzer Hintergrund so ist. Da fühlt man sich hinterher gleich 20 Jahre jünger. Interessant war das Gespräch aber wirklich. Anlass war "Wetten dass", das er gestern Abend geguckt hatte. Er berichtete, dass da diese Lena Dingenskirchen, die Deutschland in Oslo vertreten soll und Anna Netrebko hintereinander aufgetreten wären und ihm im Vergleich der beiden Sängerinnen klargeworden wäre, dass Lena niemals den Eurovision Song Contest gewinnen wird. Die würde ja gar nicht singen.


Nun singt für meinen Vater weder Nena noch Grönemeyer, die Definition von "singen" ist ihm die Stimmlage einer Arie, unter den Liedermachern singt für ihn ausschließlich Klaus Hoffmann und vielleicht noch Reinhard Mey, den Gesang der meisten Schlager- und PopsängerInnen bezeichnet er als rhythmisches Sprechen zu Musik. Die gesamte Rock- und Popmusik nach Elvis (den er gut findet) ist für ihn "unkultivierter Lärm", und er macht sich nicht die Mühe, zwischen Disco, Metal, Rap oder Techno zu unterscheiden, die Unterschiede hört er gar nicht, weil er der Meinung ist, dass das alles sein Ohr beleidige. Dass Lena so schlecht neben der Netrebko abschneide bezeichnete er als "Zeichen des Verfalls unserer deutschen Kultur". Ich erwiderte, dass man kein Schlagersternchen mit einer Operndiva vergleichen könnte, er aber antwortete, dass es ja auffallend sei, dass die großen Meister in Deutschland alle in ferner Vergangenheit komponiert hätten. Da kam ich mit dem Argument, dass man nicht aktuelle Schlagermusik mit der Klassik vergleiche könnte, die Analogie zu seinem Lena-Netrebko-Vergleich wäre ein Vergleich zwischen Beethoven und irgendeiner namenlosen Schrammelkapelle oder einem musikalisch ungeschulten Bänkelsänger des 18. Jahrhunderts, und seblst das wäre ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. An dieser Stelle weigerte er sich weiterzudiskutieren. Für ihn ist die Sache klar: Die aktuelle Musik, bestimmte Formen des Jazz oder Neue E-Musik ausgenommen, die heute neu entsteht, taugt nichts und ist Ausdruck eines allgemeinen Kultur- und Werteverfalls, der wiederum Bestandteil der völligen Dekadenz unserer Gesellschaft ist. Dazu gehören dann auch die Hartz4-Gesetze, Sozialabbau allgemein, das Postengeschacher in der FDP, absurd hohe Managergehälter, Korruption, Kürzungen im Gesundheitswesen, Raserei im Straßenverkehr und Unfreundlichlichkeit im öffentlichen Raum - alles Ausdruck desselben Kulturverfalls. Man könnte jetzt fast an Oswald Spengler denken, nur zieht mein Vater daraus keine konservativen Konsequenzen, sondern wählt Die Linke. Er will zurück in eine Gesellschaft, in der Respekt und Solidarität zählen, und das ist für ihn die Bundesrepublik Deutschland der 60er Jahre.

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Sowas würde ich linkssentimentalen Wertkonservatismus nennen. Abgesehen von der totalen Vernageltheit in Musikfragen für einen alten Mann nicht die schlechteste Haltung. Besser als die ganzen Neiddebatten-Entreichert-das-Volk-Yuppies.

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Da die LINKE / SED eine extrem konservative Partei ist, ist die Affinität Deines werten Herrn Papa zu dieser Partei gar nicht mal so überraschend.

Nebenbei: Ich höre gerade Johann Strauß jr., "Die Fledermaus", Aufnahme von 1976 unter Carlos Kleiber. Ist das jetzt noch E-Musik, oder schon Kulturverfall? Immerhin ist das Stück im Wesentlichen zur Unterhaltung eines einigermaßen bourgeoisen kuk-Publikums komponiert worden, dazu noch auf kommerziellen Erfolg getrimmt mit anderswo geklautem Libretto. Andererseits wirklich geniale Musik...

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Ihm würde das sicherlich gefallen. Mir sind diese E-U-Musik-Unterschiede völlig wumpe, ich höre ja auch Zwölftonmusik, Abba und Balkanpunk. Dass die Linke, besonders im Osten, in verschiedener Hinsicht ausgesprochen strukturkonservativ ist mag richtig sein, hier im Westen ist das nicht unbedingt ihr markantester Wesenszug.

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Also für ihn noch kein Kulturverfall, da bin ich ja beruhigt. ;-)

Zwölftonmusik, ABBA und Balkanpunk - wie wär's mit 'nem Medley?

"hier im Westen ist das nicht unbedingt ihr markantester Wesenszug." - Erleuchte mich doch mal, bitte.

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Während im Osten Die Linke zu einem nicht so ganz unerheblichen Teil aus Ostalgikern besteht und aus Leuten, die an das andocken, was früher mal zwischen Eurokommunismus und Reformkommunismus angesiedelt war, organisieren sich die wenigen dogmatisch-autoritären Kommunisten im Westen überwiegend immer noch in der DKP oder der neostalinistischen MLPD. Die Basis der aktiven einfachen Mitglieder in der Partei im Westen bilden hingegen enttäuschte Sozis und Grüne sowie Antifas, Punks, Feministinnen und sonstige Angehörige Neuer Sozialer Bewegungen, die sich ganz pragmatisch der organisatorischen und finanziellen Vorteile der Partei bedienen. Die Zusammensetzung der Linkspartei zumindest in Nordwestdeutschland ähnelt strukturell der der Grünen in ihrer Gründungsphase.

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Ach so, danke für die Erklärung. Inhaltlich ist das allerdings für mich nichts unbedingt Neues, ich würde lediglich die Masse der einfachen Mitglieder der Partei im Westen wie auch von Dir beschrieben ebenfalls unter "konservativ" subsumieren - sicherlich nicht in dem Sinne von CDU oder alte SED, aber auf eine andere Art in jedem Fall. Ich finde auch die Grünen in Ihrer Grundhaltung unglaublich konservativ...

Mittlerweile bin ich übrigens bei Wagners "Rheingold" angekommen - dürfte in Punkto "Kulturverfall" einwandfrei sein. ;-)

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Wen oder was würdest Du denn als progressiv bezeichnen?

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Hinsichtlich der Grünen gebe ich Dir auf heute bezogen Recht, aber das war in der Gründungsphase nochmal anders. Da gab es zwar schon einen wertkonservativen Flügel, aber auch gerade in kultureller Hinsicht eben auch eher avandgardistische Leute und eine schrillbunte Happening-Fraktion. Von der etablierten Öffentlichkeit wurden die Grünen damals durchweg als radikale Bürgerschrecks wahrgenommen, obwohl all die Studienräte, Ingenieure und Ärzte, die sich damals schon bei den Grünen tummelten dazu nicht passten. Ich erinnere an "Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch!".

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Zu den Grünen der frühen 80er Jahre kann ich wenig sagen, ist nicht gerade meine Zeit. Wenn ich mir aber die ganzen grün angehauchten arrivierten Gestalten in meiner Umgebung anschaue, dann glaube ich da eine Art Mischung aus Rousseau'scher Naturromantik, christlich inspirierter Schöpfungsbewahrung und germanischer Mystik zu erkennen, die auf mich persönlich konservativ bis reaktionär, verbunden mit einem deutlichen Elitebewußtsein (man hält sich für aufgeklärter und kultivierter als der gemeine Pöbel gleich welcher anderen Parteizugehörigkeit) ja gerade zu bräunlich wirkt. Vielleicht kenne ich auch die falschen Leute, aber bei denen, die ich kenne, ist das schon sehr deutlich.

Das Fischer-Zitat mag damals noch ganz schrecklich gewagt gewesen sein, heute knallt es aber nicht mehr wirklich (Kulturverfall!) ;-). Ich muß dabei an eine ehemalige Kommilitonin denken, die seinerzeit ein Praktikum bei den Grünen bzw. in deren Umfeld gemacht und dabei Fischer erlebt hat. Laut ihr war er selbst übrigens alles andere als humorvoll oder kritik- bzw. ironiefähig und wäre durch sein eigenes Zitat wohl zur Weißglut entflammt.

Mit dem Wort "progressiv" habe ich meine Schwierigkeiten. Schon "konservativ" finde ich seeehr schwammig, weil nie ganz klar wird, was die bezeichnete Person eigentlich bewahren will - Stichwörter wären zB Normkonservativ / Wertkonservativ, etc. "Progressiv" würde ja nahelegen, daß jemand neue Entwicklungen stets begrüßt oder sie sogar anstrebt, und daß halte ich angesichts des menschlichen Naturells für sehr selten. Jedenfalls wäre mir keine gesellschaftliche Gruppe (wie auch immer definiert) aufgefallen, die sich durch ausdrückliche Fortschrittsbejahung auszeichnete; das Höchstmaß an Progressivität, daß ich wahrnehme, ist eine gewisse Neutralität gegenüber aktuellen Entwicklungen. Insofern gibt es meiner Wahrnehmung nach nur ein Spektrum zwischen "sehr konservativ" und "wenig konservativ" mit jeweils unterschiedlicher Definition des jeweils zu Bewahrenden - und die Linke, um mal zum Ausgangspunkt zurückzukehren, würde ich definitiv unter "sehr konservativ" verbuchen.

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Was Du da schreibst, offenbart aber ja schon die Tragik der ganzen Entwicklung: Die Linke brach mal auf, die Welt zu revolutionieren. Dazu gehört auch und sogar sehr entscheidend die Avantgarde in der Kunst. Noch als ich sehr jung war, erlebte ich die undogmatische, nicht orthodox-kommunistische Linke als fast durchgehend neophil. Das eigene Leben als Experiment, als permanente Baustelle zu verstehen, sich permanent in neuen Lebenssituationen auszuprobieren, das war das Programm, dazu zählten auch all die Subkulturen. Bis tief in die Achtziger hinein war das auch noch entscheidend, ab dann überwog der Kampf gegen das Rollback, das Verteidigen einmal erreichter Standards und Positionen, schließlich nur noch das Verhindern Wollen von Schlimmerem. Was nun die Partei Die Linke angeht ist die in sich sehr gespalten. Dass meine Punk-Freunde von früher und die Stasi-Opas in der gleichen Partei sind ist ja ein sehr weit größerer Unterschied als der zwischen Gabriel und Westerwelle.

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Wenn ich oben "die Linke" schrieb, dann meinte ich damit ausschließlich die "Linke" - vielleicht ist der Zusatz "SED" doch trennschärfer? ;-)

Ich wäre eher vorsichtig, die gesamte deutsche Linke pauschal beurteilen zu wollen, dafür wüßte ich gar nicht, wo sie anfängt und aufhört. Allerdings erlebe ich herausgehobene Vertreter der deutschen Linken tatsächlich stets als eher konservativ - gut möglich, daß die von Dir angeführte Beschreibung richtig ist.

Ob der Unterschied zwischen Deinen Punkfreunden (ich kenne sie nicht, aber ich stelle sie mir mal vor) und den StaSi-Opas wirklich so groß ist, bin ich mir aber nicht sicher. Ich nehme an, daß es einen gewissen Unterschied in "Stilfragen" geben wird, aber daß dieser in praktischen Fragen nur gering sein wird. Letztlich teilt man da doch gewisse Grundüberzeugungen, und das wird zwischen Gabriel und Westerwelle nicht der Fall sein.

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OK, begriffen. Was die gemeinsamen Gundüberzeugungen angeht: Die decken sich sicherlich in der Außenpolitik und im Verhältnis zur NATO - antiimperialistisch und für NATO-Austritt oder doch zumindest gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, auch in der Meinung zu Neonazis und in der Ablehnung des Kapitalismus, letztere umfasst aber schon ein Spektrum, das von Staatssozialismus bis Anarchismus reicht. Und im Verhältnis zu Autoritäten und Hierarchien gibt es bereits keinerlei Gemeinsamkeiten mehr, in kultureller Hinsicht auch nicht.

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Naja, solange der "Kapitalismus" als gemeinsamer Gegner noch existiert, solange werden sich beide Seiten noch einig sein; man muß sich bzgl der Alternativen ja auch nicht festlegen. Dessen Ablehnung, ebenso wie die von Dir genannten Punkte hinsichtlich NATO und Außenpolitik, sind eben die von mir angesprochenen Grundüberzeugungen, die letztlich für den Zusammenhalt sorgen; die von Dir angesprochenen Differenzen sind in etwa das, was ich mit "Stilfragen" meinte.

Per saldo sind wir gar nicht so weit auseinander - faszinierend... ;-)

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Dieser Logik nach sind aber die Einigkeiten zwischen SPD, CDU, CSU, einem Großteil der Grünen und der gesamten FDP auch groß: Für die NATO, den Kapitalismus und eine prowestliche Außenpolitik sind die auch alle. Also eigentlich ein und dieselbe Partei, verglichen mit den Unterschieden innerhalb der Linkspartei. Blieben dann nur noch Neonazis, neu entstandene Splittergruppen wie Piratenpartei, Du kannst Mindesteinkommen wählen usw., MLPD, Freie Wählervereinigungen und Autonome.

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Hmmm - das ist jetzt wohl ein Wahrnehmungsproblem. Wenn man mit "für etwas sein" mal eine dezidierte Unterstützung einer Idee versteht und nicht nur ein Mitlaufen aus Opportunitätsgründen, dann wäre ich deutlich vorsichtiger.

Für die NATO: SPD / CDU / FDP
Für den Kapitalismus: Je nachdem, was man darunter versteht, in meinen Augen nur FDP, Teile der CDU und gewisse Teile der SPD.
Für eine prowestliche Außenpolitik: Siehe oben.

Aus der Perspektive eines überzeugten Linken sind vermutlich die ideologischen Unterschiede in der Linkspartei gigantisch und die Unterschiede zwischen den anderen Parteien gering, für einen überzeugten Liberalen wird dies wohl genau andersherum sein.

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Was die "Stilfragen" angeht: Da sind die Stasi-Opas autoritätshörig in einer Art, die man am Besten als preußisches Offizierstum bezeichnen könnte, die Punks hingegen gegen jede Art von Autorität. Hinsichtlich "Arbeit" lamentieren genug Alt-SED-Ossis darüber, dass sie ja auch immer nur gearbeitet hätten, während die Punks ostentativ mit "Arbeit ist Scheiße" hausieren gehen. Es ist auch ein fulminanter Unterschied, ob Leute auf Broiler und Bratwurst stehen oder moralisch hochempört laut "Iiiiiiih" schreien, sobald jemand, wie sie es nennen, "Aas" isst und es als politischer Akt betrachtet wird, einen Metzgerladen zu entglasen. Und für Leute, die in Springerstiefeln mit signalrotem Schuhband, Tigerleggins oder Schottenkilt, grünem Iro oder mit ultrahartem Haargel frisierten Teufelshörnern einhergehen und auf ihrer Lederjacke kalligrafiert "Ich bin stolz ein Arbeitsloser zu sein" oder "Kill a Nazi" tragen sind Westerwelle und Gabriel nur zwei Schlips-und-Anzug-tragende und mit Hurra-Sprüchen argumentierende Spießer.

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Also, wenn wir da habituell rangehen geht der Bruch zwischen Mainstream (passt ja dann irgendwo zu momorules drüben) und Anderssein quer durch Grüne und Linkspartei, und alle anderen sind dann die Einheitsaltparteien. Ist vielleicht auch gar nicht falsch, eine solche Betrachtungsweise.

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@Zu den Grünen der frühen 80er Jahre kann ich wenig sagen, ist nicht gerade meine Zeit. Wenn ich mir aber die ganzen grün angehauchten arrivierten Gestalten in meiner Umgebung anschaue, dann glaube ich da eine Art Mischung aus Rousseau'scher Naturromantik, christlich inspirierter Schöpfungsbewahrung und germanischer Mystik zu erkennen, die auf mich persönlich konservativ bis reaktionär, verbunden mit einem deutlichen Elitebewußtsein (man hält sich für aufgeklärter und kultivierter als der gemeine Pöbel gleich welcher anderen Parteizugehörigkeit) ja gerade zu bräunlich wirkt. Vielleicht kenne ich auch die falschen Leute, aber bei denen, die ich kenne, ist das schon sehr deutlich.


Das stimmt auch alles. Dagegen schrieb Jutta Ditfurth ja mehrere Bücher. In den frühen 80ern waren da aber intellektuell drahtige Marxisten und Feministinnen und ziemlich viele geflippte Freaks dabei, und die heutige Mehrheitsströmung deutete sich gerade erst an. Ansonsten sticht die "habituelle" Sichtweise.

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betreff lena dingenskirchen
zu einigen erstaunlichen aspekten eines popkulturellen urknalls

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Glänzend beobachtet und analysiert, und doch finde ich die vor allem sehr normal (dies jetzt nicht negativ gemeint im Sinne von Normalisierung). Das hängt aber auch damit zusammen, dass diese ganze Bohlen-Raab-usw.-Scheiße völlig außerhalb meines Wahrnehmungshorizonts ist und ich im real life gerade viel mit selbstbewussten jungen Frauen zu tun habe.

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