Donnerstag, 3. März 2022
Gefahr für unnatürlichen Tod: Autisten und ADHS-Patienten haben erhöhtes Sterberisiko ?Daten von fast 650.000 Patienten
Anke Brodmerkel, Medscape

Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein höheres Sterberisiko. Das zeigt eine Analyse von 27 Studien mit insgesamt fast 650.000 Probanden, die in der Fachzeitschrift JAMA Pediatrics veröffentlicht ist.

Wie die Autoren um den spanischen Wissenschaftler Dr. Ferrán Catalá-López vom Institute of Health Carlos III am Department of Health Planning and Economics der National School of Public Health in Madrid berichten, gehen ASS und ADHS beide mit einer höheren Mortalität aufgrund unnatürlicher Ursachen, zum Beispiel Verletzungen oder Vergiftungen, einher. Ein erhöhtes Sterberisiko durch natürliche Ursachen, etwa neurologische Leiden, Atemwegserkrankungen oder Krebs, fand sich hingegen nur bei Menschen mit ASS.

Die Ergebnisse der Metaanalyse kommen nicht ganz überraschend
?Das ist eine wichtige und qualitativ hochwertige Studie?, kommentiert Dr. Sarah Hohmann, leitende Oberärztin und Leiterin der Arbeitsgruppe ?ADHS des Kindes- und Jugendalters? an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, im Gespräch mit Medscape.

?Dennoch kommen die Ergebnisse dieser Metaanalyse nicht ganz überraschend?, sagt Hohmann. So habe es schon mehrfach Hinweise darauf gegeben, dass Menschen mit ADHS beispielsweise häufiger als andere Personen in Verkehrsunfälle verwickelt seien, sagt Hohmann.

Frühere Studien hatten ebenfalls bereits darauf hingedeutet, dass ASS und ADHS ? die sich beide in der Regel bereits in der Kindheit bemerkbar machen, aber bis ins Erwachsenenalter andauern können ? mit einer höheren Mortalität assoziiert sind. Teilweise waren die Ergebnisse dieser Arbeiten jedoch sehr unterschiedlich oder widersprachen sich sogar.

Die mittlere Beobachtungszeit der Studien betrug 16 Jahre
Catalá-López und sein Team nahmen daher 27 Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien jetzt noch einmal genauer unter die Lupe. In diesen Studien waren die Sterblichkeitsraten bei Menschen mit ASS oder ADHS und/oder ihren Verwandten ersten Grades im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung oder zu Personengruppen ohne diese Erkrankungen untersucht worden.

In ihre Analyse flossen Publikationen mit ein, die zwischen 1988 und April 2021 veröffentlicht worden waren. Die Studien enthielten Daten von 642.260 Probanden. Die mittlere Beobachtungszeit betrug 16 Jahre. 12 Studien folgten den Teilnehmern bis zum jungen Erwachsenenalter.

Als primären Endpunkt ihrer Arbeit legten die Forscher um Catalá-López die Gesamtmortalität fest. Sekundärer Endpunkt war die ursachenspezifische Sterberate.

Es zeigte sich, dass die Gesamtmortalität der 154.238 Probanden mit ASS in 12 Studien durchschnittlich um den Faktor 2,37 gegenüber der allgemeinen Bevölkerung erhöht war.

Bei den 396.488 Teilnehmern mit ADHS lag dieser Faktor in 8 Studien im Schnitt bei 2,13.

Das Sterberisiko der an ASS oder ADHS erkrankten Probanden war somit jeweils mehr als doppelt so hoch wie das der Vergleichsgruppen. Für die nahen Verwandten der Erkrankten konnten keine entsprechenden Zahlen ermittelt werden, da hierfür zu wenige Daten vorlagen.

Menschen mit ADHS erleiden besonders oft einen unnatürlichen Tod
Bei Menschen mit ASS waren die Todesfälle aufgrund natürlicher Ursachen um den Faktor 3,8 erhöht. Allerdings lieferten zu dieser Fragestellung nur 4 Studien entsprechende Informationen. Durch unnatürliche Ursachen starben den Daten von 6 Studien zufolge 2,5-mal so viele ASS-Patienten wie Menschen ohne die Erkrankung.

Bei den Probanden mit ADHS waren die Todesfälle durch natürliche Ursachen in 4 Studien nicht signifikant erhöht. Durch unnatürliche Ursachen hingegen seien 10 Studien zufolge 2,8-mal so viele ADHS-Patienten gestorben wie Menschen ohne die Erkrankung ? und damit mehr als erwartet, berichten Catalá-López und sein Team.

?Die natürlichen und unnatürlichen Ursachen weiter aufzuschlüsseln, war leider nicht möglich?, erläutert die Mannheimer Medizinerin Hohmann. ?Dazu waren die für die Analyse herangezogenen Studien zu unterschiedlich.?

Auch die Autoren selbst würden betonen, dass es wichtig sei, möglichst einheitliche Kriterien einzuhalten, wenn man künftig weitere Register- oder Krankenkassendaten auswerten wolle. ?Denn natürlich ist es zum besseren Schutz der Patienten entscheidend zu wissen, woran sie eigentlich genau sterben?, betont Hohmann.

Die genauen Gründe für das erhöhte Sterberisiko sind noch unklar
Kausale Assoziationen aufzudecken, sei allerdings schwierig, da die Zusammenhänge zwischen Mortalität und Entwicklungsstörungen im Kindesalter komplex seien, schreiben die Forscher um Catalá-López.

Viele Patienten mit ASS oder ADHS haben zum Beispiel psychiatrische Komorbiditäten. Auch ihr sozialer Status ist oft niedriger. Dr. Sarah Hohmann
Kinder und Jugendliche mit ASS oder ADHS hätten oft emotionale und soziale Schwierigkeiten. Einige von ihnen seien zudem sehr impulsiv. Verhaltensweisen wie Impulsivität und/oder Unaufmerksamkeit könnten zu Verletzungen und unbeabsichtigte Vorfällen bei Kindern mit ASS oder ADHS beitragen.

Hohmann kann das bestätigen. ?Viele Patienten mit ASS oder ADHS haben zum Beispiel psychiatrische Komorbiditäten?, sagt die Medizinerin. ?Auch ihr sozialer Status ist oft niedriger.? Beides beeinflusse natürlich die Lebenserwartung dieser Menschen. Die jetzt veröffentlichte Arbeit biete aber einen guten Anlass, die kausalen Zusammenhänge künftig noch genauer zu ermitteln.

Die Studie liefert gute Argumente für frühzeitige Interventionen
Mit der Studie wolle man dazu beitragen, gezielt Strategien zu entwickeln, um vermeidbare Todesfälle in Hochrisikogruppen von Kindern und Jugendlichen zu verhindern, schreiben die Wissenschaftler um Catalá-López. Zum Beispiel könnten Ärzte und Angehörige der Gesundheitsberufe ermutigt werden, routinemäßig Informationen über Verhaltens-, Krankheits- und Gesundheitsergebnisse im Zusammenhang mit ASS und ADHS zu sammeln.

Zunächst kann die Studie jetzt das Bewusstsein dafür erhöhen, dass ? Menschen mit ASS oder ADHS ? mehr als andere gefährdet sind, vorzeitig zu sterben. Dr. Sarah Hohmann
?Zunächst kann die Studie jetzt das Bewusstsein dafür erhöhen, dass es sich bei Menschen mit ASS oder ADHS um vulnerable Personen handelt, die mehr als andere gefährdet sind, vorzeitig zu sterben?, sagt Hohmann. ?Gezielte Präventionsmaßnahmen lassen sich daraus aber noch nicht ableiten.? Womöglich rege die Publikation jedoch andere Wissenschaftler dazu an, solche Maßnahmen weiter zu erforschen.

Für die behandelnden Ärzte sei es wichtig, nach spezifischen Risikofaktoren ihrer Patienten Ausschau zu halten, zum Beispiel nach psychiatrischen Komorbiditäten wie Depressionen und Suchterkrankungen oder nach schwierigen Umständen im direkten Umfeld der Betroffenen, sagt Hohmann.

Die Botschaft zum Mitnehmen ist nicht subtil oder nuanciert, sondern klar, direkt und ernüchternd. Prof. Dr. Russell Barkley und Dr. Geraldine Dawson
Zudem könnten die Ärzte ihren Patienten und deren Angehörigen mit Blick auf das erhöhte Sterberisiko künftig vielleicht besser erklären, warum frühe therapeutische Interventionen und flankierende Maßnahmen sinnvoll seien.

Systematische Screening- und Präventivansätze sind erforderlich
Zustimmung erhält Hohmann auch von US-Kollegen: ?Die Botschaft zum Mitnehmen ist nicht subtil oder nuanciert, sondern klar, direkt und ernüchternd?, schreibt der Psychologe und Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Russell Barkley von der Virginia Commonwealth University School of Medicine in Richmond zusammen mit seiner Kollegin Dr. Geraldine Dawson in einem Kommentar, der ebenfalls in JAMA Pediatrics veröffentlicht ist [2].

Personen mit ASS oder ADHS sterben häufig an vermeidbaren natürlichen Ursachen ? und unnatürlichen Ursachen. Prof. Dr. Russell Barkley
?Personen mit ASS oder ADHS sterben häufig an vermeidbaren natürlichen Ursachen wie kardialen Ereignissen und unnatürlichen Ursachen, zum Beispiel durch unbeabsichtigte Verletzungen oder Suizid?, so Barkley, der auch mehrere Bücher zum Thema ADHS geschrieben hat. Dieses Wissen erfordere nun eine breite Anerkennung und die Umsetzung systematischer Screening- und Präventivansätze.

https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4910919?uac=389796AZ&faf=1&sso=true&impID=4060871&src=WNL_mdplsfeat_220303_mscpedit_de#vp_3

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