Sonntag, 15. Januar 2006
Der Einzug des fremdländischen Essens
Vor einiger Zeit speiste ich bei meinen Eltern, wobei wir zwar gemeinsam aßen, aber nicht etwa das Gleiche. Man Vater aß Braunkohl mit Bregenwurst, meine Mutter eine Hühnersuppe und ich Spaghetti Putanesca. Jeder hatte sich seine eigene Mahlzeit nach Gusto gekocht, und wieder einmal kritisierte mich mein Vater dafür, dass ich etwas Exotisches esse und damit meine Mißachtung der eigenen Kultur zum Ausdruck bringen würde. "Hauptsache, es ist nicht deutsch!" versetzte er. Diese Auseinandersetzung haben wir regelmäßig. Zwar geht auch er gerne zum Italiener und freut sich bei Auslandsurlaub auf die dortige Küche, aber Speisen, die nicht gutbürgerlich deutsch sind, einfach so selber zuzubereiten, das ist für ihn strange und ein Affront gegen die deutsche Kultur. Für meine Mutter gilt ohnehin das Prinzip "Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht", was mitunter ganz witzige Formen annimmt. So weigerte sie sich einmal, von mir zubereitete Spaghetti mit Parmesan zu essen. Die einzig richtigen Spaghetti sind für sie die, die sie selber kocht, und das sind Spaghetti mit Tomatensauce und Krümeln aus zermahlenem und anschließend in der Bratpfanne geröstetem Zwieback. Das hat sie so bei italienischen Fremdarbeiterinnen im "Pflichtjahr" (der weiblichen Variante des Reichsarbeitsdienstes) gelernt, die die Zwiebackskrümel natürlich als Parmesanersatz verwendeten. Egal, für meine Mutter sind Spaghetti mit Zwiebackskrümeln (die übrigens gar nicht schlecht schmecken) die einzig richtigen und Spaghetti mit Parmesan komischer neumodischer Kram.
Irgendwie kann ich verstehen, dass für die 68er ausländisch essen noch ein emanzipativer politischer Akt war. Unser heutiger multikultureller Speiseplan ist eben auch Ergebnis einer Lebensstil-Revolte, das wird mir bei diesen lieben alten Leuten, die vom Lebensgefühl her in der ersten Hälfte der 60er Jahre stehengeblieben sind, immer wieder klar.

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Update: Als ich mein Essen kürzlich mit einem Anchovis-Garum verfeinerte, war das für die alten Leute Biohazard und ein Fall für die Genfer Konventiion :-)

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Erstaunlich die Kenntnisse über die 68er. Wie ich mich erinnere, dazugehörig natürlich, aßen wir nach jeder Sitzung beim Chinesen oder Italiener. Ich glaube, es kommt auf die soziologische Zugehörigkeit ebenfalls an. Allerdings stimmt es, daß es wenige nicht-deutsche Lokale gab (darunter Wiener Hühnerhugo mit Bergen von Brötchen) und den Griechen, bei dem wir immer in der Küche gucken durften. Nachts, nach Flugblatt-Kleben haben wir regelmäßig im jugoslawischen Altstadt-Grill eine serbische Bohnensuppe (superscharf) gegessen.
Soviel zu 68 von einer, die dabei war. Herzlichst! A.Reine

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Liebe A.Reine,
ich habe 68 aus der Perspektive eines Provinz-großstädtischen Kleinkinds mitbekommen, für dessen politaktivistische große Schwestern ausländisch kochen tatsächlich einen Akt der Befreiung darstellte. Und China-Restaurants tauchten in meiner Lebenswirklichkeit erst Mitte der 70er auf, zum ersten Mal beim Türken war ich 1984.

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