Donnerstag, 26. August 2010
Wanderer, kommst Du nach GÖ
Wenn ich in die Haptstadt des Kapuzenshirttragens, also nach Göttingen fahre, ziehe ich mich gezielt um zwei Kategorien schlechter an als ich normalerweise herumlaufe. Das Unbehagen, das ich in einer Runde, in der ich der einzige Hemdträger bin empfinde, weil es fast körperlich spürbar ist, dass dies als Abweichung von einer "antispießigen" Nonkonformistenuniform und ergo in letzter Konsequenz als Verlust der Glaubwürdigkeit als Linker empfunden wird, das habe ich noch lebhaft in Erinnerung. Es ist mir echt mal passiert, dass ein alter Mitstreiter aus wilden Jahren den ich mich freute wiederzutreffen sich nicht auf ein tieferes Gespräch mit mir einlassen wollte, weil er der Meinung war, dass ich nicht mehr politisch dazugehöre. Das machte er an meinem schwarzen Anzug fest. Auf der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes. Oh Mann.
Kindergarten? Wir sind über 40.

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Tja, in PCHausen scheinen die Dinge sich eher verschlimmbessert zu haben. Wobei die Krokodilstränen, die dort über bürgerliche ASTen vergossen werden echtes Luxusgejammer sind verglichen mit völlig überfüllten Unis, in denen bereits darum gekämpft wird, eine FH-mäßige Studiengangdurchhechelei ohne nach rechts und links zu schauen selber noch ohne rein räumliche Hindernisse ("Ich passe nicht mehr in den Hörsaal hinein", "Laborplätze über Jahre vergeben" usw.) überhaupt organisiert zu kriegen. Und die Alt-Szene sich mit einer Gevatternwirtschaft von gegenseitig zugeschanzten Jobs ja ohnehin aus der gesellschaftlichen Nomalität partiell ausgeklinkt hat und daher solche letztlich elitäre Haltung (ist halt eine Elite in Lumpen) leisten kann. Ich meine das nichtmal hämisch, ist ja eigentlich sehr schön, sich so etwas leisten zu können, sind politisch hochintegre Leute, aber diese latente Verachtung für Menschen, die sich das nicht leisten können und im Berufsleben echten Anpassungszwängen ausgesetzt sind ist gar nicht schön. Und hat schon gar nix mit Solidarität zu tun.

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ich würde sogar sagen, dass der asta in seiner jetzigen konstellation da im allgemeinen was taugt und möglicherweise näher an den alltagsproblemen der studis ist als so manche krokodilstränen vergießenden wolkenkuckucksheimbewohnerInnen.

[aus der rubrik: dinge, die ich ohne pseudonym niemals sagen würde;-]

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Witzigerweise stelle ich mir Dich immer mit einem kleinen Zöpfchen und einem Kapuzenpulli vor, wenn ich deine Texte lese. Auch, wenn ich weiß, dass Du andere Klamotten trägst - ich kann gar nicht anders. :)

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Viele Jahre trug ich ein kleines Zöpfchen, und zwar assymetrisch. Mein heutiges Erscheinungbild ist aber durchaus management-kompatibel.

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kapuzenshirts gibts jetzt schon bei neckermann im angebot. ist wohl nichts besonderes mehr, so ähnlich, wie auch keiner mehr das am oberarm haben will, was frau bundespräsidentengattin wulff dort hat.

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Was für ein Tattoo trägt die denn?


Btw., als meine Mutter erstmals mein Tattoo sah war die total geschockt und meinte, so etwas trügen nur Kriminelle und KZ-Häftlinge. Und SS-Leute natürlich.

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googeln hilft: bettina wulff tattoo.
allerdings ist das, was die first lady der republik am oberarm trägt, vom profi gestochen.

wäre auch noch was: k.u. k. hoftätowierer

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Ich bin sooooo Neunziger;-)
Während das politisch gesehen schon eine reaktionäre zeit war, entwickelte sich die westdeutsche Gesellschaft in den Neunziger strukturell immer noch nach links - wenn man jedenfalls die Akzeptanz alternativer Lebensentwürfe und sexueller Orientierungen, die Aufgeschlossenheit für kulturell Neues und z.B. den Umgang mit weichen Drogen unter diese Klammer subsummieren mag, was ich jedenfalls tue. Unter Kohl wurde konservative Politik gemacht, aber die seit den 60ern laufende soziokulturelle Liberalisierung oder meinethalben Lebensstilumwälzung lief weiter und erlangte durch ihr Vordringen auch in provinzkleinbürgerliche Milieus erst ihre letzte Breiten- und Tiefenwirkung. Die Gleichzeitigkeit des gewalttätigen Auftretens von Nazischlägern zeigte allerdings schon, wie brüchig das alles ist. Vor den offenen Pogromen gegen Flüchtlinge in den Neunzigern hatte sich ihre Gewalt ja auch massivstens gegen "deutsche Andere" gerichtet wie Punks, Lesben, Schwule, Skater, Behinderte, Obdachlose. In den insgesamt noch ziemlich offenen, hedonistischen Geist dieser Zeit passen Tattoos und Piercings sehr gut hinein, wenn das Ganze allerdings auch die Kehrseite hat, dass es da immer auch die Komponente gibt, den eigenen Körper als ewige Baustelle fit und attraktiv für den Fleischmarkt zu halten.


Inzwischen ist die Wende zum Bürgerlichen, die soziologische Rechtsentwicklung bei den Lebensstilen und Lebensentwürfen angekommen, es herrscht fortschreitender Normalisierungszwang. Da regt man sich dann auch, ganz im Stil der Ära Adenauer, über ein Tattoo auf. Ich fand das Lebensgefühl der Achtziger und Neunziger entschieden besser als den heutigen Zeitgeist.

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Che, die gesellschaft ist eben einerseits toleranter, andererseits aber auch sozialdarwinistischer geworden.

"Ich fand das Lebensgefühl der Achtziger und Neunziger entschieden besser als den heutigen Zeitgeist."

Prinzipiell würde ich Dir da sofort recht geben. Weil es damals einfach noch mehr Leute wie uns gab und natürlich auch, weil der Lebensstandard höher war. Aber andererseits fand ich grade die frühen neunziger Jahre auch extrem bedrückend. Mir läufts heute noch kalt den Rücken runter, wenn ich daran danke was wir damals alles an fiesen Dingen erlebt haben … (Stichwort Pogrome)

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Stichwort Stichstraße - Weender.


Aber es wurde massiv dagegen gefightet, das war der Punkt. Und dass man durch direkte Aktionen eine Kommune dazu zwingen konnte, von Sachleistungen für Flüchtlinge abzusehen und denen Bargeld zu geben, diese Erfahrung sollte man heute erstmal wieder machen.

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Inzwischen ist die Wende zum Bürgerlichen, die soziologische Rechtsentwicklung bei den Lebensstilen und Lebensentwürfen angekommen, es herrscht fortschreitender Normalisierungszwang.

rechts und links sind hier keine untescheidungsmerkmale. es geht darum, dass nichts mehr zu verteilen ist, oder genauer, dass keine zuwächse mehr da sind und damit die situation des nullsummenspiels erreicht ist.
oder anders: the parts is over.

Da regt man sich dann auch, ganz im Stil der Ära Adenauer, über ein Tattoo auf.

hat speziell bei mir den hintergrund, dass sich die schwarzen als diejenigen kenne, die ausgrenzen. aber ich bin nicht allein, die zusammenarbeit mit der cdu scheitert bei den grünen daran, dass man sich halt noch von früher her kennt.

Ich fand das Lebensgefühl der Achtziger und Neunziger entschieden besser als den heutigen Zeitgeist.

sag ich doch, the party is over.

was das fighten angeht, ich denke das kommt erst. ich erinnere mich noch an die erzählungen meines vaters, hamburg anfang dreissiger: von der einen seite ein zug sa, von der anderen ein zug rote frontkämpfer, hinter die hausecken geduckt die polizei, die wartete, bis alles vobei war und sammelte dann die liegengebliebenen auf.

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@"rechts und links sind hier keine untescheidungsmerkmale" --- Doch, es kommt nur darauf an, wie man das definiert. Unangepasst sein, anders leben wollen als die Altvorderen, Sex and drugs and Rock´n Roll, schwarz, schwul, lesbisch oder sonstwie anders als papa familias und für solche Leute sein, das ist in meinem Realitätsentwurf strukturell bzw. soziokulturell links.

Btw. und zum Anderen läuft da, wo ich hingehöre die explizite und unmittelbar politisch aktive Linke fast schon mehrheitlich gepierct und/oder tätowiert umher. Will sagen: Das Symbol Tattoo erinnert einerseits an die Spaßgesellschaft der 90er und andererseits an Leute, die mal ein anderes leben wollten, und deshalb ist es gleich in zwei Hinsichten unerwünscht.

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hedonismus ist letztlich ´68.

(eigentlich gabs das schon zu adenauers zeiten halli galli, allerdings zu den zeiten beschränkt auf die, die sich das leisten konnten, gerne solche, die von beruf sohn waren. heute ist playboy der titel einer nicht eben prickelnden zeitschrift, so kanns gehen)

wie gesagt, the party is over.

gibt es anzeichen dafür, dass disziplin, genauer, eine disziplinerte elite, im kommen ist?

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Man könnte ja dafür sorgen, dass die Party erst anfängt.Was 68er aus ihrer heißen Zeit erzählen entspricht ziemlich exakt meinen 80ern und 90ern, im Übrigen.

Die Halbstarken der Adenauer-Ära waren Arbeiterkinder, die nicht mehr spurten.

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@hedonismus ist letztlich ´68.- So ein Spitzenscheiss. Ich sags mal mit einem Nachbarblog: Überall ist Wunderland, überall ist Leben.

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inwieweit war das mit den halbstarken konstukt der medien? gibt es untersuchungen, inwieweit die sogenannte jugendkultur das produkt entsprechender marktbearbeitung war bzw. ist, wobei hinzukommt, dass die bravo mit winnetou-starschnitt sich gegenüber mtv und viva geradezu rührend ausnimmt.
nur: es gab damals ziemlich wenig für diese, gerade erst entdeckte zielgruppe

auch wenn ich mich hier nicht soziologisch betätigen soll: jugendkultur kommt aus der kombination von verlängerter adoleszenz und frei verfügbaren geldern.

hierhin passt der halbstarke, einer, der, weil er keine lehre machte (lehrjahre sind keine herrenjahre, hiess es damals. das war nicht gelogen) oder sich gar einer höheren beschulung unterwarf um zugang zum hochschulstudium zu erlangen, als hilfsarbeiter genug verdiente, um an der jugendkultur teilzunehmen.

wie überhaupt im zweifel die medien die realität konstruieren.

wer dann wirklich nicht mehr spurte, waren studenten und später oberschüler (wieder die geschichte mit der verlängerten adoleszenz bei verfügbaren mitteln, wobei beim studenten noch die gesellschaftliche orientierungsphase hinzukommt. beim werkstudent weiss der kollege in vollzeit, dass dessen option ist, als ingenieur wiederzukommen. wie der lebenslauf des dr. h.c. joseph fischer dies jedem polizisten deutlich macht: prügel keinen demonstranten, es könnte der künftige aussenminister sein.

die frage nach der disziplin habe ich deshalb gestellt, weil dies - bis zum wirtschaftswunder die kollektive erfahrung eines grossen teils der bevölkerung war.

bislang klappt die ruhigstellung der nicht erwerbstätigen durch die medien. dass unter dem stichwort bildung ein gewaltiges verdummungs- und verarmiungsprojekt läuft, scheint bisher erfolgreich eskamotiert zu werden. inwieweit auch dies durch nicht gelenkte aber doch gesteuerte medien erfolgt, ist auch noch zu untersuchen. vielleicht ist es auch vierl banaler: die, die es betrifft, interessiert es nicht, die, für die es veranstaltet wird, wissen es bereits.

von daher scheint mir die richtige zeit, wieder an leistung, disziplin, unterschiede zu appellieren. die appelle selber bewirken wenig, aber es könnte doch auch eine avantgarde das für sich entdecken, disziplin, gehorsam von unten nach oben, weil oben die besten sitzen.

und da sind wir auch bei herrn sarazin: so einer ist als nebelkerze immer brauchbar, erregungs- und entrüstungsfaktor gibts obendrein.

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workingclasshero, wenn du meinst.

es steckt tatsächlich ein problem hinter deiner beleidigung, nämlich, ob der hedonismus, die orientierung am genuss, ergebnis der ´68 er war, oder ob das eine parallelbewegung war.

wenn du viva maria! gesehen hast, und es gibt heinweise darauf, dass dieser film die aufassungen der ´68 er haupthähne stark beeinflusst hat, es geht da drum, wie man auch im bürgerkrieg seinen spass haben kann.

das mit dem massenkonsum mittlerer und unterer schichten ist seit der fünfzigern des vorigen jahrhundert. vorher war entbehrung die allgemeine erfahrung. nicht dass die leute damals keinen spass gehabt hätten, aber die gangart war deutlich härter. ein vertreter dieser generation ist peter glotz, der im zweifel eher auf disziplin setzt. überhaupt wäre der wieder zu entdecken.

ich nehme an, die tendenz ist in zukunft, verarmung bis in die mittelschicht. von daher heisst es in zukunft eben, schluss mit lustig. die finanzierung von teueren urlauben durch darlehen wird nicht mehr so angesagt sein.

klar kann man weiter seinen spass haben. nur macht das ende des gesellschaftlichen reichtums manches etwas schwieriger.

wie gesagt, von daher meine frage, ob langsam in der avantgarde die disziplin, die über- unterordnung wiederkommt.

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Also, nach dem, was ich noch aus meinem Geschichtsstudium weiß, ich habe ja schwerpunktmäßig Alltagsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts betrieben, waren die Halbstarken tatsächlich überwiegend Arbeiterjugendliche, deren Gewalttätigkeit zum Beispiel im krassen Kontrast zu den oppositionellen Studierenden ein Jahrzehnt später stand - die mussten noch lernen, eine Rasenfläche zu betreten, die zu betreten verboten war, und haben dann auch Teach-Ins öffentlich diskutiert, was das mit ihrer Psyche gemacht hat, kein Witz! Das militant-werden von denen war dann auch im Gegensatz zur bodenständigen Aggro der Halbstarken das Ergebnis eines so gewollten Selbstveränderungsprozesses bzw. irgendwann eingeschlagenes Programm. Im Hedonismus trafen sich dann beide. Dass nur Studierende nicht mehr spurten ist eine Chimäre. Ob nun der Arbeiter Philipp Müller, der am 11. Mai 1952 in Essen auf einer Demonstration von der Polizei erschossen wurde, das Hamburger Lehrlingskollektiv, aus dem der Kommunistische Bund (KB) hervorgehen sollte, Leute wie Baumann, Baader und Boock (letzterer absolutes Subproletariat), die Lehrlingsbewegung 1968, die Heimkinderaufstände ("Bambule"), die wilden Streiks bei Ford und BMW 1972, die vor allem von MigrationsarbeiterInnen getragen worden, bei der ganzen Geschichte der außerparlamentarischen Opposition und der Jugendrevolten wird der proletarische Anteil systematisch unterschlagen und das Ganze rückwirkend auf eine StudentInnen- und OberstufenschülerInnenrevolte eingedampft.



Noch in den Häuser- Startbahn-und Wackersdorfkämpfen, also dem eigentlichen Höhepunkt linker Massemilitanz in Westdeutschland, der sich nicht 1968, sondern 1981-87 abspielte bestand der größte Teil der wirklichen Haudruffs aus Langzeitarbeitslosen, nicht aus Studierenden.

@Party ist aus: Wenn sich die Lebenschancen systematisch verschlechtern, ist eigentlich Revolte naheliegend, mindestens, das, was mensch sich nicht mehr leisten kann, durch Plünderung zu organisieren. Gab 87-90 und in Berlin und 92 in Bremen ja schon Ansätze in die Richtung. Und wenn es "nichts mehr zu verteilen gibt", wäre die Exproprietierung der Exproprietierer durch die Exproprietierten ja die nächstliegende Lösung, wenn alle anderen Rezepte zur Intransigenz führen.


Btw. Die Rückkehr zu altbackenen Hierarchiemodellen gibt es ja längst, vom konservativ gefeierten Abiball heutzutage, der zu unseren damaligen Pogofeten in diametralem Gegensatz steht bis hin zu Vorgesetzten, die meinen, dass die Wirtschaftskrise auch ihr Gutes hätte, denn wenn die Jugendlichen kein Geld für den Gameboy mehr hätten und die kleinen Angestellten als Pendler 2 Stunden mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren müssten, dann kehre endlich wieder Demut ein (habe ich echt erlebt), aber noch scheint mir das in erster Linie eine entsolidarisierend in der Krise sich behauptende "Wenn-andere-auch krepiern, mir-wird-schon-nichts-passiern"-Haltung, weniger ein Denken in altüberkommenen Hierarchie-Strukturen zu sein. Eher die große Angst in der großen Aporie, aus der eher Pogromstimmungen erwachsen können als etwa eine Refeudalisierung der Gesellschaft - die vielleicht von oben gewollt ist, aber sicher nicht aus den Angst- und nach-unten-treten-Stimmungen unten und in der Mitte. Insofern taugen mir die Sarrazins und Schirrmachers dieser Welt eher als Taktgeber des Mobs denn als Propheten einer Reformulierung überkommener Hierarchien - dies zumindest nicht in Form einer friedlichen Selbst-Re-Hierarchisierung, sondern ihrer brutalen, hysterischen, rassistischen, homophoben und sozialdarwinistischen Form, nicht des Lehrling-Meister-Gehorams.

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und die ("wilden") Septemberstreiks von 1969 sind leider auch aus Gedächtnis verschwunden, wo es durchaus Ansätze zu Sabotage (z.B. die Drohung Hochöfen "ausblasen" zu lassen) gab ... die Lehre die von vielen SDSlerInnen aus den Septemberstreiks gezogen wurde war dann leider die der "Liquidierung der antiautoritären Phase" (nebst Haare abschneiden) und der Gründung von Arbeiterparteien (Karikaturen der Thälmann-KPD), die in ihrer Spiessigkeit gerade auf rebellierende nichtstudentische Jugendliche abschreckend wirkten

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